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Kurs Nr. 619 Franz Viktor Werfel - Novellist, Dramatiker und Poet


»Der blutige Sultan Abdul Hamid hat einen Ferman wider die Christen erlassen. Die Hunde des Propheten, Türken, Kurden, Tscherkessen, sammeln sich um die grüne Fahne, um zu sengen, zu plündern und das Armeniervolk zu massakrieren. Die Feinde aber haben nicht mit Gabriel Bagradian gerechnet. Er vereinigt die Seinen. Er führt sie ins Gebirge. Mit unbeschreiblichem Heldenmut wehrt er die Übermacht ab und schlägt sie zurück« 

"Es war wirklich wie ein Wunder, als ob die Gottheit des Wassers, in geheimnisvoller Vorzeit durch den Wüstensohn, den Moslem, gekränkt, sich von dessen nackten, bittflehenden Höhen zurückziehe, um den christlichen Berg üppig zu begnaden. Die blumendurchwirkten Matten seiner Obsthänge, die satten Almen auf seinem faltenreichen Rücken, die schmiegsamen Wein-, Aprikosen- und Orangengärten an seinem Fuß, die Eichen und Platanen in den dunkeldurchmurmelten Schluchten, die Freudenausbrüche von Rhododendron, Myrtenblüten und Azaleen an heimlichen Stellen, die schutzengelhafte Stille, in die sich Herden und Halterbuben verdämmernd schmiegten, dies alles schien nur leicht gestreift zu sein von den Folgen des Sündenfalles, unter deren karstiger Trauer das übrige Kleinasien seufzt" - Franz Viktor Werfel

Giovanni Battista Tiepolo, The Prophet Isaiah

 

 
 
 
 
 

 

Aus dem Inhalt:

Franz Viktor Werfel wurde am 10. September 1890 in Prag geboren und starb am 26. August 1945 in Beverly Hills, Kalifornien. Er war ein böhmischer Schriftsteller, Dichter, Dramatiker und Übersetzer. Nach Kaufmannslehre und Arbeit als Verlagslektor in Deutschland lebte er von 1918 bis 1938 in Österreich, emigrierte 1938 nach Frankreich und 1940 in die USA. Zu seinen wichtigsten Werken zählen "Das Lied von Bernadette" und "Die vierzig Tage des Musa Dagh." Sein Werk "Die vierzig Tage des Musa Dagh" gilt als wichtiges Dokument zum Genozid an den Armeniern und zeigt, wie die Türken mit Christen in ihrem Land umgingen. Das Thema ist immer noch aktuell, da die Türkei aus der Geschichte noch nicht gelernt hat und immer weiter Christen aus dem Land herausdrängt und weiter Angriffskriege führt. [1]

Franz Werfel schreibt zur Situation der Türken im ersten Weltkrieg: "Gabriel Bagradian ist ottomanischer Offizier in der Reserve eines Artillerieregimentes. Die türkischen Armeen stehen an vier Fronten im Kampf auf Leben und Tod. Im Kaukasus gegen die Russen. In der mesopotamischen Wüste gegen Engländer und Inder. Australische Divisionen sind auf der Halbinsel Gallipoli gelandet, um gemeinsam mit den verbündeten Flotten das Tor zum Bosporus einzurennen. Die vierte Armee in Syrien und Palästina bereitet einen neuen Stoß gegen den Suezkanal vor. Übermenschliche Anstrengung ist nötig, um an all diesen Fronten standzuhalten. Enver Pascha, der vergötterte Feldherr, hat bei seinem tollkühnen Feldzug im kaukasischen Winter zwei volle Armeekorps eingebüßt. Überall fehlt es an Offizieren. Das Kriegsmaterial ist unzulänglich. Für Bagradian sind die hoffnungsvollen Tage von 1908 und 1912 vorüber. Ittihad, das jungtürkische »Komitee für Einheit und Fortschritt«, hat sich des armenischen Volkes für seine Zwecke nur bedient, um sogleich all seine Schwüre zu brechen. Gabriel hat durchaus keinen Grund, sich zum Erweise seiner vaterländischen Tapferkeit besonders vorzudrängen. Die Dinge liegen diesmal ganz anders. Seine Frau ist Französin. Er könnte demnach gezwungen sein, gegen eine Nation im Felde zu stehen, die er liebt, der er zu höchstem Dank verpflichtet, der er durch die Ehe verbunden ist. Dennoch hat er sich in Aleppo bei dem Ersatzbezirk seines Regimentes gestellt. Es war seine Pflicht. Ansonsten hätte man ihn als Deserteur behandeln können. Merkwürdigerweise scheint aber der Oberst des Kaders keinen Bedarf an Offizieren zu haben. Er studiert Bagradians Papiere mit durchdringender Genauigkeit, dann schickt er ihn fort. Er möge seinen Wohnort angeben, sich dort bereit halten und die Einberufung abwarten. Das geschah im November. Jetzt geht der März zu Ende, und der Einrückungsbefehl ist noch immer nicht von Antiochia eingetroffen. Steckt dahinter eine undurchdringliche Absicht oder nur das undurchdringliche Betriebs-Chaos ottomanischer Militärkanzleien? In diesem Augenblick aber ist es Gabriel, als wisse er genau, dass noch heutigentags die Entscheidung herablangen werde. Am Sonntag kommt die Post aus Antiochia, nicht nur Briefe und Zeitungen, sondern auch die Regierungsbefehle des Kaimakamliks an Gemeinden und Untertanen. Gabriel Bagradian denkt nur an seine Familie. Die Lage ist verzwickt. Was soll während seines Felddienstes mit Juliette und Stephan geschehen? Mancherlei spricht für das Verbleiben in Yoghonoluk. Juliette ist von Haus, Park, Wirtschaft, Obst- und Rosenzucht entzückt. In der Rolle einer Gutsherrin scheint sie sich sehr wohl zu fühlen. Verlässliche und schätzenswerte Menschen gibt es auch hier genug. Den alten Arzt Doktor Altouni und den wunderlich gelehrsamen Apotheker Krikor kennt Gabriel noch aus seiner Kindheit. Dazu kommt der Wartabed Ter Haigasun, Hauptpriester von Yoghonoluk und gregorianischer Vikar des ganzen Sprengels von Suedja. Ferner der protestantische Pastor Harutiun Nokhudian von Bitias, die Lehrer und etliche Notabeln mehr. Mit den Frauen muss man freilich ein wenig Nachsicht haben. Nach dem ersten Empfang dieser Honoratioren in der Villa Bagradian hatte Gabriel zu Juliette gemeint, dass man in einem Marktflecken der Provence bei solcher Gelegenheit auch keine besseren Leute finde als hier an der syrischen Küste. Juliette nahm diese Feststellung hin, ohne wie gewöhnlich ihren Spott gegen alles Armenische und Orientalische aufzubieten, mit dem sie ihren Gatten oft zu quälen weiß. Seither wiederholten sich diese Empfangsabende mehrfach. Auch an dem heutigen Märzsonntag findet ein solcher statt. Gabriel ist über Juliettes Milde glücklich. All diese Gunst jedoch ändert nichts an der Tatsache, dass Frau und Sohn hier, wenn sie allein zurückbleiben, von der Welt abgeschnitten sind." [2]

Die heutige Türkei hat sich zu ihren Greueltaten an den Christen noch immer nicht bekannt, sie hat aus der Geschichte nicht gelernt und auch der heutige Präsident nimmt nicht nur Sultan Abdul Hamid als Vorbild: "Der blutige Sultan Abdul Hamid hat einen Ferman wider die Christen erlassen. Die Hunde des Propheten, Türken, Kurden, Tscherkessen, sammeln sich um die grüne Fahne, um zu sengen, zu plündern und das Armeniervolk zu massakrieren. Die Feinde aber haben nicht mit Gabriel Bagradian gerechnet. Er vereinigt die Seinen. Er führt sie ins Gebirge. Mit unbeschreiblichem Heldenmut wehrt er die Übermacht ab und schlägt sie zurück." [3]

Weiter führt er aus: "Mittwegs vor Yoghonoluk kommt der alte Gendarm Ali Nassif an ihnen vorüber. Der würdige Saptieh gehört zu jenen zehn Türken, die unter den Armeniern der Dörfer schon seit langen Jahren leben, und zwar in Frieden und Freundschaft. Außer ihm waren noch die fünf Untergendarmen zu nennen, die seinen Posten bilden, jedoch öfters ausgewechselt werden, während er an Ort und Stelle bleibt, unverrückbar wie der Musa Dagh. Sonst gibt es nur noch als Vertreter des Sultans einen verwachsenen Briefträger samt Familie, der am Mittwoch und am Sonntag die Post aus Antiochia bringt. Ali Nassif macht heute einen aufgestörten und besorgten Eindruck. Dieser struppige Funktionär der ottomanischen Obrigkeit scheint sich in großer amtlicher Eile zu befinden. Sein mit Pockennarben bedecktes Gesicht glänzt feucht unter der räudigen Pudelmütze. Der martialische Kavalleriesäbel schlägt ihm gegen die ausgedörrten O-Beine. Während er sonst angesichts Bagradian Effendis immer ehrfürchtig Front macht, salutiert er heute nur stramm, legt aber dabei ein betretenes Wesen an den Tag. Sein verwandeltes Benehmen ist für Gabriel so auffallend, dass er ihm eine ganze Weile lang nachblickt. Über den Kirchplatz von Yoghonoluk laufen nur mehr einige Nachzügler, die von weit her kommen und sich deshalb verspätet haben. Frauen mit buntgestickten Kopftüchern und gebauschten Röcken. Männer, die den Schalwar, die Pumphose, und darüber den Entari, einen kaftanartigen Rock, tragen. Ihre Gesichter sind ernst und in sich gekehrt. Die Sonne hat schon sommerliche Kraft und macht das Rund der kalkweißen Häuser grell erstrahlen. Die meisten sind einstöckig und haben frischen Anstrich bekommen: das Pfarrhaus Ter Haigasuns, das Haus des Arztes, das Haus des Apothekers, das große Gemeindehaus, das dem steinreichen Muchtar, dem Ortsvorsteher von Yoghonoluk Thomas Kebussjan gehört. Die Kirche »Zu den wachsenden Engelmächten« ruht auf einem breiten Sockel. Eine Freitreppe führt zum Portal. Awetis Bagradian, der Stifter, hat sie im kleineren Maße einem berühmten nationalen Heiligtum nachbilden lassen, das sich im Kaukasus befindet. Aus dem offenen Tore strömt der Gesang des Chores, der die Messe begleitet. Man sieht über die dichte Menge hinweg den kerzenbleichen Altar im Dunkel. Das goldene Rückenkreuz auf dem roten Ornat Ter Haigasuns leuchtet. Ein buntgescheckter Türhüter geleitete ihn endlich mit herablassender Miene in ein kleineres Zimmer, das sich durch unverletzte Fensterscheiben, Tapeten, einen aktenbeladenen Schreibtisch und einige Sauberkeit von den übrigen Räumen unterschied. An der Wand hing nicht das Bild des Sultans, sondern eine große Photographie Enver Paschas zu Pferde. Gabriel sah sich einem jüngeren Mann mit rötlichem Haar, Sommersprossen und kleinem englischem Schnurrbart gegenüber. Es war nicht der Kaimakam, sondern der Müdir, der die Geschäfte des Küstenbezirkes, der Nahijeh von Suedja verwaltete. Das Auffälligste an dem Müdir waren seine überaus langen, sorgfältig manikürten Fingernägel. Er trug einen grauen Anzug, der selbst für seine kleine, dürre Gestalt etwas zu eng schien, dazu eine rote Krawatte und kanariengelbe Schnürstiefel. Bagradian wusste sofort: Salonik! Er hatte dafür keinen anderen Anhaltspunkt als das Äußere dieses jungen Mannes. Salonik war die Geburtsstätte der jungtürkischen Nationalbewegung, des erbitterten Westlertums, der fassungslosen Verehrung für alle Formen des europäischen Fortschritts. Ohne Zweifel gehörte der Müdir zu den Anhängern, vielleicht sogar zu den Mitgliedern Ittihads, jenes geheimnisvollen »Comité pour union et progrès«, das heute unbeschränkt das Reich des Kalifen beherrschte. Er zeigte seinem Besuch außerordentliche Höflichkeit und rückte selbst einen Stuhl zum Schreibtisch. Mit den entzündeten wimperarmen Augen aller Rothaarigen sah er an Bagradian meist vorbei. Dieser nannte mit einem gewissen Nachdruck noch einmal seinen Namen. Der Müdir neigte leicht den Kopf." [4]

Wie sahen türkische Ämter früher aus, die auch für die Christenverfolgung tätig waren? Dazu Werfel: "Ein türkisches Amtslokal, wie es Gabriel genau kannte. An der feuchten Wand, von der die Tünche bröckelte, ein unbeholfener Öldruck des Sultans und ein paar gerahmte Koransprüche. Fast alle Fensterscheiben zerbrochen und mit Spannleiste verklebt. Die schmutzstarrende Holzdiele vollgespuckt und mit Zigarettenresten übersät. An einem leeren Schreibtisch saß irgendein Unterbeamter, der schmatzend vor sich hin stierte. Eine Legion dicker Fleischfliegen gab ungehindert ein wildes und ekelhaftes Konzert. Rings um die Wände liefen niedrige Bänke. Ein paar Leute warteten. Türkische und arabische Bauern. Einer von ihnen hatte sich, ungeachtet der Widerlichkeit, auf den Fußboden gehockt, sein langes Gewand um sich verbreitend, als könne er von dem Unflat nicht genug erfassen. Ein säuerlicher Juchtengeruch von Schweiß, kaltem Tabak, Trägheit und Elend erfüllte den Raum." [5]

Die Pässe der Christen wurden vor der Deportation eingezogen: »Ach ja! Gewiß! Die Inlandpässe! Es handelt sich hierbei nicht um eine selbständige Verfügung der Kasah, sondern um einen Erlass Seiner Exzellenz des Herrn Ministers des Innern.« Auch die weiteren Hinweise des Müdirs waren danach angetan, die misstrauische Unruhe des Armeniers zu beschwichtigen. Der Minister habe zwar die Pässe eingezogen, das bedeutet aber nicht, dass in berücksichtigungswerten Fällen neue Dokumente nicht ausgestellt werden könnten. "Gabriel berichtete knapp über die Sachlage. Noch gestern vielleicht hätte er den Beamten gebeten, Nachforschungen darüber anzustellen, warum seine Einberufung nicht erfolge. Seit einigen Stunden aber war alles grundlegend verändert. Der Gedanke an den Krieg, an Juliette und Stephan bedrückte ihn tief. Sein Pflichtgefühl als türkischer Offizier schmolz zusammen. Jetzt hoffte er, dass man ihn beim Kader in Aleppo vergessen habe. Er dachte nicht daran, sich bemerkbar zu machen. Es fiel ihm aber auf, wie wohlunterrichtet die Behörde in Antiochia über alles war, was ihn betraf. Die entzündeten Augen des Müdirs sandten ihm einen befriedigten Blick zu: »Nun also, Sie sind Militärperson, im Stande der Beurlaubung gewissermaßen. Ein Teskeré kommt somit für Sie gar nicht in Betracht.« »Aber meine Frau und mein Sohn ...« Bei diesen für den Müdir unklaren Worten hatte Gabriel zum erstenmal das würgende Gefühl: Wir sind in einer Falle. Im selben Augenblick öffnete sich die Doppeltür in das Nebenzimmer. Zwei Herren traten ein. Der eine, ein älterer Offizier, der andere zweifellos der Kaimakam. Der Provinz-Statthalter war ein großer, aufgeblähter Mann in einem grauen, knittrigen Gehrock. Schwere, schwarzbraune Augensäcke hingen in dem fahlen und schlaffen Gesicht eines Leberkranken. Bagradian und der Müdir erhoben sich. Der Kaimakam schenkte dem Armenier nicht die geringste Beachtung. Mit leiser Stimme gab er seinem Untergebenen irgendeinen Auftrag, hob die Hand nachlässig an den Fez und verließ, von dem Major gefolgt, die Kanzlei, denn sein Tagewerk schien beendet zu sein. Gabriel starrte auf die Ausgangstür: »Wird ein Unterschied zwischen Offizier und Offizier gemacht?« Der Müdir begann seinen Schreibtisch in Ordnung zu bringen. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Effendi?« »Ich meine, gibt es zweierlei Behandlung für Türken und Armenier?« Der Müdir schien durch diese Frage auf das äußerste entsetzt zu sein: »Vor dem Gesetz ist jeder ottomanische Staatsbürger gleich.« Dies sei, so fuhr er fort, die wichtigste Errungenschaft der Revolution von 1908. dass sich einige Gewohnheiten der Vorzeit erhalten hätten, darunter etwa die Bevorzugung des osmanischen Staatsvolkes im öffentlichen und militärischen Dienst, das gehöre zu jenen Erscheinungen, die man von Amts wegen nicht abschaffen könne. Völker verändern sich nicht so schnell wie Verfassungen, und Reformen werden auf dem Papier schneller durchgeführt als in Wirklichkeit. Und er schloß seine staatspolitischen Ausführungen: »Der Krieg wird in allen Belangen Wandel schaffen.« [6]

Gabriel Bagradian hatte zwei Dinge beschlossen: "Erstens, im Falle seiner Einberufung kein Opfer zu scheuen, um sich vom Militärdienst loszukaufen. Und zweitens, in der friedlichen Stille des Hauses von Yoghonoluk das Ende des Krieges abzuwarten, unbemerkt und ungestört. Da man doch schon im Frühjahr 1915 stand, konnte es sich ja nur mehr um ein paar Monate bis zum allgemeinen Waffenstillstand handeln. Er rechnete mit September oder Oktober. Einen neuen Winterfeldzug würde keine der Parteien mehr wagen. Bis dahin musste man sich einrichten, so gut es ging, um dann so schnell wie möglich nach Paris heimzukehren. [7]

Der Müdir aus dem türkischen Amtslokal deutete schon indirekt auf die Deportationen der Christen hin:ohne jeden Grund aber mit gehässig verzerrtem Gesicht  sagte er: »Hoffentlich zwingen keine Vorkommnisse die Regierung dazu, gewissen Bevölkerungsteilen ihre unnachsichtige Strenge zu zeigen.« [8]

Die Regierung, die bei den christlichen Völkern jedes Taschenmesser misstrauisch betrachtete, duldete bei den Mohammedanern sogar Infanteriegewehre: "Der Bazar riss ihn mit. Jener dichte Strom, der keine Hast, kein Zu- und Abnehmen kennt wie der Verkehr in europäischen Städten, sondern sich im unwiderstehlichen Gleichtakt dahinwälzt, so wie die Zeit in die Ewigkeit. Man hätte sich nicht in die gottverlassene Provinzstadt Antakje, sondern nach Aleppo oder Damaskus versetzt glauben können, so unerschöpflich fluteten die beiden Gegensätze des Bazars aneinander vorbei. Türken in europäischer Kleidung, mit Spazierstöcken und steifen Kragen, den Fez auf dem Kopf, Kaufleute und Beamte. Armenier, Griechen, Syrer, auch sie an der abendländischen Gewandung kenntlich, jedoch mit unterschiedlicher Kopfbedeckung. Dazwischen immer wieder Kurden und Tscherkessen in ihren Trachten. Die meisten von ihnen trugen Waffen zur Schau. Denn die Regierung, die bei den christlichen Völkern jedes Taschenmesser misstrauisch betrachtete, duldete bei den unruhigen Bergstämmen moderne Infanteriegewehre, ja beschenkte sie sogar mit solchen. Arabische Bauern aus der Umgebung. Auch einige Beduinen aus dem Süden, im langen faltenreichen Mantel, wüstenfarben, mit prächtigem Tarbusch, von dem die seidenen Quasten über die Schultern hingen. Frauen im Tscharschaff, dem züchtigen Gewand der Moslemin. Dann aber auch Unverschleierte, Emanzipierte, mit fußfreien Röcken und Seidenstrümpfen." [9]

Und Gabriel erkannte die Gerüche seiner Kindheit. Den Geruch des siedenden Sesamöls, das aus den Löchern der Auskochereien über die Gasse peitscht. Den Geruch der knoblauchreichen Frikadellen von Lammfleisch, die auf Pfannen über offenen Feuern brutzeln. Den Geruch von faulendem Gemüse. Und den alles überlärmenden Geruch von Menschen, die nachts in denselben Kleidern schlafen, die sie tagsüber tragen. Auch die leidenschaftlichen Gesänge der Straßenverkäufer erkannte er: »Jâ rezzah, jâ kerim, jâ fettah, jâ alim«, so schwärmte noch immer der Junge, der das ringförmige Weißbrot aus seinem Korbe feilbot: »O Allernährer, o Allgütiger, o Allerschließer, o Allwissender!« Noch immer pries der uralte Ruf die frischen Datteln an: »O Braune du, Braune der Wüste, o Mädchen!« Auch der Salathändler blieb bei seiner kehligen Feststellung: »Ed daim Allah, Allah ed daim!« dass das Dauernde allein Gott, dass Gott allein das Dauernde sei, dies mochte den Käufer im Hinblick auf die Ware trösten. Gabriel kaufte einen Berazik, ein mit Traubensirup bestrichenes Brötchen. Auch an diese »Schwalbenspeise« besaß er eine Kindheitserinnerung. Beim ersten Bissen aber erfasste ihn ein Ekel und er schenkte das Backwerk einem Jungen, der ihm begeistert auf den Mund sah. Er schloss für ein paar Sekunden die Augen, so elend war ihm zumute. Was hatte sich denn ereignet und die Welt ganz und gar verwandelt? Hier in diesem Lande war er geboren. Hier müsste er auch zu Hause sein. Aber wie? Der unaufhaltsam gleichmäßige Menschenstrom des Bazars machte ihm die Heimat streitig. Er spürte es, obgleich die in sich versunkenen Gesichter ihn gar nicht anblickten. Und der junge Müdir? Er hatte sich höchst korrekt und höflich benommen. »Die hochansehnliche Familie Bagradian.« Doch Gabriel glaubte jetzt mit einem Schlag zu erkennen, dass diese ganze Höflichkeit samt ihrer hochansehnlichen Familie eine einzige Impertinenz war. Ja mehr als das, Hass, in gebildete Formen verkleideter Hass. Und derselbe Hass umflutete ihn hier. Er brannte ihm auf der Haut, er verletzte seinen Rücken. Und wirklich, sein Rücken war voll plötzlicher Furcht wie der eines Verfolgten, ohne dass sich eine Menschenseele um ihn kümmerte. In Yoghonoluk, in dem großen Haus, bei sich selbst, da wusste er von alledem nichts. Und früher in Paris? Dort hatte er trotz alles Wohlbefindens in dem kühlen Zustand eines eingewanderten Fremden gelebt, der anderswo wurzelt. Wurzelte er hier? Jetzt erst, in diesem elenden Bazar seiner Heimat konnte er den absoluten Grad seiner Fremdheit auf Erden ganz ermessen. Armenier! Uraltes Blut, uraltes Volk war in ihm. Warum aber sprachen seine Gedanken öfter französisch als armenisch, wie zum Beispiel jetzt? (Und doch hatte er an diesem Morgen eine deutliche Freude empfunden, als sein Sohn ihm armenisch antwortete.) ...Er war also nicht nur in der Welt, sondern auch in sich selbst ein Fremder, sobald er mit den Menschen in Berührung kam. Jesus Christus, konnte man denn nicht ein Mensch an sich sein? Frei von diesem schmutzigen, feindlichen Gewimmel, wie heute morgen auf dem Musa Dagh?" [10]

Die meisten Türken wussten bescheid über die Deportationen und Entwaffnungen der Christen; in den türkischen Bädern war es Alltagsgespräch: "Der Herr auf der entferntesten Pritsche hatte sich indessen ächzend erhoben. Er raffte seinen Burnus, der als Bademantel diente, und machte auf Watschelfüßen ein paar Schritte in den Raum. Gabriel konnte nur sehn, dass er sehr groß und dick war. Seine Art, zusammenhängend zu reden, und die Art der anderen, ihn widerspruchslos anzuhören, ließ darauf schließen, dass man einen Hochmögenden vor sich hatte: »Man tut der Regierung unrecht. Politik läßt sich nicht mit Ungeduld allein machen. Die Verhältnisse liegen ganz anders, als sich die Unwissenden im Volke einbilden. Verträge, Kapitulationen, Rücksichten, das Ausland! Ich kann aber den Beys vertraulich mitteilen, dass vom Kriegsministerium, von Seiner Exzellenz Enver Pascha selbst, Befehle an die Militärbehörden ergangen sind, melun ermeni millet (die verräterische Armeniernation) zu entwaffnen, das heißt die Eingerückten aus dem Liniendienst zurückzunehmen und nur zu niedriger Arbeit zu verwenden. Straßenbau oder Lasttragen. Dies ist die Wahrheit! Doch es soll von ihr nicht gesprochen werden.« [11]

In der Türkei wäre es damals zudem "ein vergebliches Beginnen gewesen, diesen verstockten Orientalen über Wesen und Selbstbestimmung der abendländischen Frau aufklären zu wollen." [12]

1. Der christliche Berg Musa Dagh und die muselmanischen Berge

Früher hätte man z.B. Früchte, Honig und Stoffe aus der Türkei ruhigen Gewissens kaufen können, denn die Produkte wurden von Christen erzeugt. Heute haben jedoch Mohammedaner die Aufgaben der deportierten Christen übernommen, weshalb es nicht sinnvoll ist Firmen zu unterstützen, die diese Produkte anbieten wie Brax, Boss, Maas, Rapunzel, Alnatura, Aldi, Lidl & Co. "Anstatt mit ihren türkischen Namen hätte man die Dörfer auch nach dem Handwerk benennen können, das sie auszeichnete. Wein und Obst pflanzten sie alle. Getreide wurde fast nicht angebaut. Doch ihr Ruhm lag in der Kunstfertigkeit. Da war Hadji Habibli, das Holzdorf! Seine Männer verfertigten nicht nur aus hartem Holz und Bein die besten Kämme, Pfeifen, Zigarettenspitzen und ähnliche Gegenstände des täglichen Gebrauches, sondern sie schnitzten auch Kruzifixe, Madonnen, Heiligenfiguren, die bis nach Aleppo, Damaskus und Jerusalem ausgeführt wurden. Diese Schnitzereien, keine grobe Bauernware, besaßen ihre Eigenart, wie sie nur im Schatten des heimatlichen Berges zu gedeihen vermochte. Wakef aber war das Spitzendorf! Denn die feinen Decken und Taschentücher der dortigen Frauen fanden ihre Kundschaft sogar bis Ägypten, ohne dass die Künstlerinnen freilich etwas davon wussten, die mit ihrer Ware nur bis auf den Markt von Antiochia gelangten, und dies kaum zweimal jährlich. Von Azir, dem Raupendorf, muss nicht mehr gesprochen werden. In Kheder Beg wurde die Seide gesponnen. In Yoghonoluk und Bitias, den beiden größten Flecken, fanden sich all diese Handwerksarten zusammen. Kebussije aber, der nördlichste, der verlorenste Ort, war das Bienendorf. Der Honig von Kebussije, so behauptete Gabriel Bagradian, finde auf der ganzen Welt nicht seinesgleichen. Die Bienen sogen ihn aus der innersten Essenz des Musa Dagh, aus seiner zauberhaften Begnadung, die ihn unter allen den melancholischen Gebirgen des Landes heraushob. Warum entsandte gerade er unzählige Quellen, von denen die meisten als schleiernde Kaskaden ins Meer fielen? Warum er, und nicht die muselmanischen Berge wie der Naulu Dagh und der Dschebel Akra? Es war wirklich wie ein Wunder, als ob die Gottheit des Wassers, in geheimnisvoller Vorzeit durch den Wüstensohn, den Moslem, gekränkt, sich von dessen nackten, bittflehenden Höhen zurückziehe, um den christlichen Berg üppig zu begnaden. Die blumendurchwirkten Matten seiner Obsthänge, die satten Almen auf seinem faltenreichen Rücken, die schmiegsamen Wein-, Aprikosen- und Orangengärten an seinem Fuß, die Eichen und Platanen in den dunkeldurchmurmelten Schluchten, die Freudenausbrüche von Rhododendron, Myrtenblüten und Azaleen an heimlichen Stellen, die schutzengelhafte Stille, in die sich Herden und Halterbuben verdämmernd schmiegten, dies alles schien nur leicht gestreift zu sein von den Folgen des Sündenfalles, unter deren karstiger Trauer das übrige Kleinasien seufzt. Durch irgendeine kleine Ungenauigkeit in der göttlichen Weltordnung, durch die gutmütige Bestechlichkeit eines heimatliebenden Cherubs schien sich in den Revieren des Musa Dagh ein Bodensatz, ein Abstrahl, ein Nachgeschmack des Paradieses verfangen zu haben. Hier, an der syrischen Küste, und nicht etwa tief unten im Vierstromland, wohin die geographischen Bibelerklärer den Garten Eden gerne versetzen. Es ist selbstverständlich, dass auch die sieben Dörfer am Berge von seinem Segen ein Teil abbekommen hatten. Sie waren mit jenen elenden Siedlungen nicht zu vergleichen, denen Gabriel auf seinem Ritt durch die Ebene begegnet war. Da gab es keine Lehmhütten, die menschlichen Behausungen nicht glichen, sondern schlammigen Anschwemmungen, in die man ein schwarzes Loch gebohrt hatte zur Wohnstatt und Herdstelle für Mensch und Vieh. Die Häuser waren zumeist aus Stein erbaut. Jedes umfasste mehrere Räume. Kleine Veranden liefen um die Mauern. Tür und Fenster blinkten sauber. Nur einige wenige Hütten aus ältester Zeit hatten nach orientalischer Sitte keine Fenster gegen die Straße zu. Soweit der scharfe Schlagschatten des Damlajik sich in das Land zeichnete, soweit herrschte diese Freundlichkeit und dieser Hochstand des Lebens. Jenseits des Schattens begann die Öde. Hier Wein, Früchte, Maulbeere, Terrasse über Terrasse, dort die Ebene mit einförmigen Mais- und Baumwollfeldern, die stellenweise die nackte Steppe wies, wie ein Bettler seine Haut durch die Lumpen. – Doch es war nicht der Segen des Berges allein. Nach einem halben Jahrhundert noch zeitigte die Energie Awetis Bagradians des Alten hier volle Frucht, die Liebe eines einzigen unternehmenden Mannes, die sich stürmisch auf diesen Heimatfleck Erde konzentriert hatte, aller Weltlockung zum Trotz. Mit erstaunten Augen sah der Enkel diese Menschen, die ihm sonderbar schön erschienen. Einige Sekunden vor seinem Näherkommen verstummten die Gruppen, wandten sich zur Straßenmitte und grüßten ihn mit lautem Abendwunsch: »Bari irikun!« Er glaubte – vielleicht war's nur Einbildung – in den Augen der Leute ein kurzes Aufleuchten wahrzunehmen, ein Lichtchen der Dankesfreude, das nicht ihm galt, sondern dem alten Segenspender. Die Frauen und Mädchen verfolgten ihn mit eingehendem Blick, während in den raschen Händen die Wirtel der Handspindeln unbeteiligt hin und her zuckten." [13]

Christenverfolgungen durch die Osmanen bzw. Türken gab es schon vor 1896 und 1909 und 1915. "Alles umdrängte ihn, damit er über seine Erfahrungen in Antakje berichte. Der Muchtar Kebussjan neigte den Kopf weit vor, um kein Wort zu verlieren. Dadurch, dass er ein wenig schielte, wurde der mißtrauisch furchtsame Zug seines Bauerngesichtes noch verstärkt. Man darf natürlich nicht glauben, dass die behördliche Maßnahme des heutigen Morgens spurlos an den Gemütern vorübergegangen war. Schon die Tatsache, dass die türkische Obrigkeit dafür den Sonntag, und zwar die Stunde vor dem Hochamt, gewählt hatte, konnte als vertrackte Absicht und feindliches Zeichen aufgefasst werden. Wohl war die Siedlung am Musa Dagh von den blutigen Ereignissen der Jahre 1896 und 1909 nahezu verschont geblieben. Doch Männer wie Kebussjan und der kleine Pastor von Bitias waren hellhörig genug, um bei jedem verdächtigen Laut die Ohren zu spitzen. Sie hatten den Tag nicht ganz ohne Sorgen verbracht. Erst der Abend und die strahlende Gegenwart Juliettens wusste die Trübung ihrer Ruhe zu zerstreuen. Als aber Bagradian, seines Versprechens eingedenk, die Angaben des Müdirs wiederholte, es handle sich nur um eine allgemeine, dem Kriegszustand entspringende Verfügung – da hatten alle, Nokhudian, Kebussjan, die Lehrer, des Rätsels Lösung längst gekannt und vorhergesagt. Ein heller Optimismus breitete sich nunmehr aus. Sein überzeugtester Vertreter war Lehrer Schatakhian. Er reckte sich hoch. Das Mittelalter sei vorüber, meinte er, sein glühendes Wort an Madame Bagradian richtend. Die Sonne der Zivilisation werde nun auch über der Türkei aufgehen. Der Krieg sei nur ihre blutige Morgenröte. Jedenfalls aber hätten Unterdrückung, Greuel, Massaker für alle Zeiten ein Ende gefunden. Die fortgeschrittene Welt würde dergleichen nicht mehr dulden. Und die türkische Regierung stehe unter der Aufsicht ihrer Verbündeten. Schatakhian sah Juliette erwartungsvoll an. Hatte er nicht in tadellosem Französisch dem Fortschritte gehuldigt? Die Anwesenden schienen, soweit sie ihn verstanden hatten, seine Ansichten zu billigen. Nur Lehrer Oskanian, der Schweiger, grunzte verächtlich. Jedoch dies tat er immer, wenn sich Freund Schatakhian von seiner Beredsamkeit hinreißen ließ. Da ertönte eine neue Stimme: »Lasst die Türken! Reden wir von wichtigeren Dingen!« [14]

Alle gebildeten Leute vom Musa Dagh unternahmen mindestens einmal jährlich eine Reise, und sei es nur nach Aleppo oder Marasch, um dort die amerikanischen, deutschen, französischen Missionsschulen zu besuchen, wo sie den höheren Unterricht empfangen hatten. »In Alexandrette hat man mir so viel vom Musa Dagh gesprochen, dass ich neugierig geworden bin. Es war eine große Überraschung für mich, im trostlosen Orient solch eine Schönheit zu finden, so gebildete Menschen und eine so gute Unterkunft wie bei meinem Wirt, Herrn Krikor. Ich liebe alles Unbekannte. Läge der Musa Dagh in Europa, wäre er eine große Berühmtheit. Nun, ich freue mich, dass er Ihnen allein gehört.« [15]

Christen hatten in der Türkei schon vor den Mohammedanern und ihren Allahpfaffen gelebt: »Wir Armenier haben einen verhängnisvollen Fehler, den Kleinmut. Er verleitet uns oft zur Selbsterniedrigung. Wir vergessen, dass wir eines der ältesten Kulturvölker der Erde sind. Madame, als die Gattin unseres Gabriel Bagradian, weiß es ja, dass wir als allererste Nation, lange vor Rom, das Christentum als Staatsreligion angenommen haben. Wir haben ein glänzendes Reich besessen, die Hauptstadt Ani mit ihren tausend Kirchen wie ein anerkanntes Weltwunder. Könige von armenischem Blute regierten Byzanz. Zu einer Zeit, da Frankreich noch in tiefer Barbarei schlief, hatten wir eine klassische Literatur. Ich selbst besitze Auszüge von markigen Autoren wie Lazar von Pharpi und Moses von Chorene. Doch auch heute müssen wir uns nicht verstecken. Selbst in diesem Nest hier, das nicht einmal eine anständige Straße besitzt, ist im Laufe der Zeit eine namhafte Bibliothek angewachsen ... Madame wird uns also gestatten, dass wir uns vor ihr nicht schämen.« [16]
 

2. Absichten der ottomanischen Generalität; Bimbaschis; Jüs-Baschis; Münadiers, die Austrommler; mohammedanische Mollahs; Walis und Mutessarifs

Bagradian durchschaute die Absichten der ottomanischen Generalität genau. Man nahm die armenischen Truppenteile aus der Front und entwaffnete sie. Warum? Die Türken fürchteten, dass eine so starke Minderheit wie die armenische mit den modernsten Waffen in der Hand bei einem unglücklichen Kriegsausgang den Türken gewisse Rechte abtrotzen könnte. Wo es aber keine Soldaten gab, durften noch weniger Offiziere geduldet werden, die im rechten Augenblick die Führung an sich reißen würden. [17]

Nicht nur in den betreffenden Kirchenbüchern ist jede Seele vermerkt. "Man lebe hier ja nicht unter Kurden und Nomaden, sondern unter Christenmenschen. Vor einigen Jahren hätten die damaligen Muchtars auf eigene Faust eine Volkszählung durchgeführt. Im Jahre 1909 nämlich – nach der Reaktion gegen die Jungtürken und nach dem großen Massaker in Adana – sei von der armenischen Volksvertretung der Befehl eingelangt, eine Zählung in den sieben Dörfern vorzunehmen. Man habe roh gerechnet sechstausend Christen zusammengebracht. Der Effendi aber könne, sofern er es wünsche, in einigen Tagen die genaue Ziffer erfahren. Gabriel wünschte es. Dann erkundigte er sich, wie es mit dem Militärverhältnis der kriegsdienstpflichtigen Jugend stehe." [18]

Der Mobilmachungsbefehl hat bisher alle wehrfähigen Männer zwischen zwanzig und dreißig Jahren zu den Waffen gerufen, obgleich das Gesetz die obere Altersgrenze mit siebenundzwanzig vorschreibt. "Etwa zweihundert Männer seien im gesamten armenischen Dörferbezirk betroffen worden. Davon hätten genau hundertundfünfzig den Bedel, die gesetzliche Loskaufsumme vom Militärdienst, entrichtet, und zwar fünfzig Pfund auf den Kopf. Der Effendi wisse ja, dass man hierzulande sehr sparsam sei. Die meisten Familienväter sorgen schon gleich nach der Geburt von Söhnen für den Bedel vor, um diese vom türkischen Soldatenschicksal zu befreien. Der Muchtar von Yoghonoluk sammle in Begleitung des Gendarmeriepostens bei jedem neuen Aufgebot die Steuer ein und entrichte sie persönlich im Hükümet von Antakje. »Wie kommt es aber«, forschte Bagradian weiter, »dass es unter sechstausend Seelen nur zweihundert Männer im Wehralter gibt?« Er bekam eine Antwort, die ihm nicht unbekannt war. Der Effendi möge bedenken, dass der Mangel an rüstigen Männern ein Erbteil der Vergangenheit, eine Folge des schweren Blutverlustes sei, der in jedem Jahrzehnt mindestens einmal über das armenische Volk komme. Das war nur eine schöne Redensart. Gabriel hatte selbst mehr als zweihundert junge Männer in den Dörfern gesehen. Es gab eben auch Mittel, dem Dienst zu entgehen, ohne den vollen Bedel zu leisten. Der pockennarbige Saptieh Ali Nassif befand sich gewiß in voller Kenntnis dieser Mittel. Bagradian kehrte zum Gegenstand zurück: »Nun! Fünfzig Leute sind zur Musterung nach Antakje gekommen. Was ist mit ihnen geschehen?« »Vierzig von ihnen sind behalten worden.« »Und in welchen Regimentern, an welchen Fronten dienen diese vierzig?« Das sei unbestimmt. Die betroffenen Familien hätten seit Wochen und Monaten keine Nachricht von ihren Söhnen. Die türkische Feldpost sei ja allgemein durch ihre Zuverlässigkeit bekannt. Möglicherweise befänden sie sich in den Kasernen von Aleppo, wo der General Dschemal Pascha seine Armee neu aufstelle." [19]

Wie heute in der Türkei wurden unabhängige Zeitungen verboten oder geschlossen. "Alle armenischen Zeitungen wurden eingestellt, alle Geschäftshäuser und Läden geschlossen. Und während wir hier miteinander sprechen, hängen auf dem Platz vor dem Seraskeriat fünfzehn unschuldige armenische Männer an fünfzehn Galgen... Ich verstehe nur, dass die Regierung gegen unser Volk einen Schlag plant, wie ihn selbst Abdul Hamid nicht gewagt hat." [20]

Zeitun heißt ein altes hochgebautes Bergnest im westlichen Teil des zilizischen Taurusgebirges. Es wurde ähnlich wie die Dörfer am Musa Dagh fast durchwegs von uransässigen Armeniern bewohnt. Da es aber ein sehr ansehnlicher Ort von etwa dreißigtausend Einwohnern war, "so unterhielt die türkische Regierung dort eine bedeutende Zahl von Saptiehs und Truppen, von Offizieren und Beamten mit ihren Familien, was sie überall zu tun pflegte, wo eine nichttürkische Bevölkerung ausgewogen und überwacht werden sollte." Die Osmanen besaßen, den verschiedenen »Millets« gegenüber nicht einmal die zahlenmäßige Überlegenheit. "Nur Leute wie Gabriel Bagradian, die in Paris oder anderen Hauptstädten lebten, konnten in ihrem Idealismus bis zu diesem Frühjahr hoffen, dass eine Vereinigung der Gegensätze, eine Bereinigung der Blutsfeindschaft, ein Sieg der Gerechtigkeit unter jungtürkischer Flagge möglich sei. Gabriel kannte eine erkleckliche Zahl von diesen Advokaten und Journalisten, die sich durch die Revolution in den Sattel geschwungen hatten. In den Zeiten der Verschwörung war er mit ihnen nächtelang in den Cafés des Montmartre gesessen, bis ins Morgengrauen debattierend. Versicherungen ewiger Treue, messianische Zukunftsbekenntnisse wurden damals zwischen Türken und Armeniern gewechselt. Um des erneuerten Vaterlandes willen (mit dem er sehr wenig zu tun hatte) war er als verheirateter Mann in die Militärakademie eingetreten und in den Krieg gegangen, was den wenigsten von jenen türkischen Patrioten in Paris eingefallen war. Und jetzt? Er sah immer noch ihre Gesichter im Geiste, und eine nicht ganz erloschene Erinnerungswärme fragte erstaunt: Wie? Diese meine alten Freunde sind nun meine Todfeinde?" [21]

Auch diese Handlungsweise entsprang deutlich dem Wesen des Türken, das aus "Dummschlauheit und ängstlichem Ruhebedürfnis" gemengt war. Er ließ zum Schutze "der mohammedanischen Bevölkerung eine »Bürgerwehr« ausrüsten, das heißt einige rasch zusammengetrommelte Hooligans bekamen ganz nach abdulhamidischem Muster je eine grüne Binde um den Arm und ein Mausergewehr in die Hand geliefert." Die Bürgerwehr gab nun Anlass für jenen zweiten Vorfall, der die Entscheidung brachte. "In einem kleinen öffentlichen Garten der Neustadt, Eski Boston genannt, pflegten sich am Nachmittag armenische Frauen und Mädchen gerne zu ergehen. Um einen schönen Brunnen standen ein paar Bänke im Schatten alter Platanen. Kinder spielten vor dem Brunnen. Die Frauen plauderten und handarbeiteten auf den Bänken. Ein Scherbetverkäufer schob seinen Wagen im Kreis. Dieser Garten wurde nun von den verlumptesten Mitgliedern der neuen Bürgerwehr überfallen. Die keuchenden Gesellen warfen sich auf die Armenierinnen, würgten sie und begannen ihnen die Kleider vom Leibe zu reißen. Denn ebenso groß wie die Mordlust an den Männern der verfluchten Rasse war die Tollheit nach ihren Weibern, diesen zartgliedrigen Geschöpfen mit ihren schwellenden Lippen und ihren fremden Augen. Wehgekreisch und Kinderschrillen erfüllte die Luft. Doch im Nu war Hilfe da. Eine Übermacht von armenischen Männern, die, Böses ahnend, den Stadtschützlern nachgeschlichen waren, schlug sie mit nackten Fäusten, Riemen und Stöcken krumm und lahm und nahm ihnen, zum eigenen Verderben freilich, sämtliche Gewehre und Bajonette ab. Offener Aufruhr gegen die Staatsgewalt! Der Tatbestand ließ sich nach dieser Entwaffnung der Hilfspolizei durch Aufständische nicht mehr leugnen. Noch am selben Abend wurde vom Kaimakam eine Auslieferungsliste herausgegeben, in der all diejenigen Einwohner namentlich angeführt waren, welche vom Gemeinderat selbsttätig der verhaftenden Behörde zuzuführen seien. In ihrer rasenden Erbitterung traten die betroffenen Männer zusammen, taten einen großen Schwur und verschanzten sich in einem alten Tekkeh, in einem verlassenen Derwisch- und Wallfahrtskloster, eine halbe Stunde östlich der Stadt. Als ihnen davon die Kunde ward, stieg vom Ala Kaja und andern Punkten des nahen Gebirges ein Teil der Deserteure nieder und vereinigte sich mit den Geflüchteten. In der kleinen Festung lagen alles in allem ungefähr hundert Mann.... Der Mutessarif in Marasch und die Regierungsspitzen in Stambul sahen sich am Ziel ihrer Wünsche. Die Zeit der kleinen Herausforderungen war vorüber und der effektvolle Aufruhr in schönster Blüte. Nun durften die neutralen und verbündeten Konsuln ihre Augen vor den armenischen Umtrieben nicht mehr verschließen. Schon zwei Tage später traf in Zeitun militärische Assistenz ein, vorläufig zwei Kompanien von Linieninfanterie. Der Jüs-Baschi, der kommandierende Major, begann sofort mit der Belagerung. Aber mochte er nun ein wirklicher Held sein oder nur ein Schwachkopf – als er ungedeckt hoch zu Roß an der Spitze einer Abteilung auf das Tekkeh zusprengte, um die Festung auf diese sehr offenherzige Art im Handstreich zu erobern, wurde er nebst sechs seiner Soldaten durch sichere Schüsse niedergestreckt. Das war in der Tat mehr, als man verlangt hatte. Der Heldentod des Majors wurde sogleich in allen Städten des Reiches mit Posaunenstößen verkündet. Ittihad arbeitete fieberhaft, um dem Aufschrei der Empörung den rechten Nachdruck zu verleihen. Keine halbe Woche verging und Zeitun hatte sich in ein Heerlager verwandelt. Eine Streitmacht von vier Bataillonen und zwei Batterien war aufgeboten worden, um eine Rotte Verzweifelter und Fahnenflüchtiger auszuheben. Und dies geschah zu einem Zeitpunkt, da Dschemal Pascha jeden Mann und jede Kanone für seine vierte Armee brauchte." [22]

An einem strahlenden Märzmorgen verbreitete sich das schreckliche Gerücht in der Stadt, die Belagerten seien in der Nacht mit Zurücklassung von zwei Toten, die sie aber unkenntlich gemacht hätten, entkommen und im Gebirge verschwunden. "Wie, hundert zerlumpte, höchst auffällige Gestalten können spurlos durch eine Kette von mehr als viertausend geschulten Soldaten verschwinden? Und der Frager wußte wohl, was es zu bedeuten habe. Das Gefürchtete traf schon um die Mittagsstunde dieses Tages ein. Der Militärkommandant und der Kaimakam machten die Gesamtbevölkerung für den Ausbruch der hundert verantwortlich. Die hochverräterischen Zeitunlis hätten auf irgendeine teuflisch verschlagene Weise die Belagerten durch den sanft schlummernden Truppenring an den Wachtposten vorüber entwischen lassen. Auf die Nachricht dieses Verbrechens hin eilte der Mutessarif höchstselbst im Wagen aus Marasch herbei. Die Münadiers, die Austrommler, durchzogen mit dumpfem Wirbeln die ganze Stadt. Zahlreiche Amtsboten folgten ihnen, welche die Ältesten und Notabeln Zeituns zu einer »Konferenz mit dem Mutessarif und dem Platzkommandanten über die Lage« einzuladen hatten. Die Berufenen, fünfzig der angesehensten Männer, Ärzte, Lehrer, Priester, Großhändler, Unternehmer, erschienen ohne Verzug an Ort und Stelle, die meisten sogar noch in ihrem Arbeitsgewand. Nur wenige Ahnungsvolle hatten Geldmittel zu sich gesteckt. Die Konferenz bestand darin, dass man diese bejahrten und gewichtigen Männer auf dem Kasernenhof von rohen Unteroffizieren zusammentreiben und abzählen ließ wie Vieh. Die Sache habe nun ein Ende, hieß es, und noch heute würden sie zwecks ihrer »Umsiedlung« über die Linie Marasch–Aleppo den Weg in die mesopotamische Wüste nach Deïr es Zor antreten. Die Männer sahen einander stumm an, keiner bekam einen Anfall, keiner weinte. Vor einer halben Stunde noch achtunggebietende Prachtgestalten, wurden sie mit einem Schlag zu matt belebten Erdklößen, fahl und ohne Willen. Der neue Muchtar, ihr Sprecher, bat mit versagender Stimme nur um eine Gunst: Man möge doch um der göttlichen Barmherzigkeit willen ihre Familien in Frieden und in Zeitun lassen. Dann würden sie ihr Los mit Fassung ertragen. Die Antwort fiel grausam höhnisch aus: Nein, keineswegs, man kenne ja die Armenier zur Genüge und niemand denke daran, würdige Familienväter von ihren liebenden und geliebten Angehörigen zu trennen. Es sei vielmehr verfügt, dass jeder von ihnen die Seinigen schriftlich anweise, morgen, zwei Stunden nach Sonnenaufgang, mit Sack und Pack zum Abmarsch gestellt zu sein. Weiber, Söhne, Töchter, Kinder, groß und klein. Der Befehl von Stambul laute dahin, dass die gesamte armenische Bevölkerung bis zum letzten Säugling umgesiedelt werde. Zeitun habe damit zu bestehen aufgehört, denn von nun an heiße es »Sultanijeh«, damit keine Erinnerung an einen Ort übrigbleibe, der es gewagt habe, dem osmanischen Heldenvolk zu trotzen. Am nächsten Tag zur anbefohlenen Stunde ging wirklich der erste gramvolle Transport ab und eröffnete damit eine der furchtbarsten Tragödien, die je zu einer geschichtlichen Zeit über ein irdisches Volk hereingebrochen ist. Militärische Bedeckung folgte den Ausgetriebenen, und es zeigte sich auf einmal, dass der mächtige Heerbann, den man zur Belagerung der Flüchtigen aufgeboten hatte, einen kleinen, aber um so pfiffigeren Nebenzweck besaß. Täglich am Morgen wiederholte sich nun das gleiche herzzerreißende Spiel. Den fünfzig vornehmsten Familien folgten hundert weniger vornehme, und mit der sinkenden Gesellschaftsklasse und Wohlhabenheit nahm die Zahl der Abgefertigten zu. – Gewiß, in den riesigen Etappengebieten der europäischen Kriegsfronten wurden alle Städte und Dörfer ebenfalls ausgesiedelt, aber so schwer dieses Los auch für die Heimatberaubten zu tragen war, es lässt sich mit dem der Zeitunlis nicht vergleichen. Die Evakuierten des Krieges wurden zu ihrem eigenen Schutz aus der Todeszone weggeführt. Selbst im Feindesland ließ man ihnen Pflege und Hilfe angedeihen. Sie verloren die Hoffnung nicht, binnen einer traurigen, aber absehbaren Frist wieder heimkehren zu dürfen. Den Armeniern winkte kein Schutz, keine Hilfe, keine Hoffnung. Sie waren keinem Feinde in die Hände gefallen, der aus Gründen der Gegenseitigkeit das Völkerrecht achten musste. Sie waren einem weit schrecklicheren, einem ungebundenen Feind in die Hände gefallen: dem eigenen Staat. Manchen stimmt schon das Wechseln seiner Wohnung traurig. Ein verlorenes Stück des eigenen Lebens bleibt immer zurück. Für jedermann ist es eine große Entscheidung, seine Stadt mit einer andern, sein Lebensland mit einem neuen zu vertauschen. Selbst der Gewohnheitsverbrecher legt den Weg in die Gefangenschaft, ins Gefängnis schwer zurück. Aber rechtloser als ein Verbrecher sein, der doch noch den Schutz des Gesetzes genießt! Ausgetrieben werden von einem Tag zum andern, aus der Wohnstätte, von der Arbeit, aus dem im jahrelangen Fleiß Geschaffenen! Dem Hass überliefert! Ungerüstet auf asiatische Landstraßen geworfen, aber Tausende Meilen Staub, Stein und Morast vor sich! Zu wissen, man werde nie wieder ein menschenwürdiges Nachtlager finden, nie wieder an einem menschenwürdigen Tisch essen und trinken. Dies aber ist noch nichts. Unfreier sein als ein Sträfling! Zu den Verfemten, den Vogelfreien gehören, die jeder ungestraft töten kann. Eingepfercht in ein schleichendes Rudel von Elenden, in das wandernde Konzentrationslager, wo niemand ohne Erlaubnis auch nur seine Notdurft verrichten darf. – Wer wagt es da noch zu sagen, er könne ermessen, welchen Jammer die Zeitun-Bewohner in jener langen Woche erlebten, die zwischen dem Abmarsch des ersten und des letzten Transportes lag? Selbst ein jugendlicher Mann wie Pastor Aram Tomasian, der ja, weil nicht in Zeitun gebürtig, bessere Aussichten besaß, wurde in diesen sieben Tagen vor dem Auszug fast zum Schatten." [23]

Die Stadt wurde von Tag zu Tag leerer, während sich die Landstraße nach Marasch mit langen Menschenschlangen füllte, die nicht vorwärts zu kommen schienen. Von der Zitadelle oben hätte ein Beobachter sie weit in die Berge hinein verfolgen können, und nichts hätte sein Grauen tiefer erregt als die schleichende Stille dieser Todeszüge, die durch das Grölen und Lachen der bewaffneten Schergen nur noch grausamer gesteigert wurde. Die ausgestorbenen Gassen Zeituns belebten sich inzwischen mit den Totenvögeln der Austreibung, mit Zufallsplünderern und Berufsdieben, mit der Stadthefe und mit räuberischen Umwohnern. Sie bezogen die verlassenen Häuser oder besuchten sie zumindest. Sofort setzte ein schwunghafter Speditionsverkehr ein. Leiterwagen und Karren fuhren auf, Lastesel zotteten heran. Gemächlich wurden Teppiche, Kleider, Wäscheberge, Bettstellen, Möbel, Spiegel auf das Fuhrwerk und die Tragtiere verladen, als handle es sich um eine rechtmäßige Übersiedlung. Die Behörden wehrten diesem Treiben nicht. Sie schienen sogar dem türkischen Bodensatz – sofern nur die Verjagung der Armenier klaglos verlaufe – damit stillschweigend eine Prämie zu gewähren. Es erinnerte fast an ein barbarisches Märchen, dass von jeglichem Handwerk je sechs Vertreter in »Sultanijeh« zurückbleiben mussten, damit das treibende Wrack des Alltags nicht ganz ohne Bemannung sei. Diese Glücklichen bestimmte aber nicht die Obrigkeit; sondern der Gemeinde lag es selbst ob, die Auswahl zu treffen, eine ausgewitzte Strafverschärfung, denn sie prüfte die Gemüter mit neuen Qualen. Der fünfte Tag war bereits angebrochen, und Pastor Aram hatte noch keine Vorladung erhalten. Nur ein mohammedanischer Mollah, ein Stadtfremder übrigens, war bei ihm erschienen, die Kirchenschlüssel einzufordern. Die protestantische Kirche werde, wie er höflich mitteilte, bis zum Abendgebet in eine Moschee umgeweiht sein... Er trat dem Stabsoffizier aufrecht und mit Ruhe entgegen. Das war in diesem Fall leider eine ganz verfehlte Haltung. Der Bimbaschi liebte es nämlich, wenn sich weinerliche Kreaturen vor ihm wanden. Dann war er bereit, ein Auge zuzudrücken, Vergünstigungen zu gewähren und ein guter Mensch zu sein." [24]

Was ist geschehen? Hat man an den Dardanellen die Alliierten vertrieben? Das ferne Geschützfeuer, das in der Nacht zu hören ist, stammt von englischen Kriegschiffen, die die Einnahme Konstantinopels vorbereiten. "Die schweren Geschütze der englischen Flotte begehren pochenden Einlass nach Konstantinopel. Und er erinnert sich, dass heute irgendein Gedenktag der jungtürkischen Revolution gefeiert wird. Vielleicht ist es das Erinnerungsfest des Tages, an dem das Komitee seine politischen Feinde durch Mord aus dem Weg räumte, um endgültig die Macht zu ergreifen? Gleichviel, welcher Gedenktag auch gefeiert werden mag, die Menge tobt und brüllt. Vor einem Geschäftshaus eine dicke Stauung! Junge Leute steigen auf bereitwillige Schultern, erklettern das Gesimse, und in der nächsten Minute poltert eine große Firmentafel zur Erde. Lepsius, der in den Menschenknäuel geraten ist, fragt einen Nachbarn, der keinen Fez trägt, nach dem Sinn dieser Geschehnisse. Es werden keine fremden Aufschriften mehr geduldet, hört er, die Türkei den Türken, alle Wegweiser, Straßen- und Geschäftstafeln dürfen nur mehr einsprachig türkisch sein! Und der Nachbar (wahrscheinlich ein Grieche oder Levantiner) lacht boshaft: »Da haben sie aber diesmal unsere Verbündeten demoliert. Es ist ein deutsches Geschäft.« [25]

Wo sind die Entscheidungen getroffen worden zum Genozid an den Christen? "Es ist das Hauptquartier Enver Paschas im Ministerium des Innern. In diesen beiden Räumen hier sind gewiß die Würfel über das armenische Schicksal geworfen worden. Ein größeres Zimmer, dem Anschein nach ein Warte- und Sitzungssaal, und daneben ein Kabinett mit einem großen leeren Schreibtisch. Der Vorhang zu diesem Kabinett ist zurückgeschlagen. Lepsius bemerkt an der Wand über dem Schreibtisch drei Bilder. Rechts Napoleon, links Friedrich der Große, und dazwischen die vergrößerte Photographie eines türkischen Generals, ohne Zweifel Enver Pascha, der neue Kriegsgott." [26]

Die Tatsachen können nicht mehr geleugnet werden, die Deportationen, Massenmord an Knaben und Männern, Schändung der Mädchen und Frauen durch Kurden, Banditen und das Militär selbst: »Hunderttausend Menschen sind bereits auf dem Wege der Verschickung. Die Behörden sprechen nur von Umsiedlung. Ich behaupte aber, dass dies, gelinde gesagt, ein Wortmissbrauch ist. Kann man ein Volk von Bergbauern, von Handwerkern, Städtern, Kulturmenschen mit einem Federstrich in der mesopotamischen Wüste und Steppe ansiedeln, in einer ozeanweiten Einöde, die sogar von den Beduinenstämmen geflohen wird? Und selbst dieses Ziel ist doch nur eine Finte. Denn die Ortsbehörden richten die Deportation so ein, dass die Elenden schon während der ersten acht Tagesmärsche durch Hunger, Durst, Krankheit umkommen oder wahnsinnig werden, dass man die widerstandsfähigen Knaben und Männer durch Kurden oder Banditen, wenn nicht gar durch Militär, umbringen lässt, dass die jüngeren Mädchen und Frauen der Schändung und Verschleppung geradezu aufgedrängt werden ...« [27]

Dabei sind grundsätzlich immer islamische Länder verloren, wenn sie nicht von Christen geführt werden; diese Länder versinken in Chaos wie die heutige Türkei, Syrien, Libanon, Lybien usw. "Ohne die armenische Millet sei das türkische Reich wirtschaftlich, kulturell und infolgedessen auch militärisch verloren. Warum? Er wolle gar nicht vom Handel reden, der sich zu neunzig Prozent in christlichen Händen befinde, auch wisse die Exzellenz so gut wie er, dass der gesamte Import von armenischen Firmen verwaltet werde, dass somit einer der wichtigsten Zweige der Kriegführung, die Versorgung des Reiches mit Rohstoffen und Fabrikaten, nur von diesen Firmen durchgeführt werden könne. Er verweise auf ein Welthaus wie Awetis Bagradians Nachfolger, das in zwölf europäischen Städten Niederlagen, Büros, Vertreter besitze. Es koste sehr viel weniger Mühe, eine derartige Organisation zu vernichten, als Ersatz für sie zu schaffen. Was aber das Innere selbst anbetreffe, so habe er, Lepsius, auf seinen Reisen schon vor Jahren die Erfahrung gemacht, dass die armenische Landwirtschaft in Anatolien turmhoch über dem türkischen Kleinbauerntum stehe. Damals schon hätten die zilizischen Armenier aus Europa Hunderte von Dreschmaschinen und Dampfpflügen bezogen, womit sie den Türken einen trefflichen Anlass zur Metzelei gaben, denn diese ermordeten nicht nur die zehntausend Leute von Adana, sondern schlugen auch die Dreschmaschinen und Dampfpflüge in Stücke. Hierin aber und nirgendwo anders stecke der Grund alles Übels. Die armenische Millet, die kultivierteste und tätigste Schicht der ottomanischen Bevölkerung, mache seit Jahrzehnten die Riesenanstrengung, das Reich aus altertümlicher Naturalwirtschaft heraufzuführen in eine neue Welt zeitgemäßer Bodenkultur und beginnender Industrialisierung. Und gerade für diese segensreiche Pioniertat werde es von der Rache der gewalttätigen Faulheit verfolgt und vernichtet. »Nehmen wir an, Exzellenz, Handwerk, Gewerbe, Hausindustrie, die im Innern rein armenisch sind, könnten durch Türken ersetzt werden, wer aber ersetzt die vielen armenischen Ärzte, die an den besten Universitäten Europas studiert haben und die osmanischen Kranken mit der gleichen Sorgfalt pflegen wie ihre Volksgenossen? Wer ersetzt die vielen Ingenieure, Anwälte, Fachlehrer, deren Arbeit das Land unermüdlich vorwärtstreibt? Vielleicht werden Exzellenz erwidern, man könne zur Not auch ohne den Intellekt leben. Doch ohne den Magen kann man nicht leben. Und gerade den Magen der Türkei zerschneidet man und hofft, diese Operation zu überstehen.« Enver Pascha hört, den Kopf sanft zur Seite neigend, diese Rede achtungsvoll zu Ende an. Sein ganzes Wesen, frisch, schnittig, nur durch jene leise Schüchternheit gedämpft, zeigt ebensowenig eine unvorhergesehene Falte wie seine Uniform. Der Pastor hingegen ist schon ganz aus der Form geraten. Er schwitzt, die Krawatte ist verrutscht und die Ärmel seines Rockes steigen nach oben. Der General kreuzt seine kurzen, aber schlanken Beine. Die blitzenden Lackreitstiefel sitzen wie auf dem Leisten. »Sie sprechen vom Magen, Herr Lepsius«, lächelt er entgegenkommend, »nun, vielleicht wird die Türkei nach dem Krieg einen schwachen Magen haben.« [28]

Der Generalissimus gibt zu, dass die Türken dumm wie Bohnenstroh sind und fährt fort: »Wir Türken besitzen von dergleichen Intelligenz wenig. Dafür aber sind wir die alte heroische Rasse, die zur Errichtung und Beherrschung des großen Reiches berufen ist. Über Hindernisse werden wir deshalb hinwegsteigen.« [29]

»Sie wollen ein neues Reich gründen, Exzellenz. Doch der Leichnam des armenischen Volkes wird unter seinen Grundmauern liegen. Kann das Segen bringen? Ließe sich nicht noch jetzt ein friedlicher Weg finden?« Hier entblößt Enver Pascha zum erstenmal die tiefere Wahrheit. Er lächelt nicht mehr zurückhaltend, seine Augen werden starr und kalt, die Lippen weichen von einem großen, gefährlichen Gebiss: »Zwischen dem Menschen und dem Pestbazillus«, sagt er, »gibt es keinen Frieden.« Lepsius packt sofort zu: »Sie bekennen sich also offen zur Absicht, den Krieg zur völligen Ausrottung der armenischen Millet benützen zu wollen? ...« Der Kriegsminister ist unbedingt zu weit gegangen. Er lenkt auch sofort ein, indem er sich wieder in die uneinnehmbare Festung seiner verbindlichen Unverbindlichkeit zurückzieht. [30]

Auch heute stellt sich die Frage, warum hatte man die Türkei damals nicht aufgeteilt, dann hätte es später auch nicht einen weiteren Exodus der griechischen Christen gegeben; Konstantinopel und die kleinasiatische Küste wäre griechisch geblieben und die Türken hätten sich in ein Gebiet um Ankara zurückziehen müssen. Noch heute muss sich die EU und die Nato deshalb mit der Piratenrepublik Türkei - fast ohne Christen - herumschlagen  "In welcher Verhandlungslage aber wird sich die ottomanische Friedenskommission befinden, wenn man sie mit der Frage empfangen wird: Wo ist dein Bruder Abel? Eine höchst peinliche Situation. Und die Mächte des Sieges werden, was Gott verhüten möge, im Hinblick auf die große Schuld rücksichtslos die Beute verteilen. General Enver Pascha, wie wird sich in einem solchen Fall der größte Mann seines Volkes, der alle Verantwortung übernommen hat, dessen Wille allmächtig war, wie wird er sich dann vor diesem seinem eigenen Volk verteidigen?« Enver Pascha hat diesmal nicht nur mit der gewohnten Aufmerksamkeit, sondern mit Spannung zugehört. Doch jetzt bekommt Lepsius etwas zu sehen und zu hören, was er bisher noch nicht erlebt hat. Es ist keine spöttische Grausamkeit, kein Zynismus, was den so knabenhaften Gesichtsausdruck des Generals verändert. Nein, Lepsius sieht jetzt das arktische Antlitz des Menschen, der »alle Sentimentalität überwunden« hat, das Antlitz des Menschen, der außerhalb der Schuld und ihrer Qualen steht, er sieht das hübsche Präzisionsgesicht einer ihm unbekannten, aber atemberaubenden Gattung, er sieht die unheimliche, ja fast unschuldige Naivität der vollkommenen Gottlosigkeit. Und welche Kraft besitzt sie, dass man sie nicht hassen kann! »Ihre schätzenswerten Absichten interessieren mich«, sagt Enver anerkennend, »aber ich muss sie selbstverständlich zurückweisen. Gerade diese Ihre Wünsche zeigen mir, dass wir uns bisher missverstanden haben. Wenn ich einem Fremden gestatte, den Armeniern Hilfe zu bringen, schaffe ich damit einen Präzedenzfall, der die Einmischung fremder Persönlichkeiten und damit ausländischer Mächte anerkennt. Ich mache also meine ganze Politik zunichte, die ja die armenische Millet darüber belehren sollte, welche Folgen die Sehnsucht nach fremder Einmischung hat. Die Armenier selbst würden sich nicht mehr zurechtfinden. Zuerst bestrafe ich ihre hochverräterischen Träume und Hoffnungen, dann aber sende ich einen ihrer einflussreichsten Freunde zu ihnen, um diese Hoffnungen und Träume wieder zu erwecken. Nein, mein Herr Lepsius, das ist unmöglich, ich kann nicht gestatten, dass Ausländer diesen Leuten Wohltaten erweisen. Die Armenier müssen in uns allein ihre Wohltäter sehen.« [31]

Wie damals glaubt auch die heutige Türkei, die EU werde der Türkei Geld geben für ihre Angriffskriege; niemand ist dazu natürlich bereit - ausser Merkel-Deutschland mit dem augenklimpernden Aussenminister Maas und den Firmen, die ihr Geld in der Türkei in den Sand setzen wie VW, Bosch, Boss, Maas, Brax usw. Der heutige Präsident der Türkei "denkt an sein Kalifenreich" wie Enver Pascha aber er träumt nicht mehr "von neuen Erwerbungen für seinen zauberhaften Palast", sondern hat ihn schon in all seiner Hässlichkeit im Naturschutzgebiet von Ankara gebaut. "Der Pastor sinkt auf den Sessel. Verloren! Gescheitert! Jedes weitere Wort überflüssig. Wäre dieser Mensch dort nur böse, wünscht er sich, wäre er der Satan. Aber er ist nicht böse und nicht der Satan, er ist kindhaft-sympathisch, dieser große unerbittliche Massenmörder. Lepsius vergrübelt sich, so dass er das muntere, im vertraulichen Ton vorgebrachte Anerbieten Envers in seiner ganzen Unverfrorenheit nicht sogleich auffasst: »Ich mache Ihnen einen Gegenvorschlag, Herr Lepsius. Sammeln Sie Geld, sammeln Sie bei Ihren Hilfsvereinen in Amerika und Deutschland viel Geld. Die aufgebrachten Mittel bringen Sie dann mir. Ich werde sie ganz in Ihrem Sinn und nach Ihrer Bestimmung verwenden. Doch mache ich Sie darauf aufmerksam, dass ich keine Kontrolle durch Deutsche und andere Ausländer dulden kann.« Wäre Johannes Lepsius nicht zu erstarrt, er würde in ein Gelächter ausbrechen. So erheiternd ist die Vorstellung jener Wege, welche sein Sammelgeld nach Enver Paschas Sinn in der Türkei gehen würde. Er schweigt. Er ist geschlagen. Obgleich er doch vor der Unterredung schon hoffnungslos war, glaubt er erst jetzt, dass die Welt zusammengestürzt sei. Um nicht ganz vergehn zu müssen, gibt sich der Pastor einen Ruck, bringt sein Äußeres ein wenig in Ordnung, fährt mit dem Taschentuch mehrmals fest über die glänzende Stirn und erhebt sich: »Ich kann nicht annehmen, Exzellenz, dass diese Stunde, die Sie mir geschenkt haben, ganz ergebnislos verlaufen soll. In Nordsyrien und an der Küste leben hunderttausend Christen jenseits aller Kriegsereignisse. Exzellenz sind gewiß der Ansicht, dass Maßregeln, die keinem Zweck entsprechen, besser unterbleiben.« [32]

Enver Pascha tritt in das Büro Talaat Beys. Die Beamten fahren von ihren Sitzen empor. Begeisterung strahlt von ihren Gesichtern. "Noch immer hat sich die beinahe mystische Liebe nicht erschöpft, die selbst dieses papierene Schreibtischvolk dem zarten Kriegsgott entgegenbringt. Hundert glorreiche Sagen von seiner Tollkühnheit sind hier wie überall im Schwang. Als während des Krieges in Albanien ein Artillerieregiment meuterte, hat er sich, die Zigarette im Munde, vor die Mündung einer Haubitze gestellt und den Rebellen zugerufen, sie möchten nur ruhig die Zündschnur abziehen. Auf Envers seidenweichen Zügen sieht das Volk den messianischen Glanz. Er ist der gottgesandte Mann, der das Reich Osmans, Bajezids und Soleimans neu errichten wird. Der General grüßt die Beamten mit einem heiteren Zuruf, der einen übertriebenen Aufruhr von Entzücken hervorruft, überschwengliche Hände reißen die Türen auf, die durch die Kanzleienflucht in Talaats Arbeitszimmer führen. Für die erdrückende Persönlichkeit des Ministers ist dieses Kabinett zu klein. Wenn sich der Hüne, wie eben jetzt, vom Schreibtisch erhebt, verdunkelt er das Fenster. Der gewaltige Kopf Talaats ist an den Schläfen ergraut. Über den aufgeworfenen Lippen des Orientalen schwebt ein kleiner pechschwarzer Schnurrbart. Das üppige Doppelkinn drängt sich durch einen ausgeschnittenen Stehkragen. Eine weiße Pikeeweste bedeckt wie ein Sinnbild treuherziger Offenheit die ausladende Bogenfläche des Leibes. Immer, wenn Talaat Bey den Mitregenten im Duumvirat, Enver, erblickt, hat er das Bedürfnis, seine mächtige Bärentatze väterlich auf die schmale Schulter dieses begnadeten Jünglings zu legen. Jedesmal aber verhindert die Aura von eisiger Schüchternheit um Envers Gestalt diese vertraute Annäherung. Dabei ist Talaat der übersprudelnde Weltmensch und Wortführer, der fünf Diplomaten auf einmal mit seiner rauschenden Überlegenheit an die Wand spielt, während Enver, der Abgott des Volkes, der Gemahl einer kaiserlichen Prinzessin, bei irgendeinem großen Empfang oft halbe Stunden lang traumverloren und verlegen abseits stehen kann. »Die genauen Weisungen an Aleppo! Mittlerweile, denke ich, dürften die Straßen wieder leerer sein. Im Laufe der allernächsten Wochen werden Aleppo, Alexandrette, Antiochia und die ganze Küste abgehen können.« »Antiochia und die Küste«, wiederholt Enver fragend, als hätte er zu diesem Punkt eine Bemerkung zu machen. Aber er sagt keine Silbe mehr, sondern sieht gespannt auf die dicken Finger Talaats, die unaufhaltsam wie im Sturmangriff ihre Unterschrift unter die Texte setzen. Dieselben biedermännisch derben Finger haben den unchiffrierten Befehl verfasst, der an alle Walis und Mutessarifs erging: »Das Ziel der Deportation ist das Nichts.« Die raschen Schriftzüge zeigen den Schwung einer unerbittlichen Überzeugung, die kein Bedenken kennt. Jetzt richtet der Minister seinen ungeschlachten Körper aus der gebückten Stellung auf: »So! Im Herbst werde ich all diesen Leuten mit der größten Aufrichtigkeit antworten können: La question arménienne n'existe pas.« Enver steht am Fenster und hat nichts gehört. Denkt er an sein Kalifenreich, das von Mazedonien bis Vorderindien reicht? Hat er Sorgen wegen des Munitionsnachschubs für die Armeen? Oder träumt er von neuen Erwerbungen für seinen zauberhaften Palast am Bosporus? Im großen Festsaal hat er den Hochzeitsthron aufstellen lassen, den Nadjieh Sultana, die Sultanstochter, in die Ehe brachte. Vier Tragpfeiler von vergoldetem Silber und darüber ein Sternenhimmel aus byzantinischem Brokat." [33]

Es müssen neue Mittel und Wege ersonnen werden, aber wie zur Zeit der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken, kann man sagen, die "päpstlichen Ermahnungen waren bisher zu lau". Die Eu gab es noch nicht, allerdings ist ihre Reaktion heute auch nicht besser als die der Mächte damals. "Wenn die deutsche Botschaft versagt, so könnte der österreichische Markgraf Pallavicini, ein hervorragender Mann, vielleicht mehr Erfolg haben. Er könnte mit Repressalien drohen; die mohammedanischen Bosniaken sind österreichisch-ungarische Staatsbürger. Auch die päpstlichen Ermahnungen waren bisher zu lau. Im nächsten Moment aber nähert sich ihm Enver Pascha mit seinem unvergeßlichen Lächeln. Nein, schüchtern ist nicht das Wort für dieses Knaben- oder Mädchenlächeln des großen Mörders. Wir werden, Herr Lepsius, die Politik unserer Interessen durchführen bis zum Ende. Hindern könnte uns nur eine Macht, die über allen Interessen stünde und nicht in Schweinereien verwickelt wäre. Falls Sie so eine Macht im Diplomatenkalender finden, dürfen Sie noch einmal zu mir ins Ministerium kommen. Lepsius zuckt und ruckt auf der Bank so wild herum, dass seine verschleierten Nachbarinnen Angst bekommen und davongehen. Er bemerkt das gar nicht, denn nun erfüllt ihn die schwere Überzeugung ganz und gar: Es ist nichts mehr zu machen. Es gibt keine Hilfe mehr. Was der Priester Ter Haigasun in Yoghonoluk seit Wochen schon weiß, das überkommt nun auch den Pastor Johannes Lepsius: Es bleibt mir nur mehr eines übrig – zu beten." [34]
 

3.  ("Verschickung"); von Saptiehs und Onbaschis, den Rechnungsunteroffizieren des Transportes; Rettungspläne; Kaimakam; Muafin, der Polizeihauptmann von Antiochia

Nur eines hatten die verborgenen Feldherren ganz und gar vergessen: den Verpflegungsnachschub. "Die ersten Tage wurde wohl noch etwas Brot und Bulgur, gedörrter Weizen, gefasst, aber da war der eigene Proviant noch nicht aufgezehrt. In diesen ersten Tagen hatte auch jeder Erwachsene das Recht, vom Onbaschi, dem Rechnungsunteroffizier des Transportes, die Auszahlung einer gesetzlichen Löhnung von zwölf Para, vierzig Groschen ungefähr, zu verlangen. Doch die meisten hüteten sich wohl, diese Forderung zu stellen, durch die sie sich nur den Hass eines Allmächtigen zugezogen hätten; und dann, für zwölf Para konnte man bei der herrschenden Teuerung im besten Fall einige Orangen oder ein Hühnerei kaufen. Mit jeder Stunde wurden die Gesichter hohler, der millionenfüßige Schritt taumelnder. Bald entrang sich kein anderer Laut mehr dem ziehenden Wesen als Stöhnen, Husten, Wimmern und manchmal ein wüster, krampfhafter Aufschrei. Mit der Zeit fielen immer mehr Glieder dieses Wesens ab, sanken hin, wurden in den Graben gestoßen und verreckten. Dann sausten die Knüppel der Saptiehs auf die Rücken der zögernden Scharen. Wütend waren die Saptiehs. Auch sie mussten ein Hundeleben führen, ehe sie ihre Ausgetriebenen an der Grenze der Kasah dem benachbarten Gendarmeriekommando übergaben. Anfangs wurden noch Standeslisten geführt. Als aber dann die Krankheits- und Todesfälle überhandnahmen, als man immer mehr Halb- und Ganzgestorbene in den Straßengraben werfen musste, vor allem Kinder, da erwies sich die Listenführung als höchst lästig und der Onbaschi ließ die überflüssige Schreiberei bleiben. Ob Sarkis, Astik oder Hapeth, ob Anusch, Wartuhi oder Koren auf freiem Felde verwesten, wer fragte danach? Nicht alle Saptiehs waren reißende Bestien. Es ist sogar anzunehmen, dass die Mehrzahl aus durchschnittlich guten Menschen bestand. Doch was soll er tun, der Saptieh? Er hat den scharfen Befehl, mit der ganzen Herde zu dieser und dieser Stunde dort und dort gestellt zu sein. Sein Herz begreift die brüllende Mutter ganz gut, die ihr Kind aus dem Graben reißen will, die sich auf die Straße hinwirft und in die Erde krallt. Kein Zureden hilft. Es dauert schon Minuten und die Station ist noch zwölf Kilometer entfernt. Der Zug stockt. Alle Gesichter verzerren sich. Aus tausend Mündern bricht ein Wahnsinnsgeschrei. Warum wirft sich diese Menge, so entkräftet sie auch ist, nicht auf den Saptieh und seine Kameraden, entwaffnet sie und zerreißt sie in der Luft? Vielleicht fürchten die Gendarmen einen solchen Wutausbruch, der ihr Ende wäre. Da gibt einer von ihnen einen Schuss ab. Die andern ziehen den Säbel und schlagen mit den scharfen Klingen auf die Wehrlosen ein. Dreißig, vierzig Männer und Frauen wälzen sich in ihrem Blut. Von diesem Blut aber kommt ein anderer Rausch über die erregten Saptiehs, die alte Gier nach den Weibern." [35]

Hilfe von Franzosen und Engländern war vorerst nicht zu erwarten: »Früher, zu meiner Zeit, konnte man hier an schönen Tagen bis nach Zypern sehn.« Keiner lachte über diese Redewendung und fragte, ob etwa die Insel Zypern dort im Südwesten, seitdem die Engländer sie zu ihrem Flottenstützpunkt gemacht hatten, weiter ins Mittelmeer hinausgeschwommen sei. Auch Gabriel Bagradian sann nach Zypern hinüber: »Das Kap Andreas liegt keine vierzig Seemeilen weit von der Orontesmündung. Und doch ist, seitdem ich hier bin, noch kein einziges englisches oder französisches Kriegsschiff von der Küste gesehen worden.« »Immerhin, sie sitzen in Zypern.« »Ich habe alle Hoffnung der Welt« – er maß mit Stephans Zirkel Entfernungen nach –, »die türkischen Soldaten kenne ich. Die besten Leute sind an den Fronten. Was sich aber an Landwehr, Saptiehs und Irregulären in den Kasernen von Antiochia herumtreibt, das ist Lumpenpack und nur zu ungefährlichen Verbrechen verwendbar.« Die hohe, etwas zurückweichende Stirn Samuel Awakians, der sich plötzlich in fremdartiges Kriegshandwerk versetzt sah, wurde im Gegensatz zu Gabriels Gesichtsfarbe käseblaß: »Es kommen bei uns bestenfalls tausend Männer in Betracht. Wie es mit Gewehren und Munition steht, weiß ich nicht. In jedem türkischen Nest liegt Militär, nicht nur in Antakje, sondern überall ...« »Wir sind ein Volk von fünfeinhalbtausend Menschen«, fuhr ihm Bagradian in die Rede, »wir haben kein Erbarmen zu erwarten, sondern nur den langsamen Tod. Der Musa Dagh aber läßt sich nicht so leicht einschließen.« Awakian glotzte betäubt aus dem Fenster: »Werden aber diese fünftausend dasselbe wollen wie Sie, Effendi?« [36]

»Wenn sie es nicht wollen, so verdienen sie den gemeinen Tod im mesopotamischen Dreck ... Ich aber will gar nicht leben, ich will gar nicht gerettet werden! Ich will kämpfen! Ich will so viele Türken töten, als wir Patronen haben. Und wenn es sein muss, bleib ich allein auf dem Damlajik. Unter den Deserteuren!« Es war nicht eigentlich Hass, sondern ein heiliger und zugleich lustiger Zorn, der aus Bagradians Augen flammte. Es schien, als freue er sich, allein gegen die Millionenarmeen Enver Paschas zu stehn. Wie Wahnsinn hob es ihn vom Sitz und trieb ihn durchs Zimmer: »Ich will nicht leben, sondern einen Wert haben!« Der zusammengesunkene Awakian gab noch immer nicht nach: »Gut! Wir werden uns eine Zeitlang verteidigen. Und dann ...?« Gabriel brach seine leidenschaftliche Wanderung ab und setzte sich ruhig wieder an seine Arbeit: »Und dann werden wir binnen vierundzwanzig Stunden noch unzählige Probleme zu lösen haben. Wo kommt die Fleischbank hin, wo das Munitionsdepot, wo das Lazarett? Was für eine Art von Unterkünften soll errichtet werden? Quellen gibt es genug. Wie aber wird die Wasserversorgung am besten gehandhabt? Hier sind einige Zettel, auf denen ich eine Dienstordnung für die Waffenmannschaft schon entworfen habe. Machen Sie eine Reinschrift davon, Awakian! Wir werden sie brauchen. Ordnen Sie überhaupt all diese Notizen hier. Ich glaube nicht, dass ich viel vergessen habe. Vorläufig ist alles noch Theorie; doch ich bin überzeugt, dass sich der größere Teil verwirklichen lässt. Wir Armenier bilden uns doch immer so viel auf unsere geistige Überlegenheit ein. Damit haben wir sie aufs Blut erbittert. Nun aber wollen wir wirklich beweisen, wie sehr wir überlegen sind!« Lange vor der angesetzten Zeit sickerten die letzten Trupps durch das Sieb. Dann wurden die große Einfahrt und die beiden Gartentüren verrammelt. Das Volk drängte sich auf dem großen Freiplatz vor der Villa zusammen. "Etwa dreitausend Menschen. Am linken Flügel des Hauses dehnte sich der geräumige Wirtschaftshof, der aber auf Wunsch Ter Haigasuns durch ein paar zusammengeknüpfte Wäscheschnüre abgegrenzt und freigehalten wurde. Auf der gehobenen Rampe des Hauses hatten sich die Notabeln zusammengefunden. Die kleine Treppe, die emporführte, bot eine hinreichende Rednerkanzel. Der Gemeindeschreiber von Yoghonoluk hatte am Fuß dieser Treppe sein Tischchen aufgestellt, um die wichtigsten Beschlüsse aufzuzeichnen. Gabriel Bagradian blieb so lange wie möglich in seinem Zimmer, dessen Fenster ja der Menge abgekehrt waren. Er wollte die innere Fülle, die ihn beherrschte, nicht vorzeitig durch unverbindliches Gerede verzetteln. Er trat erst aus dem Hause, als schon Ter Haigasun nach ihm gesandt hatte. Fahle, niedergebrannte Gesichter vor ihm, nicht dreitausend, sondern ein einziges. Das hoffnungslose Gesicht der Austreibung, hier wie an hundert anderen Orten zu dieser Stunde. Die Masse stand, ohne dass es nötig war, so qualvoll zusammengepresst, dass sie kleiner wirkte, als es ihrer Zahl entsprach. Nur weit dahinten, wo alte Bäume die Freiung abschnitten, hockten, lagen, lehnten einige, von der Menge abgelöst, als gehe sie ihr eigenes Leben nichts mehr an." [37]

Die Absicht der Regierung müsse genau erkannt werden. "Unter den älteren Menschen hier gebe es wohl keinen, der nicht die Metzeleien der früheren Zeit verspürt habe, wenn nicht am eigenen Leib, so doch in dem Todesleiden von Anverwandten drüben in Anatolien. Dabei habe Christus mit unverdienter Huld über dem Musa Dagh gewacht. Gesegnete Jahre lang sei Frieden in den Dörfern gewesen, während zu gleicher Zeit die Volksgenossen in Adana und anderswo zu Zehntausenden abgeschlachtet wurden. Man müsse aber genau unterscheiden zwischen Massaker und Austreibung. Ersteres daure vier, fünf, schlimmstens sieben Tage. Der Tapfere finde immer Gelegenheit, sein Leben teuer zu verkaufen. Schlupfwinkel für Frauen und Kinder seien rasch vorbereitet, der Blutdurst des rasenden Militärs verrauche bald, selbst den tierischesten Saptieh ergreife nachher Ekel. Die Regierung habe diese Metzeleien zwar immer selbst veranstaltet, sich aber nie zu ihnen bekannt. Sie entstanden aus der Unordnung und gingen in der Unordnung unter. Die Unordnung sei aber noch der beste Teil dieser Schurkereien gewesen und das ärgste Schicksal der Tod. Nicht so die Austreibung! Hierbei könne sich noch derjenige beglückwünschen, der durch den Tod, auch den grausamsten, von ihr erlöst werde. Die Austreibung gehe nicht vorüber wie ein Erdbeben das immer noch einen Teil der Menschen und Häuser verschont. Die Austreibung werde so lange dauern, bis der Letzte des Volkes durch das Schwert getötet, auf der Landstraße verhungert, in der Wüste verdurstet, von Cholera und Flecktyphus hinweggerafft sei. Diesmal herrsche nicht regellose Willkür und aufgepeitschter Blutrausch, sondern etwas weit Entsetzlicheres – Ordnung. Alles verlaufe nach einem in den Ministerien von Stambul ausgearbeiteten Plan. Er, Ter Haigasun, wisse von diesem Plan seit Monaten, lange noch, bevor das Zeitun-Unglück ausbrach. Er wisse auch, dass alle Anstrengungen des Katholikos, des Patriarchen und der Bischöfe, die Bitten und Drohungen der Botschafter und Konsuln nichts gefruchtet hätten. Das einzige, was er, als armer kleiner Priester, habe tun können, war schweigen, unter Wissensqualen schweigen, damit die letzte gute Lebenszeit seiner armen Pfarrkinder nicht zerstört werde. Diese Zeit sei endgültig zu Ende. Nun müsse man der Wahrheit ohne Selbstbetrug ins Auge sehn. Niemand möge bei der Aussprache mit törichten Vorschlägen kommen, an die Behörden Bittgesandtschaften abzuschicken und dergleichen. Unsinnige Zeitvergeudung wäre das: »Menschliche Gnade gibt es nicht mehr. Christus, der Gekreuzigte, fordert die Nachfolge seines Leidens. Es bleibt für uns gar nichts anderes übrig, als zu sterben ...« Hier schaltete Ter Haigasun eine kaum merkliche Pause ein, ehe er mit verändertem Ausdruck schloß: »Es fragt sich nur, wie!«  »Wie sterben?? ...«, schrie Pastor Aram Tomasian und schnellte neben Ter Haigasun vor, »ich weiß, wie ich sterben werde. Nicht wie ein wehrloser Hammel, nicht auf der Landstraße nach Deïr es Zor, nicht im Kot der Deportationslager, nicht am Hunger und nicht an der stinkenden Seuche, nein, auf der Schwelle meines Hauses werde ich sterben, mit der Waffe in der Hand, dazu wird mir Christus helfen, dessen Wort auch ich künde. Und mit mir soll mein Weib sterben und das Ungeborene in ihr! ...« Dieser Ausbruch hatte Arams Brust fast zersprengt. Er presste die Hand aufs Zwerchfell, um seinen Atem zu sammeln. Ruhiger geworden, hob er nun an, das Schicksal der Ausgetriebenen zu beschreiben, wie er es selbst, wenn auch nur zum geringsten Teil und in mildester Form, erlebt hatte: »Was das ist, weiß niemand vorher, niemand kann es ausdenken. Man weiß es erst im letzten Augenblick, wenn der Offizier den Abmarsch befiehlt, wenn die Kirche und die Häuser, nach denen man sich umsieht, kleiner und kleiner werden, bis sie verschwinden ...« Aram beschrieb den unendlichen Weg, von Etappe zu Etappe, das Wundwerden der Füße, das Aufschwellen des Körpers, das Zusammenbrechen, das Liegenbleiben, das Sichweiterschleppen, das allmähliche Vertieren, das wochenlange Verrecken unter täglichen Knutenhieben. Seine Sätze fielen selbst wie breite Knutenhiebe auf die Menge. Doch sonderbar! Noch immer entrang sich den gefolterten Seelen der Tausende kein Aufschrei, kein Wahnsinnsanfall. Noch immer starrten sie auf das Menschenhäuflein dort oben vor dem Haustor wie auf tragische Possenreißer, die ihnen etwas vormachten, was sie nichts anging. Diese Weinbauern, Obstgärtner, Holzschnitzer, Kammacher, Imker, Raupenzüchter, Seidenweber, die dem Nahenden so lange entgegengewartet hatten, sie konnten es nun, da es gekommen war, mit dem Verstande nicht fassen. Die verfallenen Gesichter zeigten immer angestrengtere Züge. Die Lebenskraft mühte sich ab, die kranke Verpuppung der letzten Zeit zu durchstoßen. Aram Tomasian rief: »Selig sind die Toten, die alles schon hinter sich haben.« Hier ging das erstemal ein unbeschreiblicher Wehelaut durch die Menge. Kein Aufheulen, sondern ein langes singendes Stöhnen, ein hinschwellender Seufzer, als seufze nicht der Mensch, sondern die leidende Erde selbst auf. Arams Wort schwang scharf über dem Wehelaut: »Auch wir wollen den Tod so schnell wie möglich hinter uns haben! Deshalb werden wir unsre Heimstätten verteidigen, damit wir alle, Männer, Frauen, Kinder, einen raschen Tod finden!« [38]

»Warum Tod?« Die Stimme kam aus Gabriel Bagradians Mund. Ein Licht tief in ihm fragte, während er sich hörte: Bin ich das? Sein Herz ging ruhig! Die beklommene Anwandlung war vorüber, für immer. "Große Sicherheit stieg in ihm auf. Die Muskeln waren entspannt. Mit all seinem Wesen wusste er: Für diese Minute jetzt lohnt es sich, gelebt zu haben. Immer, sooft er mit den Leuten der Dörfer gesprochen hatte, erschien ihm sein armenisches Wort gekünstelt und gequält. Nun aber sprach nicht er – und dies gab die große Ruhe –, sondern die Macht, die ihn hierhergeführt hat auf den langen Umwegen der Jahrhunderte und auf dem kurzen Umweg seines eigenen Lebens. Er lauschte mit Verwunderung dieser Kraft, die aus ihm so natürlich ihre Worte holte: »Ich habe nicht unter euch gelebt, meine Brüder und Schwestern ... Es ist wahr ... Ganz entfremdet war ich der Heimat und wusste nichts mehr von euch ... Da hat mich aber, wohl um dieser Stunde willen, Gott aus den großen Städten des Westens hierhergeschickt in das alte Haus meines Großvaters ... Und jetzt bin ich nicht mehr ein Halbfremder und Gast unter euch, denn ich werde dasselbe Schicksal haben wie ihr ... Mit euch werde ich leben oder sterben ... Die Behörde wird mich weniger verschonen als irgendeinen anderen, ich weiß es ... Meinesgleichen hasst und verfolgt sie mit größter Rachsucht ... Wie ihr alle bin ich gezwungen, das Leben meiner Angehörigen zu verteidigen ... Deshalb habe ich schon seit mehreren Wochen alle Möglichkeiten, die uns bleiben, genau durchforscht ... Seht her, der ich anfangs mutlos war, nun bin ich es nicht mehr ... Voll von Hoffnung bin ich ... Wenn uns Gott hilft, werden wir nicht sterben ... Ich spreche nicht als leichtsinniger Narr zu euch, sondern als ein Mann, der den Krieg erlebt hat, als Offizier ...« Immer klarer bildete sich Wort um Wort. Die leidenschaftliche Arbeit der letzten Tage kam ihm zugute. Die Fülle wohlüberlegter Einzelfragen gab ihm immer mehr innere Festigkeit. Die Überlegenheit systematischen Denkens, wie er es in Europa gelernt hatte, hob ihn hoch über die dumpfen und ergebenen Häftlinge des Verhängnisses. Ein ähnlich spielerisches Machtgefühl hatte ihn in seiner Jugend beherrscht, wenn er bei Prüfungen auf eine Frage mit erschöpfendem Wissen zu antworten verstand, gleichsam wählerisch in diesem Wissen grabend. Er ging auf Arams verzweifelte Rede ein, ohne sie zu erwähnen: Den Saptiehs auf den Straßen und in den Häusern der Dörfer Trotz zu bieten, sei ein unsinniges Beginnen. In den ersten Stunden könne es vielleicht zu einem überraschenden Erfolg führen, desto sicherer aber ende es dann nicht mit einem raschen, sondern mit einem ausgedehnten Martertod, sowie mit der Vergewaltigung und Verschleppung der jungen Frauen. Er, Bagradian, sei ebenfalls für Verteidigung bis zum letzten Blutstropfen. Dafür aber gebe es bessere Plätze als das Tal und die Dörfer. Er wies mit der Hand in die Richtung des Musa Dagh, der sich hinter dem Hause aufbaute und mit seinen Kuppen übers Dach schaute, als nähme er teil an der großen Versammlung. Alle möchten sich der alten Geschichte erinnern, in denen der Damlajik den verfolgten Armeniersöhnen Zuflucht und Schutz geboten habe: »Um den Damlajik wirklich zu belagern und zu erobern, bedarf es einer großen Truppenmacht. Dschemal Pascha braucht seine Truppen gewiss zu einem andern Zweck, als um ein paar tausend Armenier auszuheben. Mit den Saptiehs werden wir aber leicht fertig. Den Berg zu verteidigen, genügen einige hundert entschlossene Männer und ebenso viele Gewehre. Diese Männer und diese Gewehre haben wir.« Er hob seine Hand wie zum Schwur: »Ich verpflichte mich hier vor euch, die Verteidigung so zu führen, dass unsere Frauen und Kinder länger vor dem Tode bewahrt bleiben als in der Verschickung. Wir können uns mehrere Wochen, ja Monate halten. Wer weiß, vielleicht gibt es Gott bis dahin, dass der Krieg zu Ende ist. Dann werden wohl auch wir erlöst sein. Wenn der Friede aber nicht kommt, so haben wir doch noch immer das Meer im Rücken. Zypern mit seinen englischen und französischen Kriegsschiffen ist nahe. Dürfen wir denn nicht hoffen, dass eines dieser Schiffe einmal an der Küste vorüberfährt und von unseren Hilferufen und Signalen erreicht wird? Sollte aber keiner dieser Glücksfälle eintreten, sollte Gott unseren Untergang beschlossen haben, so wird es zum Sterben immer noch Zeit genug sein. Und dann werden wir uns nicht selbst verachten müssen als wehrlose Hammel!« Die Wirkung dieser Rede war durchaus nicht klar. Es schien, als erwache die Menge jetzt zum erstenmal aus ihrer Lähmung zum vollen Bewußtsein des Schicksals. Gabriel glaubte anfangs, er sei entweder nicht verstanden worden, oder das Volk verwerfe seinen Plan mit Wutgeheul. Der feste Körper der Masse fuhr auseinander. Frauen kreischten. Heisere Männerflüche hämmerten gegeneinander. Ein wogendes Hin und Her. Wo waren die gottergebenen, gramverrunzelten Bauerngesichter, wo der Schleier der Totenstille über ihnen? Ein wüster Streit schien anzuheben. Die Männer fuhren gegeneinander los, sie schrien und zerrten sich an den Gewändern, ja an den Bärten. Doch dies war weniger ein Meinungsstreit als eine tolle Entladung, eine Zersprengung des ohnmächtigen Todeswissens, die das erste Wort der Zuversicht und Energie ausgelöst hatte. Wie? Unter all diesen Tausenden, die jetzt in ihrer entfesselten Verzweiflung durcheinanderschrien, gab es keinen, der denselben, so einfachen Gedanken in der langen Wartefrist gefasst hatte? Einen Gedanken, der durch alte Überlieferungen so nahe lag? musste erst ein Fremder, ein Herr aus Europa kommen, um ihn auszusprechen? Nun, denselben Gedanken hatte unter diesen Tausenden so mancher gefasst, doch nur wie eine untaugliche Träumerei. Auch in der heimlichsten Zwiesprache war er über keine Lippe gedrungen. Bis vor wenigen Stunden noch hatten sie sich in ihrer künstlichen Schlaftrunkenheit vorgefabelt, das große Schicksal werde gerade am Musa Dagh mit eingezogenen Krallen vorüberschleichen. Und dann, wer waren sie? Arme, verlassene Dörfler, ein ausgesetzter Stamm auf bedrängter Insel, ohne eine Stadt im Rücken. In Antiochia gab es nicht eben viele Armenier, und das waren Geldwechsler, Bazarhändler, Getreidespekulanten, demnach nicht die rechten Empörer und Kampfhelfer. In Alexandrette wiederum lebte nur eine kleine Schar von ganz Reichen, von Bankiers und Kriegslieferanten in prunkvollen Villen, ähnlich wie in Beirût. Diese angstgepeitschten Geldmagnaten dachten gar nicht an das kleine Bergvolk des Musa Dagh. Unter ihnen befand sich kein Mann vom Wuchse Awetis Bagradians, des Alten. Sie schlossen die Fensterläden ihrer Villen und verkrochen sich in die finstersten Winkel. Zwei oder drei waren, um Leben und Vermögen zu retten, zum Islam übergetreten und hatten sich dem stumpfen Beschneidungsmesser des Mollah dargeboten. Oh, die Leute oben, dort weit im Nordosten, die Bürger von Wan und Urfa, die hatten es leicht. Wan und Urfa, das waren große armenische Städte, voll von Waffen und uraltem Trotz. Köpfe gab es da, die Abgeordneten der Daschnakzagans. Sie konnten das Volk führen. Dort war es leicht, an Widerstand zu denken und ihn zu organisieren. Wer aber durfte in dem armseligen Yoghonoluk so frevelhaft denken? Widerstand gegen die Staats- und Militärgewalt? Jeder, der hier geboren war und lebte, trug für diesen Staat, den alten Erbfeind, eine mit Grauen vermischte Ehrfurcht im Blut. Staat, das war der Saptieh, der einen ohne Grund schlagen und in Haft nehmen durfte, Staat, das war der Steuerbeamte und -pächter, der in die Häuser einbrach und raubte, was ihm geeignet schien, Staat, das war die schmutzige Kanzlei mit dem Sultanbild, den Koransprüchen und dem vollgespuckten Estrich, wo man Bedel entrichtete, Staat, das war die Kaserne mit dem öden Hof, wo man als Soldat dienen musste, wo der Tschausch oder Onbaschi Faustschläge austeilte und für den Armeniersohn eine eigene Bastonnade vorrätig war. Und trotz alledem: das hündische Gefühl der Angst und Ergebenheit gegen diesen wohlwollenden Staat wurde auch der Armeniersohn nicht los. So war es denn mehr als verständlich, dass, abgesehen von Pastor Tomasians kopflosem Ausbruch, kein Einheimischer, sondern ein Fremder, ein Freigelassener, den ersten planvollen Gedanken der Selbstverteidigung unter die Menge warf. Denn nur dieser Freigelassene besaß die nötige Unschuld, den Gedanken auch auszusprechen. Das Volk aber hatte sich damit noch lange nicht abgefunden. Der Streit schien zu wachsen, das Kreischen und das Fäustegeschüttel, das diesen sonst so scheuen Frauen und ernsten Männern gar nicht anstand. Es lässt sich leicht vorstellen, dass die kleinen Kinder, welche die Mütter im Arm oder auf dem Rücken trugen, das allgemeine Tosen durch ihr Gezeter noch verschärften. Ohne Zweifel erkannten auch die Kinderseelen in diesem Augenblick die Gefahr und wehrten sich mit schrillen Wiehertönen gegen den nahenden Tod. Gabriel sah schweigend auf den Trubel hinab. Ter Haigasun trat zu ihm. Mit den Fingerspitzen seiner beiden Hände rührte er Bagradians Schultern an. Es war der Keim, der entschlossene Versuch einer Umarmung. Eine Gebärde des Segnens und der Selbstüberwindung zugleich. Auf dem Grund seiner demütigen und harten Augen stand vielleicht zu lesen: So haben wir es miteinander ohne ein Wort vereinbart. Ich habe das von dir erwartet. Gabriel hatte, sooft er mit Ter Haigasun zusammentraf, die Empfindung gehabt, dass sich dieser vor ihm verschließe, ja dass er ihn sogar aus einem unbekannten Grunde abweise. Deshalb machte ihn die versuchte Umarmung des Priesters jetzt betroffen und regungslos. Ter Haigasuns leidensschmale Finger glitten von seinen Schultern ab." [39]

»Ich bin eine Frau« – die gesättigte Stimme ertrotzte sich mit ihrem ersten Laut völlige Ruhe –, »ich bin eine Frau und spreche für alle Frauen hier! Viel habe ich erlitten! Mein Herz ist oft und oft gestorben. Der Tod ist mir längst gleichgültig. Ich werde gar nicht hinschauen, wenn er kommt. Doch in der Erniedrigung will ich nicht zugrunde gehen, auf der Landstraße werde ich nicht krepieren und nicht auf freiem Feld verfaulen, ich nicht! Doch auch nicht leben will ich bleiben in einem der Deportationslager unter den ehrlosen Mördern und den ehrlosen Opfern, ich nicht! Wir Frauen wollen das alle nicht, nein, wir alle nicht!! Und wenn die Männer zu feig sind, so werden wir Weiber allein uns bewaffnen und auf den Musa Dagh ziehen ... Mit Gabriel Bagradian!« Dieser fanatische Aufruf erregte einen Tumult, der den vorherigen weit übertraf. Es hatte den Anschein, als ob die Sinnberaubten im nächsten Augenblick die Messer ziehen und so dem Blutbad durch die Türken zuvorkommen würden. Schon wollten sich die Lehrer mit Schatakhian an der Spitze unter die Menge werfen, um die Streitenden zu trennen und im Notfall Polizeidienste zu leisten. Mit einem kleinen Wink rief sie Ter Haigasun zurück. Besser als alle Lehrer und Muchtars kannte er sein Volk. Dieser Ausbruch war kein Streit. Leere Erregung. Das Bewusstsein der Tausende, das mit dem Austreibungsbefehl noch nicht fertig geworden war, musste jetzt die schallenden Worte der Redner langsam aufsaugen. Ein Blick des Priesters sagte: Lasst sie nur. Geduldig sah er dem Tumult zu, in dem die Frauenstimmen, durch Antaram aufgestachelt, immer mehr die Oberhand gewannen. Er verhinderte es auch, dass andre Redner, die sich meldeten, wie zum Beispiel Oskanian, der Lehrer, das Wort nahmen. Er hatte recht damit. Der Lärm, dem keine Nahrung mehr zugeworfen wurde, brach schneller zusammen, als man hätte meinen sollen. Nach einigen Minuten war er in sich selbst erstickt und nur Murren und Schluchzen blieb übrig. Jetzt war der Augenblick für Ter Haigasun gekommen, um mit schlagfertiger Knappheit eine rasche Klärung und Entwicklung der Dinge herbeizuführen. Knapp nach Mitternacht kam es zu einer jähen Unterbrechung der Beratung. Wie es in solchen Fällen öfter geschieht, hatte man an die Bergung dessen, wovon die ganze Zukunft abhing, nicht gedacht. Noch lagen die fünfzig Mauser- und die zweihundertfünfzig Karagewehre in ihren Gräbern auf dem Friedhof bestattet. Sie mussten ohne Verzug exhumiert und mitsamt der Munition noch im Laufe der Nacht auf den Damlajik geschafft werden. Wenn Gabriel den Versicherungen Ali Nassifs auch nicht misstraute, so war doch immerhin die Möglichkeit vorhanden, dass bereits in den nächsten vierundzwanzig Stunden durch neu einlangende Saptiehs eine überfallartige Waffendurchsuchung der Dörfer vorgenommen würde. In großer Eile begab sich eine Abordnung von sechs Männern nach dem Kirchhof von Yoghonoluk, der außerhalb des Ortes auf dem Wege nach Habibli-Holzdorf lag. Der Kirchendiener ging mit der Laterne voraus, Ter Haigasun folgte mit Tschausch Nurhan und dem Dorfpriester von Habibli. Die beiden Totengräber beschlossen den Aufzug. Die Gewehre waren, dank Nurhans, des Waffenmeisters, Fürsorge, in ausgemauerten Grabstellen zur Ruhe gelegt. Sie harrten in luftdicht abgeschlossenen Särgen, in Stroh gebettet, mit Lappen umwickelt, ihrer mutigen Auferstehung. Tschausch Nurhan hatte sie erst vor vier Wochen nächtlicherweile bei Fackelschein einer summarischen Besichtigung unterzogen und in bester Ordnung gefunden. Kaum einer der Verschlüsse war von Rost versehrt. Auch die Munition hatte nicht im mindesten gelitten. In der heutigen Nacht wurden die schweren Kisten, fünfzehn an der Zahl, ihren Gräbern für immer entrissen. Es war eine saure Arbeit. Da nur wenige Arme zur Verfügung waren, legte auch Ter Haigasun, der seine Kutte abgeworfen hatte, kräftig mit Hand an. Später wurden ein paar von den starken zottigen Eseln des Landes aus den Dörfern geholt, bis schließlich gegen Morgen unter Tschausch Nurhans Führung eine geheimnisvolle Karawane durch die toten Ortschaften Azir und Bitias sich auf den Bergpaß im Norden hinbewegte. Eine Stunde vor Sonnenaufgang erst kehrte Ter Haigasun in den Selamlik der Villa Bagradian zurück. Der Garten sah aus wie ein großes Schlachtfeld, übersät mit hingestreckten Körpern. Nicht einmal die Leute von Yoghonoluk waren nach Hause gegangen. Wie ein Feldherr durch die Reihen der Toten schreitet, so musste Ter Haigasun über die regungslosen Schläfer steigen. Die Männer der einzelnen Ausschüsse hatten, durch Bagradians Energie ständig vorwärtsgehetzt, entsprechende Arbeit geleistet. In groben Umrissen standen die Kampf- und Lebensbedingungen fest. Schon waren die Namen der Kriegsmannschaften ausgeschrieben, die Mengen und Sorten der verfügbaren Nahrungsmittel annähernd berechnet. Ferner hatte man den Bau einer Laubhüttenstadt, die Errichtung eines Lazarettschuppens und einer größeren Regierungsbaracke vorgesehen. Nach Ter Haigasuns Rückkehr trat der große Rat noch einmal zusammen. Gabriel legte dem Volksoberhaupt die gefassten Beschlüsse in kurzen Worten vor. Es war ihm gelungen, fast alle seine Ideen mit der tatkräftigen Unterstützung Aram Tomasians durchzusetzen. Ter Haigasun bestätigte sie mit halbgeschlossenen Augen und abwesenden Zügen, als glaube er nicht daran, dass sich das neue Leben in Beschlüsse fangen lasse. Die Kerzen und die Menschen waren schon tief herabgebrannt. Und doch zeigten ihre Augen noch immer mehr Erregung als Ermüdung. Als der göttliche Tag aufzublinzeln begann, verfiel alles in ein tiefes Schweigen. Die Männer sahen zu den Fenstern hinaus, in das zarte Licht, in die Morgenknospe, die sich Blatt um Blatt sichtbar entfaltete. Sonderbar erweitert funkelten die Pupillen. In dem übernächtigen Zimmer war kein anderer Laut zu hören als das Bleistiftgekritzel Awakians und des Gemeindeschreibers, die über die wichtigsten Entschließungen ein Protokoll aufgenommen hatten. Als schon das volle Sonnengold im Zimmer lag, machte der Hausherr der stummen Träumerei ein Ende: »Ich glaube, wir haben in dieser Nacht unsre Pflicht getan und nichts ist vergessen worden ...« »Nein! Eines ist vergessen worden, und zwar das Notwendigste!« Ter Haigasun blieb bei diesen Worten sitzen; der volle Klang seiner Stimme rief diejenigen zurück, die sich schon erhoben hatten. Der Priester schlug einen großen Blick auf. Jede Silbe betonte er: »Der Altar!« Dann fügte er mit gleichmütiger Sachlichkeit hinzu, dass in der Mitte der neuen Ansiedlung ein großer Altar aus Holz zu errichten sei, als heilige Stätte der Gottesdienste und Gebete.  [40]

Noch vor den Vertreibungen der Christen zwischen 1915 und 1917 gab es die "klassischen Metzeleien Abdul Hamids" bzw. "Seiner Majestät des Sultans Hamidijehs", wie der Räuberhauptmann auch genannt wurde. "Sarkis Kilikian war in Dört Yol, einem großen Dorfe in der Issusebene nördlich von Alexandrette, geboren. Ehe er noch sein elftes Lebensjahr vollendet hatte, brachen in Anatolien und Zilizien die klassischen Metzeleien Abdul Hamids aus, und zwar wie ein wolkenloses Gewitter von einem Augenblick zum andern. Kilikians Vater war Uhrmacher und Goldschmied, ein kleiner, stiller Mann, der in seinen Verhältnissen auf feine Lebensart und gute Erziehung der fünf Kinder viel Wert legte. Da er ein hübsches Vermögen besaß, sollte Sarkis, der Älteste, an eines der Priesterseminare gesandt werden, um zu studieren. An jenem schwarzen Tage von Dört Yol sperrte Uhrmacher Kilikian seinen Laden schon um die Mittagsstunde. Dies aber half ihm nichts, denn kaum hatte er sich in seine Wohnung zur Mahlzeit begeben, war die wüste Kundschaft schon da und begehrte Einlass. Frau Kilikian, eine große, blonde Armenierin aus dem Kaukasus, hatte das Essen bereits aufgetragen, als sich der kreidebleiche Mann erhob, um die Ladentür wieder zu öffnen. Der Uhrmacher beruhigte seine Frau mit den Worten, es sei am besten, den Laden der Plünderung zu überlassen, um das eigene Leben zu retten. Die Ewigkeiten der nächsten Minuten wird Sarkis Kilikian bewahren müssen, solange eine geschaffene Seele im Universum durch alle Wandlungen und Wanderungen hindurch sie selbst bleiben muss. Er lief dem Vater in die Werkstatt nach, die sich indessen mit einem Haufen von Männern gefüllt hatte. Ein malerischer Sturmtrupp von Seiner Majestät des Sultans Hamidijehs. Der Führer dieses Sturmtrupps war ein junger Mann mit einem rosig wohlgenährten Gesicht, der Sohn eines kleinen Beamten. Das Auffälligste an diesem dicklichen Türkenjüngling waren die vielen sonderbaren Abzeichen und Medaillen, mit denen sein Rock übersät war. Während zwei ernste, sachliche Kurden sogleich ans Werk gingen und den Inhalt der Schubladen vorsichtig in ihre Schnappsäcke leerten, schien der kühn ausstaffierte Beamtensohn seine Sendung rein politisch aufzufassen. Das tölpelhafte Milchgesicht glühte vor Überzeugung, als er den Uhrmacher anbrüllte: »Du bist ein Wucherer und Blutsauger! Alle Armenierschweine sind Wucherer und Blutsauger! Ihr unreinen Giaurs seid am Elend unseres Volkes schuld.« Meister Kilikian wies ruhig auf seinen Arbeitstisch mit der Lupe, den Pinzetten, Rädchen und Federn: »Warum nennst du mich einen Wucherer?« – »Das hier ist alles nur Lüge, hinter der du deinen Wucher versteckst.« Das Gespräch konnte nicht beendet werden, da in dem engen niederen Raum ein paar Schüsse krachten. Der kleine Sarkis roch zum erstenmal den betäubenden Pulverrauch. Er verstand anfangs gar nicht, was geschehen war, als sich sein Vater über das Tischchen wie zur Arbeit beugte, es aber sogleich mit sich zu Boden riss. Ohne einen Laut flitzte Sarkis ins Familienzimmer zurück. An der Wand wartete hoch aufgerichtet die blonde Mutter, ohne zu atmen. Ihre Hände umkrampften rechts und links das zweijährige und das vierjährige Mädchen. Ihre Augen hielten den Korb mit dem Säugling fest. Der siebenjährige Mesrop starrte verlangend nach dem herrlichen Hammelkebab, das auf dem Tische noch immer friedlich dampfte. Als aber die Bewaffneten in den Raum drangen, hatte Sarkis die Schüssel mit dem Hammelkebab schon gepackt und schleuderte sie dem Führer mit einem verzweifelten Schwung mitten ins dicke, rosige Gesicht. Aufschreiend duckte sich der tapfere Beamtenjüngling, als sei er von einer Granate getroffen. Der braune Saft der Speise rann ihm über den prächtigen Rock. Dem ersten Wurfgeschoß folgte der große Wasserkrug aus Ton, der schon eine bessere Wirkung erzielte. Der Truppführer blutete aus der Nase, trieb aber mit wehleidigem Gebrüll seine Mannschaft vor. Der kleine Sarkis stellte sich, mit dem Fleischmesser bewaffnet, schützend vor seine Mutter. Diese armselige Waffe in Händen eines Elfjährigen genügte, dass die unüberwindlichen Hamidijehs es auf einen Nahkampf nicht ankommen ließen, obgleich die Frau noch jung und hübsch war. Einer von ihnen warf sich mit einem feigen Schwung auf den Wiegenkorb, riß die quäkende Kreatur aus den Decken und zerschmetterte den Schädel des Kindchens an der Wand. Sarkis presste sich dicht an den erstarrenden Leib der Mutter. Zwischen ihren festgeschlossenen Lippen wimmerte es sonderbar hervor. Und dann begann das donnernde Gekrache und Geknatter auf eine Frau und vier Kinder, ein Feuer, das genügt hätte, ein Regiment in die Flucht zu schlagen. Das Zimmer war von Qualm erfüllt, und die Bestien schossen schlecht. Es war wie eine abgekartete Teufelei des Schicksals, dass Sarkis von keiner einzigen Kugel getroffen wurde. Als erster starb der siebenjährige Mesrop. Die Leichen der beiden kleinen Mädchen hingen schlaff an den Händen der Mutter, die sie nicht losließ. Ihre große volle Gestalt stand straff und unbewegt. Ein Schuss traf sie in den rechten Arm. Sarkis fühlte mit seinem Rücken den kurzen Schlag, der sie durchzuckte. Zwei andre Schüsse zerschmetterten ihr die Schulter. Sie stand regungslos und ihre Hand ließ das Kind noch immer nicht. Erst als zwei weitere Kugeln ihr das halbe Gesicht wegrissen, schwankte sie vor, neigte sich über Sarkis, der sie festhalten wollte, überströmte sein Haar mit ihrem mütterlichen Blut und begrub ihn unter ihrem Leib. Still lag er unter der warmen, schweratmenden Last der Mutter und rührte sich nicht. Nur noch vier Schüsse klatschten in die Wand. Dann hielt der milchgesichtige Jüngling sein Werk für getan: »Die Türkei den Türken«, krähte er, aber niemand sonst fiel in diesen Triumphruf nach errungenem Sieg ein. Während Sarkis so in sicherer Mutterhut lag, waren seine Sinne zu übermäßiger Schärfe verdammt. Er hörte ein Gespräch, das darauf schließen ließ, dass sich der Truppführer in einem Stubenwinkel abscheulich benahm. »Warum tust du das«, tadelte ihn eine Stimme, »es liegen hier Tote.« Der nationale Überzeugungskämpfer aber ließ sich nicht stören und fauchte: »Noch als Tote sollen sie wissen, dass wir die Herren sind und sie nur Gestank.« Lange schon herrschte tiefe Stille, ehe der blutüberströmte Sarkis unter der Mutter hervorzukriechen wagte. Durch diese Bewegung schien Frau Kilikian aus ihrer Bewusstlosigkeit zu erwachen. Sie hatte kein Gesicht mehr. Aber ihre Stimme war die alte und so ruhig: »Hol mir Wasser, mein Kind.« Der Krug war zerbrochen. Sarkis schlich sich mit einem Glas zum Brunnen im Hof. Als er zurückkam, atmete die Mutter noch, doch sie konnte weder trinken mehr noch reden. – Der Knabe wurde zu reichen Verwandten nach Alexandrette gebracht. Nach einem Jahre schien er alles überwunden zu haben, wenn er auch kaum etwas aß und niemand, selbst die gütigen Zieheltern nicht, mehr als die notwendigsten Worte aus ihm herauspumpen konnten. Lehrer Schatakhian war über all diese Dinge genau unterrichtet, weil es dieselben Alexandretter Bürger waren, die ihm den Aufenthalt in der Schweiz ermöglicht hatten. Später wurde Sarkis nach Edschmiadsin in Russland an das größte theologische Seminar des armenischen Volkes gesandt. Den Kandidaten dieser berühmten Hochschule stand der Weg zu den höchsten Würden der gregorianischen Kirche offen. Der geistliche Drill, in den sich die Studenten fügen mussten, war eher mild als hart zu nennen. Und dennoch floh Sarkis Kilikian, in dem sich langsam ein wilder, ja krankhafter Freiheitstrieb entwickelte, noch ehe er sein drittes Schuljahr vollendet hatte. Er stand vor seinem achtzehnten Geburtstag, als er in den schmutzigen Gassen von Baku umherirrte, mit nichts anderem ausgestattet als mit seiner alten Seminarkutte und einem vieltägigen Hunger. Es fiel ihm nicht ein, sich an seine Zieheltern um eine Geldsendung zu wenden. Vom Tage seiner Flucht aus Edschmiadsin an blieb der Schützling für jene braven Leute verschollen. Sarkis Kilikian hatte keine andere Wahl, als Arbeit zu suchen. Er fand auch die einzige Arbeit, die in Baku reichlich angeboten wurde, die Sklavenarbeit auf den weiten Ölfeldern, die sich längs der öden Küste des Kaspischen Meeres erstrecken. Dort wurde schon nach wenigen Monaten durch die Macht des Öls und der Erdgase seine Haut gelb und welk. Seine Gestalt dorrte aus wie ein abgestorbener Baum. In Anbetracht seiner Bildungsstufe und Wesensart kann es nicht wundernehmen, dass er in die sozialrevolutionäre Bewegung geriet, die damals die Arbeiterschaft des russischen Orients zu erobern begann, Georgier, Armenier, Tataren, Tjurken und Perser. Wohl hetzte die Zarenregierung die einzelnen Volksstämme immer wieder gegeneinander, konnte aber die einigende Bewegung gegen die Petroleumherren doch nicht brechen. Von Jahr zu Jahr wurden die Streiks umfassender und erfolgreicher. Bei einem dieser Aufstände kam es durch die Kosaken zu einem furchtbaren Blutvergießen. Als Antwort darauf wurde der Gouverneur des Bezirkes, ein Fürst Galitzin, während einer Spazierfahrt meuchlings ermordet. Unter den Angeklagten, denen Verschwörung und Attentat zur Last gelegt wurden, befand sich auch Sarkis Kilikian. In der Verhandlung konnte man ihm so gut wie nichts nachweisen. Kilikian schien ein sonderbarer Politiker gewesen zu sein. Er hatte weder jemals Reden gehalten noch sich in unterirdischen Organisationen hervorgetan. Keiner wusste etwas Bestimmtes über ihn auszusagen. Doch »entlaufener Priesterzögling«, das war eine Klasse für sich, aus ihr kamen die ganz hartgesottenen Empörer. Dies allein schon genügte. Sarkis wanderte auf Lebensdauer in die Katorga von Baku. In dieser Unrat- und Rattenburg wäre er heillos verwest, hätte die Bestimmung ihre Wohltaten für ihn nicht pfiffiger aufgespart. Der Nachfolger des ermordeten Galitzin war ein Fürst Woronzow. Dem neuen Gouverneur, einem unverheirateten Mann, folgte seine Schwester, auch sie unverheiratet, in das Regierungspalais von Baku. Prinzessin Woronzow trug ihre Altjungfernschaft mit großer Härte gegen sich selbst. Tatkräftig und von bestem Willen erfüllt, eröffnete sie in jedem Amtsbezirk, den ihr Bruder bezog, einen eigenartigen Seelenerlösungsbetrieb. Wer gegen sich selbst hart ist, wird es auch meist gegen andre sein, und so hatte sich die hohe Dame im Laufe der Zeit zu einer ausgesprochenen Sadistin der Nächstenliebe entwickelt. Ihr frommes Augenmerk richtete sie, wohin sie kam, zuerst auf die Gefängnisse. Die großen Dichter der russischen Erde hatten gelehrt, dass der Sündenpfuhl die allernächste Nachbarschaft des Gottesreiches bilde. In den Gefängnissen waren es hauptsächlich die jungen Intellektuellen und Politischen, die ihren Eifer weckten. Mit dieser ausgesuchten Schar wurde nun Sarkis Kilikian allmorgendlich in eine leere Kaserne geführt, wo nach Irene Woronzowas Lehrplan und unter ihrer tätigen Mitwirkung die Erlösungskur auch an ihm versucht wurde. Sie bestand teils aus scharfen Exerzierübungen, teils aus moralischem Unterricht. Die Prinzessin sah in dem jungen Armenier den reizvollen Sohn des Teufels selbst. Diese Seele war des Kampfes wert. Die Dame nahm deshalb Kilikian höchstpersönlich an die Kandare. Nachdem der dürre Teufelskörper durch mehrstündig hartes Exerzieren für die Zügelhilfen des Heiles zugeritten war, wurde die Seele an die Longe genommen. Zu ihrer größten Freude bemerkte Irene Woronzowa sehr bald die unglaublichen Fortschritte, die Kilikian auf dem guten Wege machte. Die Stunden mit diesem wortkargen Luzifer begannen sie selbst zu erleuchten. In der Nacht träumte sie oft das Frage-und-Antwort-Spiel des Unterrichtes weiter. Es war selbstverständlich, dass der gelehrige Schüler belohnt werden musste. Die Prinzessin erwirkte immer mehr Freiheiten für ihn. Mit der Abnahme der Fesseln begann es und endete damit, dass Kilikian, anstatt im Gefängnis, in einem Kämmerchen der leeren Kaserne wohnen durfte. Leider machte er von der guten Freistatt nicht lange Gebrauch. Schon am dritten Morgen nach seiner Übersiedlung war er verschwunden und bereicherte damit die Prinzessin Woronzow um eine bittere Erfahrung im Kriege gegen den Teufel. Wohin kann man aus Russisch-Kaukasien fliehen? Nach Türkisch-Kaukasien! Einen Monat später musste Sarkis bereits erkennen, dass er als Unzurechnungsfähiger gehandelt und ein Paradies mit der Hölle vertauscht hatte. Als der Halbverhungerte sich in Erzerum nach einer Arbeit umsehen wollte, schleppten ihn die Schergen auf die Polizei. Da er sich weder rechtzeitig der Assentierung unterzogen noch auch den vorgeschriebenen Bedel entrichtet hatte, wurde er als Militärflüchtling im Schnellgericht abgeurteilt und erhielt drei Jahre schweren Kerkers. Kaum also war er der russischen Katorga entkommen, als ihn die türkische gastfreundlich aufnahm. In dem Gefängnis von Erzerum legte der unerforschliche Bildhauer der Kreatur die letzte Hand an Sarkis Kilikian. Jene geheimnisvolle Gleichgültigkeit entstand, die Gabriel Bagradian schon an dem nächtlichen Gespenst verspürt hatte, eine Gleichgültigkeit, die mit diesem Wort nur angetastet und nicht erschöpft wird. Erst die Monate, die dem Ausbruch des großen Krieges vorangingen, setzten der Zuchthausstrafe ein Ende. Obgleich ihn der ausmusternde Arzt für mindertauglich erklärte, wurde Kilikian sofort unter die Rekruten eines Erzerumer Infanterieregimentes gesteckt. Das Leben, das er nun führte, glich wenigstens entfernt einem Menschenleben. Dabei zeigte es sich, dass sein äußerlich hinfälliger Körper über unverwüstliche Kraft und Zähigkeit verfügte. Auch schien das Soldatenwesen, trotz aller Gebundenheit, der Natur Sarkis Kilikians noch am ehesten zu entsprechen. Sein Regiment nahm im ersten Kriegswinter an dem denkwürdigen Kaukasus-Feldzug Enver Paschas teil, in dessen Verlaufe der zarte Kriegsgott nicht nur ein ganzes Armeekorps einbüßte, sondern selbst mitsamt seinem Hauptquartier beinahe in russische Gefangenschaft geriet. Die Abteilung, welche die Flucht des Stabes deckte und damit Envers Freiheit und Leben rettete, bestand fast durchwegs aus Armeniern, und ein Armenier war's, der den Generalissimus auf seinem Rücken aus der Linie trug. (Als Schatakhian den Sarkis unter diese Armenier versetzte, warf Gabriel, der eine legendarische Ausschmückung des Lehrers fürchtete, dem alten Tschausch Nurhan einen forschenden Blick zu. Dieser aber nickte mit ernster Gemessenheit.) Ob sich nun Kilikian unter diesen Tapferen geschlagen hatte oder nicht – der Dank Envers an die ganze Nation folgte der Rettung jedenfalls auf dem Fuße. Kaum waren die Erfrierungswunden des Soldaten Sarkis halbwegs geheilt, kaum hatte er sein Lager auf den Steinfliesen des überfüllten Hospitals mit seinem Lager auf den Steinfliesen der überfüllten Kaserne wieder vertauscht, als der Befehl des Kriegsministers verlesen wurde, der alle Armenier aus den Kompanien schmachvoll ausstieß, sie der Waffen beraubte und zu Inschaat Taburi, zu verächtlichen Armierungssoldaten, erniedrigte. Man hetzte sie aus allen Winkeln zusammen, nahm ihnen die Gewehre ab und trieb sie in elenden Rudeln nach Südosten, in die hüglige Gegend von Urfa. Dort mussten sie, hungernd und allstündlich von der Bastonnade bedroht, die Steine zum Bau einer Straße herbeischleppen, die in der Richtung auf Aleppo angelegt wurde. Ein eigener Befehl verbot ihnen, sich durch Tragpolster gegen die kantigen Lasten zu schützen, obgleich schon in den ersten glutheißen Arbeitsstunden ihre Schultern und Nacken blutig gescheuert waren. Während alle anderen stöhnten und jammerten, stapfte Sarkis Kilikian lautlos den Weg vom Steinbruch zum Straßenstück, vom Straßenstück zum Steinbruch, als habe sein Körper längst schon vergessen, was Schmerz sei. Eines Tages ließ der Hauptmann alle Mannschaften der Inschaat Taburi antreten. Unter diesen befanden sich zufalls- oder strafweise auch einige Mohammedaner. Sie wurden aus den Reihen gesondert. Die waffenlose Armenierschar aber marschierte unter Führung von zwei Offizieren ungefähr eine Stunde weit weg von ihren Quartieren, in ein liebliches Tal, das sich zwischen zwei Hügeln verengte. »Das sind die Hügel von Tscharmelik«, sang ein Argloser, der aus dieser Gegend stammte und sich des freien Tages unbändig freute. Doch auf dem sanften Rasen dieses Tals empfing sie nicht nur Thymian und Rosmarin, Orchideen, Pimpernell und Melissen, sondern höchst merkwürdigerweise auch eine kriegsmäßig ausgerüstete Kompanie. Die Armenier ahnten nichts. Als man sie an der Hügellehne ein langes Glied bilden ließ, ahnten sie noch immer nichts. Dann ging ohne alle Umstände und Vorbereitung das Feuer urplötzlich am rechten Flügel los. Schreie durchschnitten die Luft, weniger Schreie der Todesangst als der Ausbruch eines unermesslichen Erstaunens. (Eine Frau, die unter den Zuhörern saß, unterbrach hier den Lehrer Schatakhian: »Kann Gott unter seinen Engeln diese Schreie vergessen?« Dann packte sie selbst ein Weinkrampf, den sie nur mühsam ersticken konnte.) Sarkis Kilikian warf sich geistesgegenwärtig auf die Erde. Die Kugeln zirpten über ihn hinweg. Er entging ein zweites Mal dem türkischen Tod. Unter Leichen und hilflos Verreckenden blieb er liegen, um die Finsternis abzuwarten. Doch lange vor Abend noch bekam die blumige Mordstätte Enverscher Nationalpolitik neuerlichen Besuch. Die Leichenfledderer der Gegend wollten das ärarische Gut, das die »Hingerichteten« an sich trugen, nicht vorzeitig verkommen lassen. Auf die festen Militärstiefel hatten sie es besonders abgesehen. Während ihrer schwierigen Arbeit ächzten sie eines jener Lieder, welche die Austreibung hervorgebracht hatte. Es begann mit dem lautmalenden Vers: »Kessé, kessé sürür jarlara. – Mordend, mordend hetzt man sie.« Auch an Kilikians Stiefel kam die Reihe. Er spannte seine Muskeln zum Zerreißen an, um Leichenstarre zu simulieren. Die Totenräuber zerrten und zogen wütend an seinen Füßen, es fehlte nicht viel und sie hätten sie ihm mit einer Hacke abgeschlagen, um der Stiefel habhaft zu werden. Endlich aber empfahlen sich auch diese herzhaften Kunden, ein neues Lied auf den Lippen: »Hep gitdi, hep bitdi! – Alle fort, alle hin!« In dieser Nacht begann Sarkis Kilikians ungeheuerliche Irrfahrt. Die Tage brachte er in wilden Verstecken zu, die Nächte lief er auf unbekannten Pfaden durch Steppen und Sumpffelder. Er nährte sich von nichts, das heißt von dem, was überall aus der Erde wuchs. Nur selten wagte er sich in ein Dorf, um in tiefer Dunkelheit an eine armenische Tür zu klopfen. Wahrhaftig, nun zeigte es sich, dass Sarkis einen Teufelskörper mit übermenschlichen Kräften besaß. Das lederumspannte Gerippe, das er war, starb nicht am Wege, sondern erreichte in den ersten Apriltagen Dört Yol, die alte Heimat. Ohne der Gefahren zu achten, ging Kilikian auf sein Vaterhaus zu, aus dem ihn vor zwanzig Jahren weinende Menschen hinweggeführt hatten. Das Haus war dem Gewerbe seines Vaters treu geblieben; ein Uhrmacher und Goldschmied bewohnte es. Das wohlbekannte Feilen und Feingehämmer drang aus dem Laden. Sarkis trat ein. Der entsetzte Uhrmacher wollte ihn schon hinausjagen, als Sarkis seinen Namen nannte. Darauf beriet sich der neue Hausvater mit seiner Familie. Dem Flüchtling wurde eine Schlafstelle in dem großen Zimmer angewiesen, wo sich das Furchtbare ereignet hatte. Die Kugelspuren an der Wand waren nach zwanzig Jahren noch immer zu sehen. Kilikian hielt sich zwei Tage lang an dieser Zufluchtstätte auf. Der Uhrmacher verschaffte ihm inzwischen ein Gewehr und Munition. Auf die Frage, womit man ihm sonst noch helfen könne, bat er nur mehr um ein Rasiermesser, ehe er nach Einbruch der Dunkelheit verschwand. Schon in der übernächsten Nacht begegnete er im Dorfe Gomaidan zwei Deserteuren, die ihm mit der Miene von gewiegten und verlässlichen Kennern den Musa Dagh als wohlerprobten Aufenthaltsort anempfahlen." [41]

Die jetzige Austreibungsmannschaft wurde vom Muafin, dem Polizeihauptmann von Antiochia, befehligt. Um die Mittagszeit rückte das Aufgebot, von Kundschaftern längst gemeldet, auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk ein. Die scharfen türkischen Trompetensignale stiegen auf, und die Trommeln wurden gerührt. Doch trotz dieser herrischen Mahnungen blieben die Armenier in ihren Häusern. Ter Haigasun hatte jedermann in den sieben Dörfern einschärfen lassen, sich so wenig wie möglich zu zeigen, alle Ansammlungen zu vermeiden und ja nicht in die Falle irgendwelcher Herausforderung zu gehn. Der Müdir verlas vor einem Publikum, das aus den Saptiehs, einigen Mitläufern und den geschlossenen Fenstern des Kirchplatzes bestand, den langen Ausweisungsbefehl, der gleichzeitig in Gestalt mehrerer Plakate an die Kirchenmauer, ans Gemeinde- und Schulhaus angeschlagen wurde. Nach diesem Staatsakt lagerten sich die Saptiehs, da es Essenszeit war, auf dem Erdboden, machten Feuer und begannen ihren Kessel mit Fuhl, Saubohnen in Hammelfett, zu wärmen. Während sie dann mit Brotfladen ihr Teil aus dem Sud schöpften und kauend dahockten, schauten sie träge im Kreis umher. "Was für hübsche Häuser! Und alle aus Stein gebaut, mit festen Dächern und holzgeschnitzten Veranden! Reiche Leute, diese Armenier, überall reiche Leute! Zu Hause, in den eigenen Dörfern, ist man schon froh, wenn die altersschwarzen Holzhütten unter der Last des Storchennestes nicht einstürzen." Wie viele Moslems, staunten auch der Müdir und der Muafin wieder einmal über die Stattlichkeit dieses Dorfplatzes. Vielleicht erfüllte den Polizeihauptmann einen Lidschlag lang die "Unsicherheit eines Barbaren, der einer überlegenen Kultur gegenübersteht." Dann aber mochte mit verdoppeltem Hass das berühmte Wort Talaat Beys in ihm aufkochen, das der Kaimakam gestern bei der Abfertigung erwähnt hatte: »Entweder sie verschwinden oder wir.« [42]

Vielfach konnte man nun die "Unsicherheit eines Barbaren, der einer überlegenen Kultur gegenübersteht" beobachten. Das Gesindel des Propheten hatte sich eingefunden, "die niedrigsten Parias des Propheten, volkloses halbarabisches Knechtsgesindel, das nun die seltene Möglichkeit benützte, sich anderen Menschen überlegen zu fühlen." Unheimlich war die Stille, die trotz der vielen Bewaffneten auf dem Kirchplatz lastete. Und sie wurde durch die "Anwesenheit etlicher Zaungäste der Austreibung, die sich den Saptiehs angeschlossen hatten, nicht im geringsten unterbrochen. Die Menschengosse Antakjes und der größeren Ortschaften ringsum hatte ihre Abwässer ins Tal der sieben Dörfer gelenkt. Auf nackten, schmutzstarrenden Füßen kam es geschlichen: aus Mengulje, Hamblas und Bostan. Aus Tumama, Schahsini, Aïn Jerab und weither sogar aus Beled es Scheikh. Augen voll unbeherrschter Gier zupften an den Häusern. Arabische Bauern aus dem El-Akra-Gebirge im Süden harrten, geruhsam auf ihren Fersen hockend, fetter Ereignisse. Sogar eine kleine Gruppe von Ansarijes hatte sich eingefunden, die niedrigsten Parias des Propheten, volkloses halbarabisches Knechtsgesindel, das nun die seltene Möglichkeit benützte, sich anderen Menschen überlegen zu fühlen. Auch einige Mohadschirs waren bereits zur Stelle, Kriegsflüchtlinge, von der Regierung ins Innere gesandt und freundlichst eingeladen, sich an armenischem Hab und Gut für ihre Verluste schadlos zu halten." Neben dergleichen offenherzigem Volke standen tief verschleierte moslemische Frauen scheu und glühend im Kreis. Diese molemischen Frauen waren eifrige Kundinnen eines so vorteilhaften Ausverkaufes, den sie mit Ungeduld erwarteten. Schon seit Wochen ging das Gewisper in den Weiberstuben von Suedja und El Eskel: »Ah, wisst ihr es denn nicht? Diese Christen besitzen in ihren Häusern herrliche Sachen, die man bei uns gar nicht kennt oder nur um schweres Geld erstehen kann.« – »Warst du jemals in einem armenischen Haus?« – »Ich nicht! Aber die Frau des Moliah hat mir alles genau beschrieben. Da werdet ihr Schränke und Kommoden finden mit Türmchen darauf und kleinen Säulen und Kronen. Da werdet ihr nur wenig Schlafmatten finden, die man tagsüber wegsperrt, sondern echte Betten mit geschnitzten Blumen und gottverbotenen Kinderköpfchen darauf, Betten für Mann und Frau, so groß wie die Equipage des Wali. Uhren werdet ihr finden, auf ihnen sitzt ein vergoldeter Adler, oder ein schreiender Kuckuck springt aus ihren Eingeweiden.« – »Nun, da habt ihr wieder einen Beweis, dass sie Verräter sind, denn wie hätten sie sonst solches Hausgerät aus Europa bekommen können?« Gerade nach derartigem Hausgerät aber stand den Weibern, die der schönsten Teppiche, Messingschüsseln und kupfernen Kohlenbecken überdrüssig waren, gar mächtig der Sinn. [43]

Der Tag verlief für Yoghonoluk glimpflich genug, glimpflicher, als derartige Tage in den meisten Städten und Dörfern des armenischen Volkes zu verlaufen pflegten. Nicht mehr als zwei Männer, die sich bei der Haussuchung widersetzten, wurden getötet, und zwei junge Frauen von den Saptiehs vergewaltigt. [44]

Dies war ungefähr der Zeitpunkt, zu dem sich eine Abteilung der Saptiehs mit dem Polizeivogt und dem Müdir an der Spitze dem Hause Bagradian näherten. Atemlos meldeten die von Gabriel ausgestellten Wachen die Ankunft des Unheils. "Sechs Saptiehs besetzten die Eingänge in der Umfassungsmauer, sechs andre den Garten, acht den Wirtschaftshof. Der Müdir, der Muafin und vier Mann betraten das Haus. Die türkische Truppe machte einen ermüdeten Eindruck. Sie hatte seit vierundzwanzig Stunden in den Dörfern mit Wut gewirtschaftet, das Innere der Häuser geplündert oder zertrümmert, Männer verhaftet und blutig geschlagen, ein wenig Notzucht getrieben und somit das ihnen von der Regierung zugesicherte Festprogramm zum Teile verwirklicht. Zu dieser Stunde war demnach glücklicherweise der erste Tatendurst der Rotte schon gestillt. Das große Haus Awetis Bagradians des Alten mit seinen dicken Mauern, kühlen Gemächern, lärmschluckenden Teppichen und fremdartigen Dingen ringsum übte zweifellos auf die Türken einen roheitsdämpfenden Einfluss aus. Die roten Fenstervorhänge des Selamliks waren herabgelassen, und die Eindringlinge sahen sich im kostbaren Halbdunkel dieses Raumes einer Gesellschaft von europäischen Damen und Herren gegenüber, die von ihren Dienern ehrfürchtig umgeben standen. Steif aufgerichtet warteten die Herrschaften regungslos. Juliette umkrampfte Stephans Hand. Nur Gonzague zündete sich eine Zigarette an. Gabriel Bagradian trat der Kommission einen Schritt entgegen, nach Offiziersvorschrift mit der linken Hand den Säbel raffend. Die Felduniform, die er sich in Beirût vor seiner Abreise hatte anfertigen lassen, hob seine Gestalt. Er war nicht nur der körperlichen Größe nach, sondern in seiner ganzen Erscheinung die ranghöchste Persönlichkeit an diesem Ort. Gonzague schien sich getäuscht zu haben. Bagradians militärisches Auftreten verfehlte die Wirkung nicht. Unsicher musterte der Polizeihauptmann den Offizier mit den Kriegsauszeichnungen. Was hatte das zu bedeuten? Das furchterregende Auge wurde trübe und das verschwollene schloß sich ganz. Auch der sommersprossige Müdir schien sich in seiner Rolle nicht besonders wohl zu fühlen. In den dumpfen Stuben der Holzschnitzer und Seidenweber die unerreichbare Aufsichtsgottheit zu spielen, das war ihm viel leichter gefallen. Hier aber, in dieser kultivierten Umgebung, kamen dem jungen Mann aus Salonik die leidigen Nerven in die Quere. Anstatt als Vertreter Ittihads und des Staates dieses Haus der verfluchten Rasse mit erbarmungslosem Tritt in Besitz zu nehmen, verbeugte er sich und griff an den Fez. Dabei kam die Unterredung, die er in seiner Kanzlei mit Bagradian geführt hatte, ihm unbehaglich zu Bewußtsein. Durch diese moralische Anfälligkeit versäumte er Zeit und fand den richtigen Anfang nicht. Gabriel Bagradian faßte ihn mit solch verächtlichem Ernst ins Auge, dass sich das Spiel zu verkehren drohte und ein hochgewachsen kriegerisches Armenien einem rothaarigen, verdrückten und schlechtrassigen Osmanentum gegenüberstand. Bagradian schien immer größer zu werden, und der Müdir litt unter seiner minderwertigen Gestalt, die das Heldenwesen seines Stammes so ungenügend verkörperte. Es blieb ihm schließlich nichts andres übrig, als ein großes Amtspapier aus der Tasche zu ziehen, sich daran gewissermaßen festzuhalten und seine Sache mit möglichster Schärfe herunterzurasseln: »Gabriel Bagradian, in Yoghonoluk gebürtig! Sie sind Besitzer dieses Hauses und Familienvorstand. Als ottomanischer Staatsbürger unterstehen Sie den Befehlen und Verordnungen des Kaimakams von Antiochia. Gleich der übrigen Bevölkerung der Nahijeh von Suedja am Musa Dagh werden Sie an einem der nächsten Tage, der noch zu bestimmen ist, nach dem Osten abgehen und Ihre gesamte Familie mit Ihnen. Ein Recht des Einspruchs irgendwelcher Art gegen die allgemeine Maßregel der Verschickung steht Ihnen nicht zu, nicht für Ihre Person, nicht für die Person Ihrer Frau, Ihres Kindes, noch für irgendeinen anderen Angehörigen Ihres Hauses ...« Der Müdir, der so tat, als lese er die Formel ab, schielte nun über das Blatt hinweg: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Ihr Name unter den politisch Verdächtigen eigens geführt wird. Sie sind der Daschnakzanpartei nahegestanden. Daher werden Sie auch während des Transportes täglich einer scharfen Kontrolle unterzogen werden. Jeglicher Fluchtversuch, jede Auflehnung gegen die Regierungsbefehle und die ausführenden Organe, jede Übertretung der Transportordnung wird nicht nur Ihren sofortigen Tod, sondern auch die unmittelbare Hinrichtung Ihrer Angehörigen zur Folge haben.« Gabriel machte ein Zeichen, als wolle er antworten. Der Müdir aber ließ ihn nicht reden. Die verwickelte Amtssprache – so entgegengesetzt der Blumigkeit orientalischer Zunge – schien ihm ein schwelgerisches Vergnügen zu bereiten: »Laut zusätzlicher Verfügung Seiner Exzellenz, des Wali von Aleppo, ist es den Verschickten nicht gestattet, nach eigenem Ermessen Fuhrwerk, Last- und Reittiere zu verwenden. In berücksichtigungswerten Fällen kann ich die Benützung eines landesüblichen Karrens oder eines Esels für Schwache und Kranke zulassen. Erheben Sie auf diese Vergünstigung Anspruch?« Gabriel drückte den Säbelkorb fest an die Hüfte. Wie Steine fielen die Worte aus seinem Mund: »Ich werde den Weg unsres Volkes gehen.« Der Müdir hatte indessen sein anfängliches Unbehagen vollständig überwunden. Er konnte schon den Ton wohlwollender Besorgnis in seine Worte legen: »Damit Sie nicht in die gefährliche Versuchung geraten, sich vorher wegzubegeben oder später abzusondern, belege ich Ihren Wagen, Ihre Pferde und anderen Reittiere sofort mit Beschlag.« Was weiter geschah, war das Übliche, wenn auch anfangs in gebändigten Formen. Der Polizeivogt, der noch immer nicht wusste, was er mit Uniform, Säbel und Orden dieses Ausrottungsobjektes anzufangen habe, stellte knurrend die Waffenfrage. Gabriel ließ durch Kristaphor und Missak die langläufigen Beduinenflinten hereintragen, die als altertümliche Dekorationen in der Treppenhalle hingen. (Ein abgekartetes Spiel natürlich, da sich sämtliche brauchbaren Gewehre des Hauses bereits auf dem Damlajik befanden.) Hohnlachen zischte aus dem Mund des Polizeihauptmanns wie aus einem überheizten Kessel. Der Müdir beklopfte nachsichtig die romantischen Büchsen: »Sie werden doch nicht behaupten wollen, Effendi, dass Sie in dieser Einsamkeit hier ohne Waffen leben?« Gabriel Bagradian suchte den wimperlosen Blick des Müdirs und hielt ihn fest: »Warum denn nicht? Seitdem dieses Haus steht, seit dem Jahre 1870 also, wird heute zum erstenmal ein Einbruch verübt.« Eine Räuberkolonie wie die moslemische Türkei, gekennzeichnet durch die Halbmond-Räuberflagge, kann natürlich nicht überall gleichzeitig einbrechen, aber im Laufe der Jahrzehnte kommt zumindest jeder Christ als "Ausrottungsobjekt" einmal an die Reihe. Wie sieht der "Vandalismus" aus, wenn diese Räuber einbrechen? "Die Türken krochen in jeden Winkel, klopften die Mauern ab, warfen die Möbel um und zerbrachen alles, was zerbrechlich war... Im Keller zerschlugen sie nur im Vorübergehen und ohne rechtes Temperament mit ihren Gewehrkolben die Weinkrüge, die Ölbehälter und was an Flaschen, Töpfen, Schüsseln, Häfen zu finden war. Die wichtigsten Vorrats- und Lebensmittel waren schon an sicherer Stätte. Die enttäuschten Saptiehs hatten in diesem Palast einen reicheren Keller erwartet. Da sich nichts anderes fand, nahmen sie ein paar leere Petroleumkannen mit, denn der Orientale hegt für diese Blechgefäße eine sonderbare Vorliebe. Nachher erstürmte die Kriegsschar, die einen sauren Schweißdunst verströmte, die Treppe zum Oberstock. Hier war es vor allem Juliettens Schlaf- und Ankleidezimmer, dessen Duft die Türken schon von ferne so mächtig anzog, dass sie darüber die anderen Räume vergaßen. Der große Kleiderschrank wurde aufgerissen. Braune Schmutzfäuste rissen die Pariser Modelle vom vorigen Jahr heraus, zartsinnige Blüten von Kleidern, die nun in zerknüllten Bündeln und Schlangen auf dem Boden lagen. Ein besonders düsterer Gendarm trat auf ihnen in stierem Gleichtakt herum, als wolle er diese süßen Reptilien Europas in den Grund stampfen. Nicht anders erging es den Schlafgewändern, Batisthemden, Spitzen und Strümpfen. Beim Anblick dieser Frauenwäsche konnte sich der Polizeivogt nicht beherrschen. Er schöpfte mit beiden Händen aus dem weißen und rosenroten Gischt und wühlte sein Nussknackergesicht hinein.... Ein andrer hieb mit seinem Knüppel über den Toilettentisch. Aufschreiend sprangen die Kristallflaschen, Schalen, Büchsen und Dosen zu Boden, einen stechenden Wohlgeruch verbreitend. Der Knüppel fuhr in den Spiegel; der nach allen Seiten zerspritzte." Nach Räubersitte sollten die Taten möglichst geheim bleiben: "In den Ausführungsbestimmungen der Deportation wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass die Maßregel vor den Augen der verbündeten und neutralen Konsularvertreter aufs dichteste zu verschleiern sei." [45]
 

4. Die Felsigen Gipfelkuppen des Damlajik, Musa Dagh, Gabriel Bagradian; 1. Türkenangriff; Armee des Damlajik, die eine ganze Kompanie ohne eigene Verluste zum Teufel geschickt hatte

Gabriel hatte den von ihm zum Hauptbeobachterstand erkorenen Punkt erstiegen. Dieser lag auf einer der felsigen Gipfelkuppen des Damlajik und bot eine klare Aussicht aufs Meer, auf die Orontes-Ebene und die Bergwellen, die gegen Antiochia zu verebbten. Das Tal selbst konnte man von Kheder Beg bis Bitias einblicken. Die äußersten Dörfer waren durch Wegbiegungen der Sicht entzogen. Es gab außer diesem Hauptbeobachterstand natürlich noch zehn oder zwölf exponierte Späherposten, von denen aus die einzelnen Talabschnitte scharf ins Auge gefasst werden konnten, hier jedoch, von Felsklippen wohlbedeckt, beherrschte man das Allgemeine in großen Zügen. Vielleicht schlug dem einsamen Gabriel Bagradian deshalb, weil er auf diesem Standpunkt der verengenden Lagerwirre überhoben war, als einzigem die wahre Wirklichkeit jetzt so stark ans Herz: Dort im Norden, Osten, Süden, bis nach Antakje, nein, bis nach Aleppo, nein, bis Mossul und Deir es Zor die unabwendbare Vernichtung! "Millionen von Moslems, die bald nur mehr ein einziges Ziel haben würden, das freche Armeniernest auf dem Musa Dagh auszuräuchern! Auf der anderen Seite das gleichgültige Mittelmeer, das den steil niederstürzenden Bergrücken schläfrig umbrandete! Mochte Zypern auch hundertmal nahe sein, welcher französische oder englische Kreuzer hatte das geringste Interesse an diesem nackten Teil der syrischen Küste, die völlig außerhalb des Krieges lag? Die Flotten liefen nur in die gefährdeten Richtungen aus, gegen Suez und die nordafrikanische Küste, die tote Bucht von Alexandrette zweifellos stets im Rücken lassend. Bagradian erkannte, das wüste Meer überblickend, dass er während der großen Versammlung sich selbst und die anderen verantwortungslos demagogisch betrogen hatte, als er die Hoffnung auf rettende Kriegsschiffe zu erwecken versuchte. Der höhnisch-öde Meereshorizont belehrte ihn darüber. Unermesslicher Tod ringsum, ohne den kleinsten Durchschlupf, dies war die Wahrheit! Von diesem Tode fugenlos umschlossen das kleine elende Dorfvolk! Und auch dies war noch nicht alles. Denn sollte sich auch der äußere Tod – was nicht einmal der Wahnsinn erhoffen durfte – wohlwollend träge verhalten, sollte kein Angriff erfolgen, kein Schuss fallen, so müsste trotzdem ein andrer Tod von innen her aufbrechen und das Lager zerstören. Denn wie sparsam man auch immer mit Herden und Vorräten umging, sie ließen sich nicht erneuern und würden in sehr begrenzter Zeit an ihr Ende gelangen. – In der Niederung unten hatte der Gedanke an den Damlajik wie Erlösung gewirkt, denn in bitterer Bedrängnis bedeutet schon der Wille, sich zu bewegen, und die Aussicht auf jegliche Veränderung ein linderndes Heilmittel. Nun aber saß man fest. Das lindernde Heilmittel half Gabriel nicht mehr. Er fühlte sich wie aus Zeit und Raum herausgeschleudert. Das Unabwendbare hatte er wohl für ein paar Augenblicke hinausgeschoben, dafür aber die hundert winzigen Auswege des Zufalls preisgegeben. Handelte nicht Harutiun Nokhudian mit seiner Gemeinde weiser? Ein eisiger Zwang packte Gabriel an. Welch ein unsühnbares Verbrechen an Juliette und Stephan! Er hatte die gute Stunde der Flucht immer wieder vorübergehen lassen, er hatte nicht ein einziges Mal Juliette aus ihrer unbedenklichen Ahnungslosigkeit gerüttelt, obgleich er schon seit jenem fernen Märzsonntag wusste, dass die Falle zugeklappt war. Dieser Erkenntnis seiner unbegreiflichen Schuld folgte eine jähe Blutleere im Kopfe und ein heftiges Schwindelgefühl. Die Horizonte des Meeres und des Landes begannen sich zu drehen. Die ganze Welt war eine rotierende Scheibe und der Musa Dagh der tote, unbewegte Punkt in ihrer Mitte. Den Mittelpunkt dieses Punktes aber bildete Gabriels Körper, der, so hoch er auch stand, die unterste Erstarrung des unabwendbaren Wirbels bedeutete, der um ihn kreiste. Wir wollen doch nur am Leben bleiben, erschauderte er. Doch alsogleich verwunderte es sich schweigend in ihm: Warum eigentlich?" [46]

Gabriel Bagradian floh in die Stadtmulde hinab. Die einzelnen Komitees des Führerrates waren schon zusammengetreten, denn die hundertfältige Arbeit des ersten Tages wartete auf Einteilung. Gabriel forderte, dass alle werktauglichen Leute, Männer und Frauen, sich unverzüglich an die Arbeit bei den begonnenen Gräben und Riegeln machten. "Der gesamte Stellungsbau müsse in der Hauptsache morgen abends beendet sein, denn wer könne das wissen, vielleicht sei schon für übermorgen der erste Türkenangriff zu gewärtigen. Immer und immer wieder müsse er es wiederholen, dass die Verteidigung und was zu ihr gehöre, die schärfste Mannszucht und Unterordnung der Kämpfer, allen anderen Dingen vorangehe. Da man ihn, Gabriel Bagradian, zum Führer dieser Verteidigung eingesetzt habe, so sei es nunmehr auch notwendig, dass man ihm die oberste Befehlsgewalt einräume, und zwar nicht nur über das erste Aufgebot, sondern ebenso über die Reserve, das heißt über Kämpfer und Arbeiter, somit über das ganze Lager. Pastor Aram Tomasian, der leider ein sehr empfindlicher Mann war, betonte demgegenüber, dass es nicht weniger wichtig sei, die inneren Zustände des Lagers in Ordnung zu bringen. Vorläufig herrsche noch wüste Anarchie, jede Familie beneide die andre um den zugeteilten Wohnplatz, und auch die einzelnen Dorfgemeinden seien mit ihren Lagergebieten unzufrieden. Bagradian wandte sich gegen den Einwand des Pastors: Unzufriedenheit dürfe es einfach nicht geben, da ein verschärfter Kriegszustand herrsche. Gegen Murrende habe man sofort mit empfindlichen Strafen vorzugehen. Thomas Kebussjan und die übrigen Muchtars schlugen sich sogleich auf die Seite des Pastors. Selbst Bedros Altouni mahnte hartnäckig, man müsse vorerst für die körperlichen Bedürfnisse des Volkes Sorge tragen und alsbald mit dem Bau des Lazarettschuppens beginnen, damit sich der Zustand der Kranken und Leidenden nicht verschlimmere. Nun meldeten sich die Muchtars und die Lehrer, einer nach dem andern, zum Wort, um die unaufschiebbaren Notwendigkeiten der eigenen Kompetenz weitschweifig zur Geltung zu bringen. Mit Entsetzen machte Bagradian die Erfahrung, wie schwierig es ist, in einer beratenden Körperschaft das Einfachste und Selbstverständlichste durchzusetzen. Eitles, regelloses Gerede begann sich auszubreiten. Aber nach einigen Minuten schon zeigte die Verfassung, die Gabriel Bagradian dem Führerrat gegeben hatte, ihre Vorzüglichkeit. Ter Haigasun besaß die rechtmäßige Autorität, in schwankenden Fällen eine Entscheidung auf kurzem Wege herbeizuführen. Er machte von dieser Autorität in weise-unauffälliger Art so geschickten Gebrauch, dass niemand mehr einen Antrag stellte und die Lage durch eine gefährliche Abstimmung verwirrte: Gabriel Bagradian sei durchaus im Recht. Hinter den Pflichten der Verteidigung müsse alles andere zurücktreten. Die Dienstordnung, die dem Führerrat seit Tagen schriftlich vorliege, habe unverzüglich vor den Zehnerschaften verlesen zu werden und von Stund an in Kraft zu treten. Dem Befehlshaber sei jedermann unbedingten Gehorsam schuldig. Da er den Krieg als tapferer Offizier kennengelernt habe und damit einen bedeutenden Vorrang vor allen übrigen Gewählten besitze, so überlasse ihm der Führerrat vorbehaltlos alle jene Bestimmungen, welche den Kampf, die Kampfesvorbereitung und die Mannszucht betreffen. Gabriel Bagradian und der ihm beigegebene Kriegsausschuß hätten keine Verpflichtung, ihre Entschlüsse dem allgemeinen Rat zur Annahme vorzulegen. Pastor Aram Tomasian sei ja deshalb in den Kriegsausschuss und Bagradian in den Ausschuss für innere Ordnung eingetreten, damit unnötige Reibungen vermieden würden. Der Befehlshaber besitze ferner selbstverständlich auch eine eigene Strafgewalt. Er könne unbotmäßigen und im Dienste faulen Leuten das Essen entziehen, sie in Fesseln legen lassen und zur Bastonnade milderen oder schärferen Grades nach eigenem Ermessen verurteilen. Nur die Verhängung der Todesstrafe stehe allein Ter Haigasun zu, nachdem sie vom ganzen Führerrat einstimmig beschlossen worden sei. Doch auch dem Lagervolke müsse der Ernst der Kriegsgesetze schon in den ersten Stunden klargemacht werden. Die Hauptaufgabe des inneren Komitees bestehe darin, für strenge Regelmäßigkeit zu sorgen, die harten Umstände natürlich erscheinen zu lassen und alles daranzusetzen, dass sich hier oben nicht anders als im Tale ein ganz gewöhnlicher Alltag entwickle. In seinen Ausführungen wies Ter Haigasun mit stärkstem Nachdruck auf »Gewohnheit« und »Alltag« hin. Von diesen unscheinbaren Mächten hänge die Kraft und Dauer des Widerstandes mehr ab als von außergewöhnlichen Leistungen. Keine einzige Hand dürfe daher beschäftigungslos bleiben. Auch die Kinder sollten nicht müßiggehen und den Todeskampf des Volkes mit ihrem Ferienglück in Verbindung bringen. Es sei deshalb auf einem dafür zu bestimmenden Platz Schule zu halten, und zwar in aller Form und Strenge. Die Lehrer müssten in jenen Stunden, da sie anderweitig dienstfrei seien, im Unterricht miteinander abwechseln. Nur rastlose Arbeit werde die Menschen über dieses enge Leben hinwegbringen können, schloß Ter Haigasun: »Also auf, Leute! Geht an die Arbeit! Wir wollen die Zeit so wenig wie möglich mit Ratsgeschwätz totschlagen!« [47]

Er bitte Madame daher, dem Volke die Ehre zu erweisen und folgenden Auftrag zu übernehmen. Es sei notwendig, dass von der vorspringenden Felsterrasse auf der Steilseite des Berges eine sehr große weiße Fahne mit einem roten Kreuz ins Meer hinaus wehe, um jenen Schiffen, die Gott in seiner Gnade senden möge, Kunde von dem Elend zu geben. Darum müsse die Fahne auch eine Aufschrift in französischer und englischer Sprache tragen: »Christen in Not! Hilfe!« Ter Haigasun verbeugte sich, als er an Juliette die feierliche Frage stellte, ob sie gewillt sei, mit Hilfe anderer Frauen die Herstellung dieser Fahne zu besorgen. [48]

Sarkis Kilikian war ja ein tapferer Soldat mit den lebendigsten Erfahrungen aus dem Kaukasusfeldzug. Außerdem besaß er Bildung und Intelligenz. Er hatte durch die Türken Namenloses erlebt, und wenn es in ihm noch so etwas wie Seele gab, so musste sie vor einem nicht mehr menschlichen Rachedurst vergehen. Die Absicht Gabriels bestand darin, eine kleine Zeit lang Kilikians Wohlverhalten scharf zu beobachten und ihm, sollte dieses seinen Erwartungen entsprechen, das Kommando der Südbastion zu übertragen. Durch diesen Schachzug hoffte Bagradian nicht nur eine wertvolle Kraft frei zu machen, sondern auch die anderen Deserteure, unzuverlässige Leute, fest in die Hand zu bekommen. Er hatte deshalb den Russen nach dem Abmarsch der Zehnerschaften zurückbehalten. [49]

Der vierte August verlief bis Mittag nicht anders als die vorangehenden Tage. Als Gabriel am frühen Morgen mit seinem Fernglas das Tal absuchte, lagen die Dörfer so still und verödet da, dass der Gedanke nicht unerlaubt erschien, es werde sich alles glücklich lösen, der Weltfriede demnächst geschlossen werden und die Rückkehr ins Leben gesichert sein. Bagradian verließ in hoffnungsvoller Stimmung die Beobachtungskuppe und ging von Abschnitt zu Abschnitt, um Arbeit und Dienst der Zehnerschaften überraschend zu visitieren. Zufrieden begab er sich gegen Mittag auf seinen Kommando-Standort. "Wenige Minuten später stürzten von allen Seiten die jugendlichen Späher heran. Meldung: Auf der Straße von Antiochia nach Suedja große Staubwolken. Viele, viele Soldaten! Vier Abteilungen. Dahinter Saptiehs und eine große Menschenmenge. Sie biegen eben in das Tal ein und marschieren schon durch das erste Dorf Wakef. Gabriel Bagradian bestieg den nächsten Späherpunkt in größter Hast und stellte folgendes fest: Die Marschkolonne einer kriegsstarken Infanteriekompanie zog die Dörferstraße entlang. Er erkannte die reguläre Truppe sofort an dem berittenen Hauptmann, der sie führte, und den vier in Abständen marschierenden Zügen, die in leidlich taktsicherem Gleichschritt vorwärtszuschwanken schienen. Es musste demnach ausgebildetes, vielleicht sogar kriegserfahrenes Militär sein, das in den Kasernen von Antakje lag und zu Dschemal Paschas neu aufgestellter Armee gehörte. Erst weit hinter der Kompanie zottelten etwa hundert Saptiehs, während das Gesindel der Ebene, der menschliche Schwemmsand von Antiochia, zu beiden Seiten der Marschkolonne einherstaubte. Der Aufmarsch dieser Streitmacht von fast vierhundert Gewehren (die Saptiehs mit eingerechnet) war so gottverlassen ahnungslos im offenen Gelände durchgeführt, dass Gabriel lange dem Glauben zuneigte, die Truppe habe ein anderes Ziel. Erst als nach einer kleinen Rast und Offiziersberatung die Kompanie hinter Bitias gegen Nordwesten auf den Berg zuschwenkte, wurde es klar, dass der Feldzug den geflüchteten Dorfgemeinden galt. Entweder hatten sich Angeber aus den Nachbarortschaften gefunden, die der Lärm des Holzfällens über die Wahrheit belehrt hatte, oder war Harutiun Nokhudian so lange gefoltert worden, bis er den Aufenthalt seiner Landsleute verriet. Wie dem auch sei, die Türken schienen zu vermuten, dass ihrer eine gewöhnliche Polizeiaufgabe harre, harmloser noch als die bekannte Deserteurjagd, und dass es sich nur um ein Freilager armseliger Bergbewohner handle, das aufzustöbern, zu umzingeln und ins Tal hinabzutreiben sei. Angesichts dieser Aufgabe mussten sie sich unendlich stark vorkommen, und sie waren es auch, wenn man bedenkt, dass die Armeniersöhne nur dreihundert gute Gewehre besaßen, wenig Munition und fast keine ausgebildeten Soldaten. Bereits als die Kompanie Yoghonoluk erreicht hatte, ließ Gabriel Bagradian den großen Alarm durchführen, wie er ihn täglich mit Zehnerschaften und Lager geübt hatte. Die Münadirs, die Ausrufer, trommelten die Stadtmulde zusammen. Die Ordonnanzgruppe der Jugendkohorte stob über die ganze Hochfläche, um den Abschnittsführern die Befehle zu überbringen. Einige der halbwüchsigen Kundschafter wagten sich bis ins Tal vor, um die Gliederung und Bewegung des Feindes auszuforschen. Ter Haigasun, die sieben Muchtars, die älteren Mitglieder des Führerrates blieben inmitten des Lagervolkes, wie es verabredet war. Keiner wagte mehr zu atmen. Selbst den Säuglingen blieb das Lallen und Greinen im Halse stecken. Die Männer der Reserve umscharten, mit Äxten, Hacken und Spaten bewaffnet, in einem weiten Ring das Lager, um im Notfall bereit zu sein. Gabriel stand mit Tschausch Nurhan und den Unterführern beisammen. Der Fall war völlig vorgesehen. Da es sich aber um den ersten Kampf handelte und da kein anderer Verteidigungspunkt unmittelbar gefährdet war, so ließ er in den Nebenstellungen nur die notwendigste Besatzung zurück und warf alle verfügbaren Zehnerschaften in die Gräben des Nordsattels. Das System hatte vier Linien. Der Hauptgraben vor allem, der auf der kupierten Höhe der linken Sattellehne den Damlajik absperrte; einige hundert Meter dahinter der zweite Graben längs einer Bodenwelle; an der Stirnseite des Berges ferner der Graben der Flankensicherung mit vorgeschobenen Schützennestern; und auf der Meerseite endlich die glückhaft unübersehbare Barrikade aus zerrissenen Kalkfelsen. Den ersten Graben bezogen ungefähr zweihundert Mann, die besten Gewehre und voraussichtlich besten Kämpfer. Den Befehl über diesen Graben übernahm Bagradian selbst. Er hatte übrigens weder Sarkis Kilikian noch einen der anderen Deserteure unter diese Besatzung aufgenommen. Einen Teil der Elitezehnerschaften legte er unter dem Kommando Tschausch Nurhans in die Felsbarrikaden. In dem zweiten Graben standen weitere zweihundert Mann für den Fall einer unglücklichen Wendung bereit. Jeder Kämpfer erhielt drei Patronenmagazine, also nur fünfzehn Schuß. Bagradian legte den Männern ans Herz: »Keine Kugel umsonst! Sollte der Kampf auch drei Tage dauern, jeder muss mit seinen drei Magazinen auskommen. Spart, sonst sind wir verloren. Und das Allerwichtigste! Das Feuer wird nur auf meinen Befehl eröffnet! Ihr habt mich alle anzuschauen! Wir müssen die Türken, die von uns nichts wissen werden, bis auf zehn Schritt herankommen lassen. Und dann ruhig auf die Köpfe zielen, und ruhig schießen! In der nächsten Stunde wollen wir hier auf dem Damlajik das Verbrechen an unserem Volke rächen, in der nächsten Stunde wollen wir den Türken beweisen, dass wir in unserer Schwäche ihnen noch hundertmal überlegen sind. Und jetzt denke jeder von euch an das Gräßliche, das sie uns angetan haben, und sonst an nichts!« [50]

Die türkischen Soldaten füllten nach und nach vom Aufstieg erschöpft, in aufgelöster Marschordnung, die Sattelkerbe. Der kommandierende Hauptmann schien wirklich tief davon durchdrungen zu sein dass es sich um keine militärische, sondern lediglich um eine polizeiliche Unternehmung handle, sonst hätte er gewiß nicht die primitivsten Vorsichtsmaßregeln außer acht gelassen, welche die Anfangsgründe der Taktik für eine Truppe im feindlichen Gelände vorschreiben. Durch keine Patrouillen, keine Vor-, Seiten- und Nachhut gesichert, hatte sich ein planloses Durcheinander von plappernden, lachenden, rauchenden Infanteristen im Sattelgrund versammelt, um sich von der Bergbesteigung zu erholen. "Die Türken hatten demnach nicht einmal Klarheit darüber, ob sich das Flüchtlingslager auf dem Damlajik oder auf den nördlichen Höhen des Musa Dagh befand. Die Armeniersöhne standen bis zur Herzhöhe im Graben. Die aufgeworfene Böschung davor, in deren Scharten die Gewehre auflagen, war unsichtbar gemacht, ebenso die ausgehauenen Sichtlinien im Buschwerk und Knieholz, das die Lehne übersäte. In breiter Schwarmlinie strebten die nichtsahnenden Türken die Höhe empor. Der erste Graben war so glänzend maskiert, dass er nur von einem weit höheren Standpunkt wäre einzusehen gewesen, diesen aber gab es nicht, außer in den höchsten Baumwipfeln der Gegenhöhe. Gabriel Bagradian hob die Hand und zog alle Augen an sich. Die Türken kamen in dem Gestrüpp nur langsam vorwärts. Der Hauptmann hatte sich eine neue Zigarette angezündet. Plötzlich stutzte er und blieb stehn. Was bedeutete dieser Erdaufwurf dort? Erst nach einigen Sekunden durchblitzte es ihn, das ist ein Schützengraben. Diese Tatsache aber schien ihm so unglaubwürdig zu sein, dass er noch einmal Zeit verstreichen ließ, ehe er aufbrüllte: »Nieder! Deckung suchen!« Zu spät. Der erste Schuss war bereits gefallen, und zwar ehe Bagradian noch die Hand gesenkt hatte. Die Armenier schossen bedächtig und sicher, einer nach dem anderen, ohne jede Erregung. Sie hatten Zeit zum Zielen. Jeder wusste, dass keine einzige Patrone verschwendet werden dürfe. Da ihre Opfer nur wenige Schritte von ihnen entfernt in völliger Betäubung erstarrt waren, ging auch kein einziger Schuss verloren. Der dicke Hauptmann mit dem gutmütigen Gesicht brüllte noch einigemal: »Nieder! Decken!« Dann schaute er unendlich erstaunt zum Himmel auf und setzte sich hin. Die Brille fiel ihm von der Nase, ehe er zur Seite sank. Jäh löste sich der Bann von den türkischen Soldaten. Sie flüchteten, wild schreiend, in den Sattel hinab, viele Tote und Verwundete zurücklassend, darunter den Hauptmann, einen Zugsoffizier und drei Onbaschis. Gabriel schoss nicht. Ihm war plötzlich leicht und schwebend zumute. Die Wirklichkeit um ihn wurde so unwirklich, wie sie es in ihren wirklichsten Verdichtungen immer ist." [51]

Die Türken brauchten sehr lange, um sich zu erfangen. Die Offiziere und Unteroffiziere hatten schwere Mühe, die Flucht aufzuhalten. Sie mussten mit flacher Säbelklinge und Gewehrkolben die Jammernden zurückjagen. Inzwischen wurden die beiden Züge, die vom Feuer nichts abbekommen hatten, vorgetrieben. "Doch anstatt zuerst eine wirksame Angriffslinie zu finden, suchte die neue Schützenreihe an den ungeeignetsten Punkten hinter Büschen und Steinblöcken Deckung, ohne auch nur die Ahnung des Armeniergrabens vors Korn zu bekommen. In die Sträucher und Legföhren entlud sich ein sinnlos tolles Geknatter und Geknalle, das nicht den geringsten Schaden anrichtete. Nur manchmal sang ein Geller über die Köpfe der Verteidiger hinweg. Gabriel Bagradian ließ folgenden Befehl den Graben entlang laufen: »Nicht schießen! Gut decken! Warten, bis sie wiederkommen!« Zugleich sandte er in die Seitenstellungen Botschaft, wer es wage, einen Schuss abzugeben oder auch nur sein Gesicht zu zeigen, werde als Verräter behandelt werden. Kein Türke dürfe vom Vorhandensein der Sicherungsriegel die leiseste Ahnung haben. Die armenische Sattellehne lag ausgestorben wie vorher. Die Verteidiger schienen durch das rasende Türkenfeuer alle ums Leben gekommen zu sein. Nach einer Stunde dieser wüsten Munitionsverschwendung versuchte die Kompanie in vier tollkühnen Wellen einen neuen Sturm. Die Armenier, jetzt noch weit sicherer als das erstemal, ließen die Wellen wieder nahe herankommen, ehe sie ihnen abermals den Untergang bereiteten, noch blutiger und entsetzlicher als früher. Jetzt konnten die Chargen der Flucht nicht mehr Halt gebieten. Im Nu war der Sattel leergefegt. Nur das Zetern der Verwundeten stieg aus dem Unterholz. Schon wollten einige der Armeniersöhne aus dem Graben klettern. Bagradian brüllte sie an, niemand habe Befehl erhalten, seinen Posten zu verlassen. Nach einiger Zeit wagten sich türkische Sanitätsmänner mit Tragbahren zwischen den Bäumen vor und begannen mit einer Rotenmondfahne zu winken. Gabriel Bagradian schickte ihnen Tschausch Nurhan ein paar Schritte entgegen. Dieser machte Zeichen, dass sie herankommen möchten. Dann schrie er ihnen zu: »Die Toten und Verwundeten könnt ihr mitnehmen. Gewehre, Munition, Tornister, Patronentaschen, Brotbeutel, Montur und Stiefel bleiben hier!!« [52]

Selbst heute noch gelten die türkischen Soldaten als Memmen, die zwar Städte und christliche Kirchen bombardieren können, wenn es jedoch ernst wird, wenn Christen ihnen gegenüberstehen, was passiert dann? "Die Türken warfen die Gewehre fort, als hätten sie den Teufel erblickt." Damals ging es darum, die flüchtenden Türken zu jagen, es "diesem niedrigsten Raubzeug des Militarismus heimzuzahlen, diesen bestialischen Memmen, die gegen Großmütter tapfer waren, vor Männern aber schlotterten, ehe sie diese nicht dreimal entwaffnet hatten." Die Kinder des Musa Dagh kannten jeden Block, jeden Vorsprung, jede Grotte, jeden Strauch, jede Agave auf diesem nackten zerfressenen Kalkgefelse, unterhalb dessen die zerrissenen Steilwände jäh oder stufenweise oft zwei- und dreihundert Meter tief ins Meer stürzten. "Diese Kenntnis des Berges war ein unberechenbarer Vorteil jeder Truppe gegenüber, die sich hier nicht zurechtfand, mochte sie so stark sein, wie immer sie wollte. "Bagradian überließ es den Bergsöhnen, sich selbst in den Schrunden und hinter den Felsmassen so klug zu verteilen, dass die Verbindung immer aufrechterhalten blieb und keiner ins Feuer des andern geraten konnte. Die Aufgabe war die gleiche wie früher, den Feind durch vollständige Unsichtbarkeit und Totenstille vor- und ins Verderben zu locken. Dieser aber war nun schon gewitzter. Seine Hauptmacht schob er langsam auf den Gegenhöhen dem Sattel entgegen und eröffnete schon am Waldesrand, hinter den Bäumen gut gedeckt, ein überstürztes und doch ängstliches Feuer auf den großen Graben, das von der Besatzung wieder nicht zur Kenntnis genommen wurde. Währenddessen aber tauchte, von den Spähern angesagt, eine Patrouille von vier Mann mit der größten Zaghaftigkeit im Felsgebiet auf. Man sah weithin, dass es keine Männer des Gebirges waren, sondern Männer der Ebene. Unbeholfen im Gestein fußfassend, duckten sie sich von Deckung zu Deckung. Mit Umsicht rekognoszierten sie, blickten in jedes Loch und hinter jede Kante. Die Armenier erkannten mit Wollust im Herzen, dass es Saptiehs waren. Die Soldaten waren Fremde. Was aber die Saptiehs waren, wusste jeder. Nun kam der Augenblick, es diesem niedrigsten Raubzeug des Militarismus heimzuzahlen, diesen bestialischen Memmen, die gegen Großmütter tapfer waren, vor Männern aber schlotterten, ehe sie diese nicht dreimal entwaffnet hatten. Gabriel sah in manchem Auge einen trunkenen Wahnsinn aufflammen. Der Onbaschi der Saptiehs musste den Eindruck gewonnen haben, dass er schon über die Grabenlinie hinaus in den Rücken der Armenier geraten sei. Er schickte lautlos einen Mann zurück, der mit einer roten Signalflagge zu fuchteln begann. Ziemlich lange dauerte es, bis die Umgehungsgruppe heranzögerte, mit zurückzuckendem Stolperschritt, als gelte es, nicht auf rauhen Kalkstein, sondern in kochendes Wasser zu treten. Die Mannschaft dieser Gruppe war zur Hälfte aus Infanteristen, zur Hälfte aus Saptiehs gemischt. In losen Knäueln erreichte sie, von zwei Offizieren vorwärtsgetrieben, jene Stelle, bis zu der der Onbaschi die Gegend rekognosziert hatte. Da umfasste sie in einem Augenblick, da die wenigsten in Deckung waren, das armenische Feuer von allen Seiten. Sie sprangen durcheinander. Sie vergaßen ihre Gewehre." Dieser Angriff kam aus dem Nichts. Auch die Tapferen wussten nicht, wie sie sich wehren sollten. Schon zerriß Stöhnen und Brüllen die Luft, als die Armeniersöhne hinter den Felsen und aus den Schlupfwinkeln hervorfuhren. Mit Tschausch Nurhan an der Spitze schoben sie sogleich einen Keil zwischen die Infanterie und die Saptiehs. Von diesen wurde ein beträchtlicher Teil in die Steilwände abgesprengt. "Die Saptiehs verstiegen sich im unerbittlichen Gemäuer, drückten sich, der Kugel gewärtig, hilflos an den Fels oder blieben, an harte Stachelgewächse geklammert, verzweifelt hängen. Mehrere gerieten ins Rutschen, überkugelten sich und schlugen wie Bälle auf, ehe sie ins Meer hinabsausten. Die Kernschar der Türken aber suchte dem tödlichen Felsgewirre auf dem kürzesten Wege zu entkommen und sprang, stolperte, stürzte dem Sattel entgegen, von den Bergkriegern verfolgt. Diese waren nicht mehr bei Besinnung. Sinnlos kehlige Gröllaute entrollten ihrem Mund, während sie die Türken jagten. Auch Gabriel Bagradian hatte die Klarheit des Führers längst verloren, von einem unbekannten Rausch geschüttelt, von einer irrsinnigen Urmusik, die aus dem Jahrtausendschlaf seines Blutes erwacht war. Auch aus seiner Brust drangen die kurzen, gaumigen Laute einer Wildnissprache, die ihn wachen Sinnes mit Grauen erfüllt hätte. Nun wurde die Welt noch hundertmal gewichtloser als vorhin. Sie war nichts, nichtiger als das dünne Zittern einer Libelle. Sie war ein rötlich hüpfender Tanz und tat dem Tänzer nicht weh. Doch nicht nur Gabriel, auch Pastor Aram Tomasian, der sich unter den Kämpfern der Felsbarrikaden befand, war von dem Wahnsinn mit ergriffen. Wie ein alter Kreuzfahrer ruderte er mit einem Kruzifix in der Luft und heulte: »Christus, Christus!« Der Ritter Christus dieses Schlachtrufs aber hatte blutwenig mit dem gestrengen Leidensherrn gemein, an dessen Evangelium Pastor Aram sonst seine Taten prüfte. Sonderbarerweise weckte Arams Christusgeschrei Gabriel Bagradian aus seiner Besinnungslosigkeit auf. Er begann die Schlacht zu beobachten wie einer, der nicht dazugehört, geschweige denn Befehlshaber ist. Mit dem Kampflärm im Felsgebiet war für die türkische Schützenlinie am Waldrand der Gegenhöhe das Zeichen gegeben, zum Frontangriff überzugehen. Die Schwärme brachen vor, schossen ins Leere, warfen sich nieder, schossen, sprangen auf, liefen ein Stück, warfen sich nieder. In diesem Zeitpunkt gerade wurde die zerschmetterte Umgehungsgruppe von den Armeniern aus den Felsen herausgejagt. Das Feuer der Verfolger traf daher die angreifende Schützenlinie in die Flanke. Gabriel Bagradian stand, ohne zu schießen, auf einem Felsblock. Er sah, wie einer der türkischen Leutnants einen regellosen Haufen abfing, um den Mittelpunkt eines Widerstandes zu bilden. Schon warf sich der Schwarm auf die Erde und begann das Feuer. Tschausch Nurhan aber sprang auf den türkischen Offizier zu und schlug ihn mit dem Kolben nieder. Die Türken warfen die Gewehre fort, als hätten sie den Teufel erblickt. Der Längerdienende war auch etwas Ähnliches. Er zeigte, welch einzigartigen Schüler die türkische Infanterie an ihm verloren hatte. Sein Gesicht war blutrot. Der graue, langausgezogene Schnurrbart sträubte sich. Er hatte nicht einmal mehr ein heiseres Krächzen in der Kehle. Der Gedanke, dass er sich decken müsse, um nicht abgeschossen zu werden, schien ihm gar nicht zu kommen. Manchmal hielt er inne, setzte die Trompete an den Mund und entlockte ihr einige atemlos stotternde Rufe, die in ihrer Grausigkeit die Wirkung auf Freund und Feind nicht verfehlten. Als Bagradian sah, dass die Türken eine Frontwendung gegen die Felsseite durchzuführen versuchten, gab er den Männern des langen Grabens mit dem überm Kopf geschwungenen Gewehr das Galoppzeichen. Die Zehnerschaften, die der Gruppenführer kaum mehr zurückgehalten hatte, stürzten mit Gebrüll vor und überschütteten die neue Türkenfront mit einem Kugelhagel, ohne sich hinzuwerfen, ohne der Munition mehr zu achten. Die Kompanie war somit rettungslos zwischen die Kiefer einer Zange geraten. Mit größerer Erfahrung und Geistesgegenwart hätte Bagradian sie völlig aufreiben oder gefangennehmen können. So aber gelang es den Türken doch, in wildem Lauf zu entkommen, obgleich ihnen die zwei Zehnerschaften der Flankensicherung den Weg verstellten und dann nachschossen. Die Flucht der bergabrasenden Türken kam nicht einmal am Fuße des Damlajik ins Stocken, sondern erst auf dem Kirchplatz von Bitias, wo sie sich endlich sammelten." [53]

Neun Soldaten, sieben Saptiehs und ein junger Offizier waren den Verteidigern in die Hände gefallen. Diese schickten sich nun mit der kaltblütigsten Selbstverständlichkeit an, den Gefangenen ausführlich zu zeigen, was es heißt, im Stil eines armenischen Massakers zu sterben. "Zwei von den Saptiehs konnte Gabriel Bagradian nicht mehr retten, doch die anderen Gefangenen deckten er, Pastor Aram Tomasian und noch einige ältere Männer mit den eigenen Leibern, während Tschausch Nurhan und die überwältigende Mehrheit für dergleichen Milde an hunderttausendfachen Armeniermördern nicht das nötige Verständnis hatten. Es gelang Bagradian nur schwer, seiner vernünftigen Ansicht in den enttäuschten Zehnerschaften Geltung zu verschaffen: »Wir haben keinen Vorteil, wenn wir sie umbringen, wir haben auch keinen Vorteil davon, wenn wir sie als Geiseln behalten. Die Ihrigen opfern sie ohne Wimperzucken auf, und wir müssen ihnen zu essen geben. Wir haben aber einen Vorteil davon, wenn wir ihnen eine Botschaft nach Antakje mitgeben.« Er wandte sich an den aschgrauen Leutnant, der sich kaum auf den Beinen halten konnte: »Ihr habt gesehen, wie leicht wir mit euch fertig werden. Und wenn ihr keine Kompanien, sondern Regimenter sendet, so ist es uns auch gleichgültig. Denn unser sind genug. Sieh hinauf, die Sonne ist noch nicht untergegangen, und wenn ich es wirklich gewollt hätte, würde kein Mann von euch mehr leben. Dies berichte deinem Kommandanten in Antakje und sage ihm, dass wir euch unverdient gnädig behandelt haben. Sage ihm in meinem Namen, er solle seine Regimenter und Kompanien für den Krieg mit den Feinden des Reiches aufsparen und nicht für den Krieg mit friedlichen Bürgern des Reiches. Wir wollen hier oben unbelästigt leben, weiter nichts! Laßt uns künftig in Ruhe, wenn ihr nicht noch ganz andre Erfahrungen machen wollt!« Der prahlerische Beiklang in Bagradians Worten, das Selbstbewußtsein, das in seiner Drohung lag, die klägliche Todesangst der Gefangenen, dies alles beruhigte die Mordsucht der Zehnerschaften. Sie zwangen die Türken, nicht nur ihre Waffen, Stiefel und Monturen dazulassen, sondern sich völlig nackt auszukleiden. In diesem schmählichen Zustand mussten die Entlassenen noch die Toten und Verwundeten des zweiten Kampfes den Saumpfad des Damlajik hinabschleppen. Die Beute des Tages war sehr groß: dreiundneunzig Mausergewehre, viel Munition, Bajonette. Von den sechsundfünfzig minderwertig bewaffneten Zehnerschaften konnten nun etwa zehn vollwertig ausgerüstet werden. Dies war der größte innere Erfolg. Und dieser Erfolg war ohne jedes Opfer erkauft, denn auf armenischer Seite gab es nur sechs Verwundete, darunter nicht einen schweren Fall." [54]

Es kann nicht wundernehmen, dass der überwältigende Sieg in seinem wirklichen Werte von Zehnerschaften und Lagervolk bedenklich überschätzt wurde. Arme vertriebene Bauern, ohne hinreichende Wohnung und Nahrung auf der Hochfläche des Damlajik horstend, schlechtbewehrte Fäuste, todesgewisse Seelen hatten eine kriegsstarke Kompanie, also einige hundert junge, monatelang ausgebildete, modern gerüstete türkische Infanteristen geschlagen, und nicht nur geschlagen, sondern beinahe vernichtet. Keine vier Stunden hatte dieser grausame, aber leichte Kampf gedauert. Alles ging dank einem überlegenen Plan und dem trefflichen Verteidigungsbau im Handumdrehen und ohne nennenswerte Verluste. Trotz dem mächtigen Angreifer hatte nur ein Teil des ersten Treffens sich am Kampf beteiligt, während die größere Hälfte verschont geblieben war und das zweite Aufgebot, die Reserve, nicht einmal hatte in Bereitschaft treten müssen. "Bildeten all diese nie erträumten Tatsachen nicht einen sonnenklaren Beweis dafür, dass die Lage der sieben Gemeinden glänzend war, dass sich die Armee des Damlajik, die eine ganze Kompanie ohne eigene Verluste zum Teufel geschickt hatte, auch gegen vier Kompanien, werde halten können? Und selbst die eingefleischten Schwarzseher mussten sich da fragen, woher denn die türkischen Ersatzkader überflüssige Bataillone und Regimenter für den Damlajik aufbringen sollten, da Dschemal Pascha doch jedes Gewehr für seine menschenarme vierte Armee brauchte. Da schon die Schwarzseher sich solcher Gedanken vermaßen, war es für die Optimisten nahezu selbstverständlich, dass die Türken nach der auskömmlichen Belehrung den Angriff nicht wiederholen würden und dass für absehbare Zeit wenigstens das Leben des Armenierstammes vom Musa Dagh gerettet war." [55]
 

5. Denkfaules Gewissen der Welt; graubärtiger türkischer Oberst, ein Bimbaschi alten Stils, "dem man es von weitem ansah, dass er seine Ruhe und Bequemlichkeit mit Heldenmut bis zum letzten Blutstropfen verteidigen wollte"; Djewded Pascha, der bekannte Massakergeneral und Schwager Envers

Damit verkehrt sich für die Waffenstolzen der ganze Lebenssinn, denn die Ehre des Kriegshandwerks gerät bedenklich ins Wanken, wenn intelligente Christen "die gewerbsmäßigen Helden gewissermaßen im Nebenberuf" gründlich verbleuen. Dies aber war in dem Gefecht vom vierten August unzweifelhaft der Fall. "Recht besehen, übertraf diese Schlappe noch die Ungelegenheiten von Wan und Urfa. Denn dort handelte es sich um sehr volkreiche Armenierstädte, deren Insurrektion im Zeichen des russischen Vormarsches stand. Der verzweifelte Aufruhr von Wan war mit Rücksicht auf den vorrückenden Reichsfeind sogar außenpolitisch mehr als erwünscht, bot er doch vor der Welt die herrlichste Handhabe, das Verbrechen an der armenischen Millet a posteriori überzeugend zu rechtfertigen. Da habt ihr nun den klaren Beweis, dass die Armenier Hochverräter sind und dass wir uns von ihnen befreien müssen. Der Staatsräson ist es niemals darauf angekommen, eine anmutige Volte zwischen Ursache und Wirkung zu schlagen. Das schlechte, jedoch um so denkfaulere Gewissen der Welt, die Presse der jeweiligen Machtgruppen und das durch sie verschnittene Hirn ihrer Leser haben das Ding immer nur so gedreht und verstanden, wie sie es gerade brauchten. Über die Sache von Wan durfte man bestimmten Ortes empört schreiben und empörter lesen: »Die Armenier haben gegen das osmanische Staatsvolk, das sich in schwerem Krieg befindet, die Waffen erhoben und sind zu den Russen übergegangen. Die von Armeniern bewohnten Vilajets müssen daher von diesem Volke durch Deportation befreit werden.« Ähnliches konnte man in den türkischen Verlautbarungen lesen, nicht aber die Umkehrung, welche die Wahrheit enthielt: »Die Armenier von Wan und Urfa haben sich, in Verzweiflung über die längst im Gang befindliche Deportation, gegen die türkische Militärmacht so lange zur Wehr gesetzt, bis sie durch den Einmarsch der Russen erlöst worden sind.« Was aber, Allah ist groß, konnte man über den Aufstand vom Musa Dagh schreiben und lesen? Er war politisch weit weniger verwertbar, als die Kunde davon gefährlich werden konnte. Es mussten sich nur an verschiedenen Orten, dem Beispiele gehorchend, ein paar Bagradians finden, um das Reich in ernsthafte Schwierigkeiten zu stürzen. Da der Tod über jede armenische Seele beschlossen war, da sich hier und dort noch immer Waffen befanden, so musste man mit dergleichen Verwicklungen rechnen." [56]

Die Bürger von Antiochia, vor denen man die Schmach vorläufig noch verborgen hielt, sahen das Sitzungszimmer des Kaimakams bis tief in die Nacht hell erleuchtet und ahnten daher Schlimmes. Der Landrat saß der großen Bezirkskonferenz vor, die ungefähr aus vierzehn Herren bestand. "Sein aufgeblähter Leib schien bei jedem Atemzug den Sitzungstisch von sich schieben zu wollen. Das leberkranke Gesicht des Kaimakams mit den schwarzbraunen Augensäcken war in dem mattversöhnlichen Petroleumlicht noch gelber als sonst. Die Räte ereiferten sich in weitschweifigen Reden. Er aber schwieg in sorgenvoller Versunkenheit. Die schlaffen glattrasierten Wangen hingen ihm in den weitausgeschnittenen Kragen, und der Fez war über die linke Schläfe gerutscht, ein Zeichen missgelaunter Schläfrigkeit. Rechts vom Kaimakam saß der Militärkommandant von Antiochia, ein graubärtiger Oberst, ein Bimbaschi alten Stils mit kleinen Augen und roten Kinderwangen, dem man es von weitem ansah, dass er seine Ruhe und Bequemlichkeit mit Heldenmut bis zum letzten Blutstropfen verteidigen wollte. Neben ihm sein Stellvertreter, ein jüngerer Jüsbaschi, Major von kaum zweiundvierzig Jahren, war sein scharfer Gegensatz, wie es ja bei solchen militärischen Zweigespannen meist üblich ist. Ein schlanker Mann mit ausgemergelten Willenszügen und tiefliegenden Augen, deren verhaltener Blick der Runde hie und da zur Kenntnis brachte: Es ist ein Unglück, dass ich diesen alten Trottel von Oberst mit mir schleppen muss. Ihr kennt mich ja und wisst, dass ich zu allem fähig bin und alles durchführe, was ich mir vornehme. Denn ich gehöre zur Ittihad-Generation. Einer der Zugsoffiziere der geschlagenen Kompanie, der einzige Mülasim, welcher den vierten August überlebt hatte, derselbe, der von Gabriel Bagradian mit seiner Botschaft nackt nach Antakje gesandt worden war, stand vor der Bezirkskonferenz, um Bericht abzulegen. Man konnte es ihm nicht übelnehmen, dass er zur Rechtfertigung des Unglücks die Verteidigungskraft der Armenier mit den wildesten Farben malte. Es müssten sich ihrer zehn-, ja zwanzigtausend auf den Höhen des Musa Dagh in den stärksten Befestigungen verborgen halten. Auch hätten sie wohl schon seit Jahren so viel Waffen, Munition und Proviant gesammelt, dass sie ohne jede zeitliche Begrenzung Widerstand leisten könnten. Er, der Mülasim, habe mit eigenen Augen zwei eingebaute Maschinengewehre gesehen, die außer der zehnfachen Übermacht den unheilvollen Ausgang entschieden hätten. Der Kaimakam sagte kein Wort, stützte den Kopf in seine rechte Hand und warf einen Blick auf die Kriegskarte des Ottomanischen Reiches, die auf dem Konferenztisch lag, obgleich so große Dinge hier niemand angingen. Die Beamten des Hükümets aber vergnügten sich oft damit, die Fronten mit Fähnchen auszustecken. Trotz der wohlwollenden Künste der Beamten sah das Zukunftsbild nicht rosig aus. Die Fähnchen rückten immer weiter ins türkische Fleisch vor. Die Kriegslage unter Enver Paschas Führung rechtfertigte seinen Ruhm nicht. Die Kaukasusarmee, die besten Korps, bedeckten als unbegrabene Skelettfelder die Pässe und Täler des weglosen Gebirges. Die Russen aber standen schon an der Grenze Persiens, mit dem Gesicht gegen Mossul, und jagten Djewded Pascha, den bekannten Massakergeneral und Schwager Envers, vor sich her. Die Engländer mit ihren Hindus und Gurkhas bedrängten Mesopotamien. Die großartige Suez-Expedition Dschemals war im wahrsten Sinne des Wortes im Sande verlaufen. Der Wüstensand hatte Männer und Material verschluckt. Währenddessen aber drückten die Alliierten auf der Halbinsel Gallipoli, von den Riesengeschützen ihrer Flotten unterstützt, fast schon die Tore Stambuls ein. Unendliche Mengen von Mordmitteln und anderem Kriegsgerät waren bei all diesen Gelegenheiten bereits vergeudet worden. Die Türkei aber besaß keine oder beinahe keine Rüstungsindustrie. Sie war von der Gnade Krupps in Essen und Skodas in Pilsen abhängig. Diese Erzeugungszentralen des Todes konnten die ihnen näherstehende Kundschaft und deren unermesslichen Verbrauch kaum mehr kulant bedienen. Nur spärlich tröpfelte von der Riesenmasse der täglich erzeugten Kanonen, Haubitzen, Mörser, Maschinengewehre, Hand- und Gasgranaten ein Bruchteil für die Türkei ab, musste aber dann mit möglichster Eile an die verschiedenen Fronten befördert werden. Daher kam es, dass die riesigen Etappengebiete des Reiches nicht nur von Mannschaften, sondern auch von Waffen und Gerät in hohem Grade entblößt waren. Vielleicht stand es im Etappenbereich der Vierten Armee, in Syrien, deshalb am schlimmsten, weil Dschemal Pascha seine zweite Suez-Expedition vorbereitete und alle verfügbaren Kräfte langsam in Palästina zusammenzog. Jedenfalls trafen aus Damaskus und Jerusalem unausgesetzt dringende Anforderungen von Männern, Kriegsmitteln und Proviant in den syrischen Städten ein. Maschinengewehre gar waren unerschwingliche Träume. Als der Kaimakam dieses Wort aus dem Munde des armen Mülasims hörte, sah er ihn mit seinen schweren Augen geistesabwesend an und murmelte versunken: »Maschinengewehre?!« [57]
 

6. Mohammedanische Nachbarschaft und der "mohammedanische Pöbel"; 2. türkischer Angriff ("misslungene Liquidation")

Nach der Deportation der Armenier waren "die Bauern der mohammedanischen Nachbarschaft in die armenischen Obstgärten eingebrochen, um eine gute Ernte heimzuführen", man hörte ferner, "dass der mohammedanische Pöbel die Häuser schon bis auf den letzten Nagel und das letzte Fensterkreuz auszurauben begonnen habe." Zudem hatten Mohadschirfamilien, die aus Zilizien eingetroffen waren, die Erlaubnis bekommen, sich anzusiedeln. "Man erfuhr auch, dass sich in der letzten Woche einige Mollahs, islamische Kleriker, in den Dörfern gezeigt und die Kirchen besichtigt hätten, weil diese demnächst in Moscheen sollten umgewandelt werden. Stephan bekam die Kunde, dass im Hause Bagradian sich ein Mohadschir mit einer mehrköpfigen Familie eingenistet habe, Leute, die erst vor ein paar Tagen mit einem Ochsenkarren in Yoghonoluk eingelangt seien." [58]

Wie reagierten die Türken beim zweiten Angriff? "Die Türken schienen allesamt von einer rasenden Angst gepackt. Sie vermuteten einen plötzlichen Überfall der armenischen Krieger. Sie schossen wie Wahnsinnige nach allen Seiten, teils um ihre Furcht loszuwerden, teils um die Posten in den anderen Dörfern durch Schnellfeuer zu Hilfe zu rufen." [59]

Die Türken hatten diesmal ihren Schlag feldmäßiger und listiger vorbereitet. "Der Bimbaschi-Militärkommandant von Antiochia, jener freundliche alte Herr mit den schläfrigen Äuglein und roten Kinderwangen, führte den Kriegszug in eigener Person. Sonderbarerweise hatte sein Stellvertreter, der scharfe Jüsbaschi, gerade in diesem Zeitpunkt einen kurzen Urlaub genommen und war nach Aleppo gereist, so dass er außerhalb jeder Verantwortung stand. Da des Bimbaschi ebenso geruhsame wie kluge Mäßigung sich im Rate gegen den Kaimakam und den Major nicht hatte durchsetzen können, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Feldzug gegen den Musa Dagh mit größter Beschleunigung zu rüsten. Der Ärger und die Erbitterung über seine Feinde gaben den Entschlüssen und Vorbereitungen des gemächlichen Mannes einen unerwartet tatkräftigen Schwung. Er verbrachte beinahe einen ganzen Tag im Telegrafenamt von Antakje. Der Morseapparat spielte in die drei Richtungen von Alexandrette, Aleppo und Eskereh, um alle kleinen Ortsbesatzungen des Militärs und der Gendarmerie, die innerhalb der Bezirksgrenzen stationiert waren, auf die Beine zu bringen. Binnen viermal vierundzwanzig Stunden hatte der alte Oberst eine beträchtliche Streitmacht von etwa tausend Gewehren und zwei Geschützen zusammengetrommelt. Sie bestand aus den zwei regulären Kompanien, die in Antakje disloziert waren, aus zwei Zügen desselben Regimentes, die aus den kleinen Ortschaften kamen, aus jener Halbbatterie, die im Laufe dieser Tage in der Garnison eingetroffen war, ferner aus einer ganzen Kompanie Saptiehs und schließlich aus einer großen Freischar von irregulären Tschettehs aus dem Gebirge bei Hammam. Gleichzeitig hatten Kundschafter die Stellungen des Damlajik, wenn auch nicht ganz zuverlässig, so doch zum Teil ausgeforscht. Der Aberglaube an die zwanzigtausend Armenier und ihre Maschinengewehre war in nichts zusammengebrochen. Dem Bimbaschi stand, was Mannschaft und Bewaffnung anlangt, eine derartige Übermacht zur Verfügung, dass die Liquidation des Armenierlagers nur eine Frage von Stunden sein konnte. Die Taktik hatte in einem völlig gedeckten Aufmarsch und in einem überfallartigen Zugriff zu bestehen, dies war das Wichtigste. Beides, der gedeckte Aufmarsch und die Überraschung, gelangen dem Bimbaschi vortrefflich. Sämtliche Beobachter auf dem Musa Dagh wurden getäuscht. Der Oberst hatte seine Armee in zwei ungefähr gleichwertige Einheiten geteilt, die unabhängig voneinander operieren sollten. Die eine Hälfte marschierte in der Nacht des dreizehnten August unter den schärfsten Vorsichtsmaßregeln gegen den Flecken Suedja und lagerte sich, wohlverteilt und verborgen, in den Ruinen von Seleucia, unterhalb der Südbastion. Das andere Korps hingegen, bei dem sich der Kommandant und die Artillerie befand, zog ein Stück der Straße Antakje-Bailan in nordwestlicher Richtung entlang und wandte sich dann auf schlechten Maultierwegen ins Gebirge. Hiebei erhielt der Kriegsplan des Bimbaschi das erste Loch. Die schweren Feldhaubitzen kamen kaum vorwärts, obgleich je zwei Männer unablässig in den Speichen jedes Rades lagen und andere den schweren Sporn der abgeprotzten Geschütze die fünfzehn Meilen des sauren Bergweges mit ihren Händen tragen mussten. Die Packesel, die man als Gespann benützte, erwiesen sich als artilleristische Zugtiere so gut wie unbrauchbar. Die Folge dieser Misshelligkeit war eine Verspätung von zehn Stunden. Diese Truppe, die schon einen halben Tag früher als die erste aufgebrochen war, kam anstatt in der Nacht des dreizehnten August gegen Mittag des vierzehnten auf den Höhen des Musa Dagh an, welche sich nördlich des Sattels erstrecken. Der Doppelangriff, der für die erste Stunde nach Sonnenaufgang angesetzt war, wurde damit hinfällig. Der Hauptmann, der das Südkorps befehligte, und seine Soldaten, die den Kopf aus ihren Verstecken in den glühenden Ruinen nicht heben durften, waren durch das Ausbleiben des vereinbarten Angriffszeichens (der erste Haubitzenschuss) und durch das endlose Warten unter den Strahlen der erbarmungslosen Sonne schon völlig zermürbt. Noch schlimmer stand es um die Nordgruppe. Ein fünfzehnstündiger Gebirgsmarsch ohne Nachtruhe, nur durch drei kurze Rasten unterbrochen, lag hinter ihr. Der Oberst hätte sich sagen müssen: Ich werde heute meinen Leuten Ruhe gönnen, dem Hauptmann nach Suedja Botschaft senden und den Angriff auf morgen früh verschieben. Der bequemen Natur des alten Herrn gemäß würde auch jedermann hundert gegen eins gewettet haben, dass er diese Entscheidung treffen werde. Und doch geschah das Gegenteil. Bequeme Menschen sind sehr oft auch ungeduldige Menschen. Sind sie in eine unerwünschte Unternehmung verwickelt, so wollen sie mit Knall und Fall fertig werden. Der Bimbaschi befahl dem Mülasim der Artillerie, seine Haubitzen sofort in Stellung zu bringen, ließ in großer Hast abkochen und führte bereits eine Stunde später seine Kompanie in dünnen Schwärmen gegen die armenische Sattelstellung, wo sie sich zuerst in großem Respektabstand in kleinen Schluchten, hinter Bäumen und Felsblöcken mäuschenstill versteckte. Der alte Friedensoberst hielt keine feurige Ansprache an seine Soldaten, sondern fluchte anstatt dessen still in sich hinein. Er fluchte dem Kaimakam und dem Jüsbaschi, er fluchte dem Etappengeneral, der ihm anstatt zerlegbarer Gebirgskanonen diese dicken und unbeweglichen Haubitzen geschickt hatte, er fluchte vor allen Dingen auf Seine Exzellenz, den Herrn Armeekommandanten Dschemal Pascha, den er einen schwarzen, buckligen Schwindler nannte. All diese politischen Offiziere von Ittihad waren seiner Meinung nach ein freches Verrätergesindel. Sie hatten die Verschwörung gegen den alten Sultan angezettelt und hielten den neuen im Palast gefangen. Lächerliche Subalternoffiziere, die sich selbst zu Generalen, Exzellenzen und Paschas ernannten... Der Bimbaschi rechnete damit, dass die Beschießung des Lagers unter den Frauen und Kindern eine Panik verursachen und auch den Kampfesmut der Männer herabstimmen werde." [60]

Die Berechnung war nicht unrichtig. Die Haubitzen hatten mehr Zufalls- als Zielglück. Von zwölf Geschossen gingen drei Schrapnells über der Stadtmulde nieder. Die Füllkugeln richteten nicht nur äußern Schaden an, sondern verwundeten drei Frauen, einen alten Mann und zwei Kinder, glücklicherweise nur leicht. "Der Volltreffer einer Granate jedoch zerstörte den Depotspeicher, setzte ihn in Brand und vernichtete den letzten Rest der Mehlvorräte sowie alles, was an Tabak, Kaffee, Reis und Zucker vorhanden war. Der Speicher stand in Flammen, und es muss eine Gnade Gottes genannt werden, dass das Feuer auf die nur mäßig entfernten Laubhütten nicht übergriff. Die Verwirrung unter dem Volk war ebenso groß wie das Unheil. Auf die Kämpfer aber wirkte das Geschützfeuer wie ein zehnfacher Alarm. Wer dienstfrei war, flog an seinen Posten. Nurhan Elleon brachte die Gräben binnen wenigen Minuten auf den vollen Angriffsstand. Die Ordonnanz- und die Spähergruppe der Jugendkohorte versammelte sich hinter den Linien. Als Gabriel Bagradian auf dem Esel herankeuchte, fand er in allen Teilen seiner Maschine schon volle Bereitschaft vor. Wenige Minuten später traf bereits die erste Meldung von der Südbastion ein. Der Überfall glückte somit den Türken nicht vollkommen. Ihr Angriff stieß auf überraschte, aber gefasste Verteidiger. Sarkis Kilikian und die Südbastion hatten heute ihren großen Tag. Der Feind war hier noch ohne jede Erfahrung. In dem breiten, vegetationslosen Halbrund des Bergabsturzes mit seinen Steinhalden und Trümmerterrassen hatten die türkischen Späher keinen Vorstoß gewagt. Der kommandierende Hauptmann wusste nicht einmal, ob hinter den zackigen Blöcken des beherrschenden Felsturmes eine Besatzung lag. Die mohammedanische Bevölkerung der menschenreichen Orontesebene, die durch den Bergkrieg erregten Einwohner der Marktflecken Suedja, El Eskel und Jedidje behaupteten, dass sich seit vielen Tagen hinter diesem Felsenkranz nichts mehr rühre und in der Nacht kein Feuerschein zu sehen sei. Der Kompanieführer jedoch war vorsichtig und supponierte jedenfalls auf dem Südrand des Damlajik armenische Stellungen, wenn auch der Anschein gegen ihr Vorhandensein sprach. Längst hatte er seine Mannschaft in eine Frontal- und in eine Umgehungsgruppe geteilt. Jene bestand aus den regulären Truppen, diese aus den Tschettehs und Saptiehs. Während die einen den unmittelbaren Aufstieg unternahmen, sollten die andern dort, wo der Halbbogen des Berges das Meer berührt, oberhalb des Gebirgsnestes Habaste, der angenommenen Armenierstellung in den Rücken fallen. Der türkische Hauptmann ließ seine Kompanie keine Schwarmlinie bilden, sondern lange gänsemarschartige Ketten, um eine möglichst kleine Schußfläche zu bieten. Da die Tempelruinen Seleucias, die den Soldaten Deckung geboten hatten, auf einer breiten Bergstufe dreihundert Meter über dem Meere lagen, hatten die Angreifer noch einen kahlen Trümmerberg von beinahe der gleichen Höhe zu überwinden, um an den Rand der Steinhalde zu gelangen, die von der Südbastion gekrönt wird. Diese Halde war nicht unbezwinglich steil, bot überall Schützendeckung und war deshalb nach der Ansicht des Bimbaschi weit besser für den Angriff geeignet als irgendeiner der waldigen Aufstiege des Damlajik, der hinter jedem Baum und Busch den Armeniern Schlupfwinkel des Hinterhaltes öffnete. Auch hätte man auf der überall eingesehenen Dörferstraße den Aufmarsch nicht verheimlichen können." [61]

Durch den gefahrlosen Aufstieg und den tiefen Frieden des Berges in Sicherheit gewiegt, ließen sich die Türken gehen, rückten zusammen, redeten und bildeten dichte Klumpen. "Erst als sie etwa die Mitte der Steinhalde erreicht hatten, stieß Kilikian einen langen Pfiff aus. Die Sturmwidder mit den mächtigen Schildplatten donnerten gegen die lockeren Mauern. Die leichteren Steine der oberen Schichten spritzten aufstaubend und fauchend wie Geschosse davon, während sich die großen Kalkblöcke des Unterbaus vornüberneigten und mit großen wilden Sprüngen unter die Türken krachten. Schon die erste Wirkung war entsetzlich. Nun aber griff der Armenierberg höchstselbst in den Kampf ein, um die Vernichtung des Feindes so grausam zu vollenden, dass diese Naturkatastrophe an der syrischen Küste auch in künftigen Menschenaltern nicht vergessen werden wird. Die Abwehrmauern waren zwischen den Zinnenkranz des Felsturms eingebaut. Die Gewalt der Widder erschütterte auch die natürliche Kalkkrone in ihren Grundfesten und riss große Splitter der Zacken mit zu Tal. Diesem unbeschreiblichen Steinschlag konnte die Vorhalde, die aus einem dicken und losen Steingeschiebe bestand, nicht widerstehen. Mit dem betäubenden Zischen und Prasseln einer noch niemals erlebten Sturmbrandung geriet sie ins Rutschen und riss wie eine ungeheure Flut aus Kalk und Kreide alles, was von den Türken noch lebte, mit sich hinab. Es war mehr als eine grausige Felslawine. Der Damlajik selbst schien sich vom Anker gerissen zu haben und in Fahrt zu kommen. Der Hügel ging über die Ruinen der Oberstadt von Seleucia nieder, warf ganze Säulen um und zertrommelte stille efeuumwachsene Mauern. Zehn Minuten lang sah es aus, als habe der Berg die grösste Lust, bis nach Suedja und an die Orontesmündung vorzurücken. Die Westgruppe des türkischen Korps wurde oberhalb des Dorfes Habaste vom Steinschlag gestreift. Die halbe Mannschaft konnte sich durch ein gnädiges Schicksal retten. Die andre Hälfte wurde getötet oder verwundet, das Dorf selbst zum Teil zerstört. Nach einer Viertelstunde trat hohle Totenstille ein. Der Bergbruch lag wieder tückisch-friedlich in der Sonnenglut. Vom Nordsattel krachten dumpf die Granateinschläge der Haubitzen herüber. Als sich kein Steinchen mehr bewegte, pfiff Kilikian zum zweitenmal. Die erstarrten Deserteure und die anderen Kämpfer kamen in Bewegung. Unter Führung des Russen spazierte die Besatzung der Südbastion gemächlich die Bergstufe hinab, machte allen türkischen Verwundeten mit großer Ruhe den Garaus und raubte die Toten buchstäblich bis auf die Haut aus. Dieses Geschäft wurde mit gelassenster Gründlichkeit besorgt, ungeachtet des schweren Kampfes, den die Brüder im Norden zu bestehen hatten. Sarkis Kilikian vertauschte seine Lumpen mit der funkelnagelneuen Montur eines türkischen Infanteristen. Trotz des frischen Blutes auf dem Rock des Toten drehte und wendete sich der Russe hin und her, als fühle er sich neugeboren. Hrand Oskanian aber hatte den höchsten Punkt des Felsturmes erstiegen und schoss wie ein Toller in die Luft, um seinen Anteil an dem Siege zu bekräftigen. Während des imposanten Geknatters, das er verübte, wunderte er sich nicht wenig, was für ein unbeträchtlich Ding die Tapferkeit für einen tapferen Mann ist." [62]

Als die Kunde von dem Steinlawinen-Wunder und von der völligen Vernichtung der türkischen Südgruppe die Stadtmulde und die Zehnerschaften der freien Abschnitte erreicht hatte, wurde das ganze Volk von "kampfdurstiger Raserei erfasst. Ter Haigasun und der Führerrat konnten die Ordnung nicht mehr aufrechterhalten. In lästerlichem Übermut fühlten sich die Seelen der göttlichen Unterstützung sicher. Die Ordonnanzen berichteten inzwischen von dem Rückzug im Norden. Die Reserve griff zu ihren Krampen, Hacken und Äxten. Männer und Weiber schrien auf Ter Haigasun ein: Zum Nordsattel! Sie wollten es heute den Türkenhunden zeigen! Dem Priester blieb nichts andres übrig, als sich an die Spitze des hellen Haufens zu stellen. Auch die freien Zehnerschaften strömten gegen Norden. Die regellose Übermacht, die von allen Seiten mit Wahnsinnsheulen einbrach, entschied die Schlacht binnen weniger Minuten. Die Türken wurden bis über den eroberten Graben hinaus in ihre Ausgangsstellung zurückgeschleudert. Bagradian rief Ter Haigasun zu, er möge die Reserve sogleich ins Lager zurückführen. Wenn die Haubitzen jetzt ihr Feuer eröffneten, würde in dem dichten Menschenknäuel unabsehbares Unglück geschehen. Mit großer Mühe gelang es dem Priester, die entfesselte Horde wieder zurückzutreiben. Schweiß- und blutbedeckt begannen die Verteidiger indessen, die zerstörten Stellen des Hauptgrabens in fieberhafter Eile auszubessern. Gabriels gemarterte Nerven erwarteten in jedem Augenblick die erste Granate. Bis zur Dämmerung war es noch länger als eine Stunde. Die Granate, deren Heulen Bagradian ununterbrochen hörte, kam und kam nicht. Hingegen ereignete sich etwas ganz Unerwartetes. Ein langes Trompetensignal sprang auf. Hinter dem Waldrand der Gegenhöhe entstand lebhafte Bewegung, und sehr bald meldeten die Späher, dass sich die türkische Streitmacht im Eilschritt zurückziehe, und zwar auf dem kürzesten Wege ins Tal. Man konnte noch bei vollem Tageslicht beobachten, wie sich die Truppen auf dem Kirchplatz von Bitias lagerten und wie der Oberst mit seinem Stab in scharfem Trab über Yoghonoluk und die südlichen Dörfer gegen Suedja ritt. Es war ein Tag, siegreicher und vor allem gnadenreicher als der vierte August. Und doch herrschte am Abend kein Jubel, ja nicht einmal eine glühende Freude, weder in den Stellungen noch auch in der Stadtmulde." [63]

Die Türken verloren auch diesmal wieder auf ganzer Linie: "Das Schicksal dieser Haubitzen war auch der Grund, weshalb der arme Bimbaschi mit den Kinderwangen sich noch glücklich schätzen musste, anstatt als General-Pascha seine Laufbahn als militärischer Rechnungsbeamter der anatolischen Eisenbahn zu beenden. Vor dem Kriegsgericht schwur er zwar bei Allahs Barmherzigkeit hundert Eide, dass er die im Reglement vorgeschriebene Geschützbedeckung nicht vergessen habe, sondern dass die verbrecherischen Saptiehs und Tschettehs sich ohne Erlaubnis aus dem Staube gemacht hätten. Obgleich diese Wahrheit erweislich war, half sie dem Guten nicht im geringsten. Er hätte die Pflicht gehabt, einen Zug der regulären Soldaten vor die Batteriestellung zu legen. Mit diesem Versehen aber war das Pech des Bimbaschi noch nicht erschöpft. Der Leutnant der Artillerie war nach dem Abzug der Infanteristen in seiner gänzlichen Befehlsverlassenheit und in Ermangelung eines auch nur halbwegs verlässlichen Unteroffiziers selbst zu Tal gestiegen, um sich die Ordre de bataille für den nächsten Tag zu holen. Daraufhin aber waren auch die als Fahrkanoniere gedungenen Eseltreiber in der gesunden Meinung, man brauche sie des Nachts ja nicht, ohne weiteres in die Dörfer verduftet. Angesichts solcher Feldmoral und der grausigen Begebenheit im Süden fiel das Urteil über den Bimbaschi noch unverhältnismäßig milde aus. Sonderbarer- und glücklicherweise griff Dschemal Pascha, »der schwarze bucklige Schwindler«, der sich sonst um jede Kleinigkeit kümmerte, diesmal nicht persönlich ein. Vielleicht waren die Suez-Sorgen des Feldherrn daran schuld, vielleicht auch noch ein andrer Grund, der mit dem Verhältnis des hässlichen Dschemal zu dem von der Welt vergötterten Enver in Stambul zusammenhing.... Haik zog den Stadtknaben durch die dichten Rhododendronbüsche bis an die Grenze der Batteriestellung. Zehn Schritte vor ihnen schnarchten die Schläfer. Der Posten blickte aus leeren Augen in den durch das starke Mondlicht sternlosen Nachthimmel. Zeit und Raum dehnten sich ahnungslos und voll Geduld. Stephan prüfte mehrere Äste, damit er den Lauf des Mausergewehres bequem auflegen könnte. Er zielte sehr lange und ohne Erregung, als seien die Gestalten dort nicht von Fleisch und Blut, sondern die ausgeschnittenen Jahrmarktpuppen einer Schießbude. Dieses Kind der europäischen Kultur war jetzt von keiner anderen Regung erfüllt als von dem Ehrgeiz, die im Mond leuchtende Menschenstirn des Wächters vors Korn und das Korn richtig in die Visierscharte zu bekommen. Mit dem kältesten Herzen der Welt zog er das Züngel ab, empfand selbstbewusst Knall und Rückstoß und sah, mit sich herzlich zufrieden, den Mann zusammenbrechen. Als die Schläfer aufsprangen, nicht wissend, was hier vorging, zielte er schneller, aber um nichts unsicherer, und zog noch einmal, zweimal, dreimal, viermal das Zünglein ab, immer wieder den Verschluss mit kräftigem Griffe spannend. Die fünfzehn Türken waren Redifs, ältere Männer, die von dem Sinn dieses Feldzuges kaum eine Ahnung hatten. Sie irrten durcheinander. Fünf Kameraden wälzten sich schon in ihrem Blute. Der Feind war unsichtbar. Da suchten diese braven, zum Militär gepressten Bauern nicht lange erst Deckung, sondern stürzten in kopfloser Flucht davon, in den Wald hinein, weit, weit fort, auf Nimmerwiedersehen. Haik jagte ihnen die fünf Kugeln seines Magazins nach. Keine traf, wie Meister Stephan verächtlich feststellen konnte. Die Haubitzen, die Protzen, die Munitionswagen, die Geschoßverschläge, die Karabiner, die Zugtiere blieben verlassen zurück. So rächte ein vierzehnjähriger Knabe mit fünf Patronen die millionenfache Ausrottung seines Stammes an harmlosen, zu den Waffen gezwungenen Bauern, an den Unrechten also, wie es ja der Krieg und die Rache immer mit sich bringen." [64]

Zu groß war der unglaubwürdige Eindruck, zu atemraubend der Triumph dieser Beute, als dass jemand sich Zeit genommen hätte, nach dem Kampf zu fragen. "Nur rasch die Geschütze bergen, ehe die Türken zurückkommen! Die Aussichten der Verteidigung schnellten gewaltig empor. Zweihundert Arme tauchten auf. Die Gespanne, die Protzen, die Munitionswagen wurden auf die Höhe getrieben und die Haubitzen an die Protzen gehängt. Jeder einzelne schob mit, riss an den Strängen oder griff in die Speichen. Die Fahrt rasselte über den weglosen, zerschrundeten Bergrücken, aber die Nacht löste Stock und Stein, die Härte aller Hindernisse in weiche Nachgiebigkeiten auf. Manchmal schien es, als schwebten unter der begeisterten Kraft der zupackenden Arme die Lafetten hoch über dem Boden. Keine drei halbe Stunden vergingen, und die Haubitzen waren, trotz der unglaublichen Bodenverhältnisse, dort in Stellung gebracht, wo Gabriel Bagradian sie haben wollte. Er hatte sich die Tat Stephans kurz berichten lassen. Der Schreck aber, der in seinem Herzen noch nachzitterte, verschloss seinen Mund. Er konnte den Sohn nicht beloben. Der verwegene Handstreich auf eigene Faust gab seiner Überzeugung nach nicht nur den Halbwüchsigen, sondern auch den Zehnerschaften ein gefährliches Beispiel. Wenn jeder die Lust bekam, sein eigenes Heldenstückchen zu spielen, so ging die einheitliche Befehlsgebung und Disziplin auf dem Damlajik zum Teufel, jene beiden Mächte, die einzig und allein das Leben des Volkes für einige Zeit noch verbürgen konnten. Noch tiefer aber saß die Sorge um Stephan selbst. Zweimal hatte ihn ein übergnädiges Schicksal aus halsbrecherischen Wagnissen, die er selbst nicht zu begreifen schien, heil zurückgeführt. Der Junge war gewiss nicht bei Sinnen. Und auf dem Dreizeltplatz einsperren konnte man ihn nicht. Gabriel Bagradian aber gab sich diesen Gedanken nicht hin, denn jetzt erfüllten die Geschütze gänzlich seinen Geist. Er kannte die Type dieser Feldhaubitzen genau, denn er hatte während des Balkankrieges bei einer Batterie dieser Art gedient. Es waren österreichisch-ungarische 10-cm-Feldhaubitzen, Muster 1899, der Türkei von den Skodawerken geliefert. In dem Munitionswagen des zweiten Geschützes befanden sich noch dreißig Geschosse in den Verschlägen. Gabriel sah alles, was er brauchte und an dessen Gebrauch er sich noch leidlich erinnerte. Die Richtapparate für verdecktes Schießen, eine Feuerinstruktion und Schusstabellen im Lafettenkasten. Er rief seine alten Kenntnisse ins Gedächtnis zurück, berechnete die Entfernung nach Bitias, suchte die Position des türkischen Nachtlagers genau zu ermitteln, schraubte am Aufsatz, um die angenommene Seitenrichtung festzulegen, zog die Höhe seines Standortes in Betracht, elevierte die Geschützrohre mit dem kleinen Rad, bis die Libelle der Wasserwaage ins Gleichgewicht kam, dann erst klappte er die Verschlüsse auf, tempierte zwei Granaten mit dem Schlüssel, schob die Geschosszylinder ins Rohr und drückte die Kartuschen nach. Sehr lange brauchte seine ungeübte Hand zu diesem Werk, bei dem ihm nur Tschausch Nurhan in sehr bescheidenem Grade helfen konnte. Beim ersten Morgenstrahl kontrollierte Bagradian alle Richtelemente noch einmal, dann knieten er und Nurhan, jeder nach Vorschrift, zur Seite ihrer Haubitze, die Zündschnur in der Hand. Der kurze schreckliche Knall, Schlag auf Schlag, zerfetzte die Luft. Rückfahrend bohrte sich der Sporn der Geschütze tief in die Erde. Weitab von Bagradians Ziel gingen die schlechtgelenkten Schrapnells irgendwo über dem Tale nieder. Schon bloß das Ereignis genügte, um das ganze mohammedanische Land von dem neuen Christensieg, von dem Verluste der türkischen Artillerie, von der Uneinnehmbarkeit des Damlajik und von der offenkundigen Tatsache in Kenntnis zu setzen, dass die Armeniersöhne einen Pakt mit den fernhin bekannten Dschinns, den bösen Geistern des Musa Dagh, geschlossen hatten. Die Tschettehs waren noch im Laufe der Nacht verschwunden und ein Teil der Saptiehs, die nicht in diese Nahijeh gehörten, mit ihnen. Der dürftige Rest der Kompanien aber war überzeugt, dass auch der Angriff einer ganzen Division auf den Teufelsberg aussichtslos bleiben würde. Der Bimbaschi hätte einen neuen Angriffsbefehl nicht wagen dürfen, ohne eine Meuterei der jungen Mannschaft heraufzubeschwören. Er dachte auch gar nicht an eine solche Vermessenheit, sondern an eine weit kleinlautere Frage: Waren die langen Züge mit den Toten- und Verwundetenwagen unbemerkt nach Antakje gekommen, wie er es ausdrücklich befohlen hatte? Das Gesicht des alten Mannes war aschgrau. Nach zwei schlaflosen Nächten und den Aufregungen des Kampfes konnte er sich kaum mehr auf seinem Pferde aufrecht halten. Sein Untergang war besiegelt. Des Bimbaschi tief herabgemindertes Denkvermögen, das in guten Tagen schon allzu bequem war, konnte auf kein Mittel verfallen, den gottverfluchten Kaimakam samt allen Beamtenfüchsen, die an der Armenierschmach schuld waren, mit in den Untergang zu reißen. Die beiden gewaltigen Donnerschläge in nächster Nähe wirkten in der Stadtmulde wie dröhnende Signale des göttlichen Heils. Selbst die Härtesten und Verschlossensten umarmten einander und weinten. »Vielleicht will Christus unsre Rettung doch!« Der morgendliche Lichtgruß hatte noch niemals so von innen erleuchtet geklungen. – Was die Bagradians anlangt, schien nun, doppelt bekräftigt, ihr Königsrang für immer festzustehen. Zu Gabriel kamen einige Männer und baten ihn um die Erlaubnis, seinem Sohne Stephan den Heldentitel »Elleon« verleihen zu dürfen. Gabriel Bagradian lehnte nicht ohne leichte Heftigkeit ab. Sein Sohn sei noch ein Kind, das von Gefahr keine Vorstellung habe. Er wünsche nicht, Stephan eitel zu machen und ihn dadurch zu neuen Wahnsinnstaten anzueifern, die einmal ein entsetzliches Ende nehmen könnten. Durch die Strenge seines Vaters kam Stephan daher um die öffentliche Anerkennung. Er musste sich mit der kleinen Münze des Lobes begnügen, die ihm in den nächsten Tagen überall zuteil wurde. In späterer Zeit schrieben die armenischen Chronisten, die über die Schlachten auf dem Damlajik berichteten, nur über »die Heldentat eines jugendlichen Schützen«, ohne den Namen zu nennen. Doch was hätte dem Bagradian-Sohn selbst der namentlichste Nachruhm genützt?" [65]

Nicht mehr als drei Tage und drei Nächte waren hingegangen, da meldeten die Beobachter allerlei unverständliche Bewegungen in den Dörfern. Gabriel Bagradian bezog sofort einen Späherposten. Und wirklich, im Ausschnitt des Zeißglases zeigte sich lebhaftes Gewimmel in scharf unterschiedenen Gestalten. In der Orontesebene, auf der Straße zwischen den Dörfern, auf den Karrenwegen und Saumpfaden ringsum schlichen Züge von Ochsenkarren dahin. In den Dörfern selbst sah man größere Menschenhaufen mit Fez und Turban in eiligem Hin und Her. Gabriel tastete jedes Fleckchen mit dem Glas ab, doch er bemerkte nicht einen einzigen Soldaten und nur einige wenige Saptiehs. Dagegen bemerkte er, dass diesmal nicht nur der altbekannte moslemische Pöbel von Antakje und Umgebung in die verlassenen Ortschaften eingebrochen war; der Zustrom des heutigen Tages machte einen gewichtigeren Eindruck und schien auf ein planvolles Ziel hinzusteuern. [66]
 

7. "Landnahme eines christlichen Bezirkes durch den Islam"; Jungtürken mit ihrer Geheimorganisation Ittihad, zu denen auch Enver Pascha, Dschemal Pascha und Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) gehörten, waren für den Völkermord an den Armeniern ("Abwicklung der Armenierdeportation") verantwortlich

Auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk herrschte hastiges Treiben. "Turbanträger erkletterten die Feuerleiter der Kirche und bewegten sich im leeren Glockenturm seitlich der großen Kuppel. Langgedehnte Töne eines ganz dünnen Stimmchens wurden hörbar, nein, ahnbar, die in die vier Weltrichtungen verhallten. Vom Hause Christi schickte der Gebetrufer des Propheten die klagende Lockmelodie aus, die jeden Moslem erzittern lässt" und die nun aus allen Flecken, Weilern, Hütten des öden Landes die Allahbesessenen in die Dörfer des Musa Dagh zu verführen schien. Das Schicksal der Kirche »Zu den wachsenden Engelmächten«, die Awetis der Alte errichtet hatte, war besiegelt. Und im Hirne des Enkels zuckte der heiße Wunsch auf, den stolzen Zerstörungsversuch mit einigen Haubitzgranaten zu wagen. Doch er verwarf dieses Gelüste, kaum dass es geboren war. Sein alter Grundsatz, immer nur verteidigen, nie angreifen, durfte von ihm am allerwenigsten durchbrochen werden. Am gefährlichsten wirkte der Berg auf die Feinde dort unten gewiss, wenn er tot und geheimnisvoll dalag. "Jede Herausforderung musste den Abwehrkampf schwächen, weil sie den Türken", als die Besatzermacht, ein moralisches Recht der Strafe verschaffte. Angesichts des unbekannten Gewimmels im Tale fragte sich Bagradian, wie viele Kämpfe man noch werde durchhalten können. Die Munition blieb trotz der zweimaligen Siegesbeute und Nurhans Patronenmanufaktur äußerst begrenzt. Herzbeklemmend war der Umstand, dass der geringste Misserfolg, die kleinste Schlappe unwiderruflich zum Untergang führen musste. Für das Volk des Damlajik gab es keine Zwischenstufen, sondern nur Siege oder den Tod. Der Verlust eines einzigen Grabens schon bedeutete das Ende. Gabriel Bagradian überlegte wie schon tausendmal, dass nicht nur ein solcher Verlust das Ende bedeute, sondern alles, das Gute und Schlimme, wie immer es sich auch gestalte. Seine kriegerische Kunst hatte nur dieses Ende hinauszuzögern, so lange wie möglich. Zu diesem Zwecke durfte das Kapital der panischen Angst, die der Berg den Türken nach ihrer doppelten Niederlage offensichtlich einflößte, nicht unnütz verausgabt werden. Die neue Bevölkerung des Tals wuchs von Minute zu Minute. Eine militärische Unternehmung ist sicher nicht geplant, stellte Bagradian nach längerer Zeit fest. "Die Absicht dieser Neusiedlung aber verstand er noch nicht ganz. Vielleicht war es die wirkliche, vielleicht nur die demonstrative Landnahme eines christlichen Bezirkes durch den Islam. Vor der Kirchentür von Yoghonoluk unterschied er eine kleine Gruppe von europäisch gekleideten Herren. Der Müdir mit seinen Unterbeamten, meinte er und freute sich, dass kein Offizier dabei war, um die Kriegslage zu begutachten. Dennoch gab Gabriel Bagradian den Befehl, die Bereitschaft in den Stellungen aufs äußerste zu verschärfen. Er ließ ferner alle Beobachterstände mit verdoppelten Posten besetzen und legte Kundschaftergruppen an alle Zugangspunkte des Damlajik bis zu den Obst- und Weingärten hinab, damit sie einen etwaigen Überrumpelungsversuch der Türken bei Nacht unmöglich machten." [67]

Gabriel hatte richtig geschätzt. Vor der Kirche von Yoghonoluk stand der sommersprossige Müdir. Doch es war noch ein Ranghöherer erschienen, der leberkranke Kaimakam höchstselbst, um nach dem Rechten zu sehen. Das hatte seinen guten Grund. In Antiochia nämlich war nach dem zweiten, noch traurigeren und schmählicheren Rückzug der regulären Streitmacht einiges geschehen, was bedeutsame Folgen nach sich zog. "Zwischen dem Kaimakam und dem armen Bimbaschi mit den Kinderwangen war sofort der Kampf auf Leben und Tod ausgebrochen. Der schlichte Kasernenvater einer vergangenen Zeit zeigte sich der Ittihad-Feinheit des neuen Stils in keiner Weise gewachsen. Erst jetzt ahnte er, warum sein scharfer Todfeind und Stellvertreter, der Jüsbaschi, in diesem Zeitpunkt gerade Urlaub genommen hatte. Indem er ihm diesen Urlaub gewährte, war er dem Stellvertreter auf den Leim gegangen. Nun würde der Major tatsächlich in Bälde seine Stelle vertreten. Es begann damit, dass der Kaimakam den Volkszorn gegen den Bimbaschi schlau zu entfesseln wusste. In Antiochia gab es nur ein einziges Lazarett, das der Zivilbehörde unterstand. Die kranken Soldaten verblieben bei leichteren Fällen in der Kaserne. War aber ärztliche Behandlung und Pflege erforderlich, so musste das Militärkommando beim Kaimakamlik um Spitalaufnahme der Schwererkrankten bittlich werden. Diese bürokratisch vertrackte Umständlichkeit machte sich der Kaimakam heimtückisch zunutze. Wenn der Oberst auf jeden Fall erledigt war, so hätte sich die Sache mit Berichten und Untersuchungen doch noch viele Wochen lang hinziehen können, ehe seine Absetzung erfolgte. Man wäre keinen Schritt weitergekommen. Der Kaimakam aber brauchte für seine Politik in der Kasah zuverlässige Ittihadleute und keine trägen Knasterbärte aus Abdul Hamids Zeiten. Der Major und er hatten die Ereignisse ziemlich genau vorausgesehen und ihre Partie miteinander abgekartet. Wenige Stunden, bevor der Bimbaschi als gebeugter Herold seiner eigenen Niederlage nach Antakje zurückkehrte, trafen in tiefer Nacht die langen Karrenzüge mit den Toten und Verwundeten des Steinschlages und des Kampfes ein. In Hükümet brannte kein Licht, obwohl man dort alles schon wusste. Als die Verwundeten ans Tor des Krankenhauses gelangten, verweigerte ihnen der Verwalter unerbittlich den Einlass. Ohne den Revers des Kaimakams dürfe auf ausdrücklichen Befehl niemand aufgenommen werden. Da half kein Zetern und Fluchen. Der Arzt legte unter freiem Nachthimmel bei Mond- und Petroleumbeleuchtung die notwendigsten Verbände an. Auch er hatte weder den Platz noch auch die Erlaubnis, den gewaltigen Zuwachs von zweihundert Mann in seiner engen elenden Spitalsbaracke unterzubringen. Verzweifelt entsandte er einen seiner Gehilfen zum Kaimakam, um Weisungen einzuholen. Nach endloser Zeit kam der Bote unverrichteterdinge zurück. Der Kaimakam schlafe so abgründig tief, dass es nicht gelungen sei, ihn zu wecken. Daraufhin entschloss man sich, die stöhnenden und weinenden Verwundeten in die Kaserne zu führen, damit sie wenigstens ein Dach über dem Kopfe hätten. Inzwischen war die Sonne aufgegangen und der Tag rasch fortgeschritten. Der Eindruck, den die blutigen Karren bei der Bevölkerung von Antiochia hervorriefen, lässt sich kaum schildern. Als um dieselbe Stunde der vom Schicksal so arg gerupfte Bimbaschi mit seinem Stab über die Orontesbrücke in die Stadt einritt, wurde er mit Steinen empfangen und konnte sich nur auf unrühmlichen Umwegen in seine Kanzlei retten. Jetzt erst, da das Gedränge des Markttages anhob, sandte der beneidenswerte Morgenschläfer von Kaimakam den notwendigen Erlaubnisschein und ließ die langen Kolonnen der Unglücklichen in das Hospital überführen, jedoch mit dem nachdrücklichen Geheiß, der Weg müsse über den großen Bazar genommen werden. Der neuerliche Anblick der gelben Leidensgesichter und blutbesudelten Verbände erweckte einen stattlichen Aufruhr. Die empörte Menge zog vor die Kaserne und schlug dem armen Bimbaschi die Fensterscheiben ein, was hierzulande die Vernichtung einer Kostbarkeit bedeutete. Doch nicht genug damit! Die Reste der bewaffneten Macht waren so niedergedonnert und kleinlaut, dass sie vor dem Pöbel die Kasernentore ängstlich verriegelten wie erschrockene Spießbürger. In jeder Menschenmenge steckt ein leichtentzündlicher Urhaß gegen die Träger der Staatsordnung. Der Pöbel empfand die Totenstille hinter den Kasernenmauern als seinen eigenen Triumph und eröffnete ein neues Bombardement. Die Offiziere flehten den Bimbaschi an, er möge ihnen den Befehl geben, den Platz durch die Wachmannschaft mit gefälltem Bajonett säubern zu dürfen. Der alte Mann lag aber auf einem Diwan und hörte auf keinen Rat. Jammernd entrang es sich immer wieder seinen Lippen: »Ich bin nicht schuld. Ich bin nicht schuld.« Durch die Strapazen zu Tode erschöpft, weinte er, wenn er nicht schlief, und schlief, wenn er nicht weinte. Das militärische Platzkommando musste zu allem andern mithin noch die Schmach erleben, dass es durch die bürgerliche Macht, das heißt durch Polizei und Saptiehs, von dem tobenden Pöbel befreit wurde." [68]

Während dieser erfreulichen Vorkommnisse begab sich der Kaimakam mit dem wohlmanikürten Müdir aus Salonik auf das Telegrafenamt der Stadt. Beide Herren entwarfen mit bewundernswertem politischem Feinsinn eine Depesche an Seine Exzellenz, den Wali von Aleppo. "Dieser überlebensgroße Drahtbericht umfasste zehn dichtbekritzelte Formulare oder elfhundertfünfzig Worte. Er war winkelzügig wie der Schriftsatz eines kleinen, aber ehrgeizbesessenen Rechtsanwalts und zungenfertig wie der Leitartikel einer radikalen Zeitung. Eingangs wurde die misslungene Liquidation in den wirksamsten Farben geschildert, die schweren, doch unnötigen Verluste zahlenmäßig angeführt und die Erbeutung der ungesicherten Geschütze durch die Aufständischen als jene soldatische Ungeheuerlichkeit gebrandmarkt, die sie tatsächlich war. Dann verließ der Kaimakam diesen traurigen Gegenstand, indem er mit Resignation feststellte, dass jede Einflussnahme seinerseits auf die militärischen Stellen stets falsch gedeutet werde. Dagegen aber müsse er mit höchstem Nachdruck auf die kochende Volksseele hinweisen, die zur Stunde die fristlose Abberufung des kommandierenden Bimbaschi immer wütender fordere, und dies sogar mit den Mitteln des Straßenaufruhrs. Die vorhandene Polizei und Gendarmerie reiche aber bei weitem nicht aus, um eines Straßenaufruhrs Herr zu werden. Man müsse deshalb unverzüglich nachgeben und Seine Exzellenz möge die Abberufung und kriegsgerichtliche Bestrafung des hiesigen Kommandanten bei der zuständigen Militärbehörde erwirken. Der Kaimakam folgerte aus diesen Ereignissen weiter, dass an allem »die doppelten Kompetenzen« schuld seien, indem die syrischen Wilajets sowohl den politischen Statthaltern als auch dem Generalkommando der Vierten Armee unterstünden. Solange dieses zwiespältige Verhältnis herrsche, könne er weder die Ruhe in seiner Kasah noch auch die wunschgemäße Abwicklung der Armenierdeportation gewährleisten. Er setzte staatsjuristisch lichtvoll auseinander, dass die Austreibung der armenischen Millet ein Akt der inneren Verwaltung sei, bei dem auch die höchsten militärischen Stellen keine selbständige Rolle innehätten. Die Leistung des Militärs sei in diesem Fall durch den Begriff der »Assistenz« vollkommen umschrieben. Die Verwendung der Truppe bei der Assistenz aber hänge nach dem Wortlaut des Gesetzes einzig und allein von den Entschlüssen der zivilen Behörde ab. Daher sei die gegenwärtige Praxis ungesetzlich, da das Generalkommando nach eigener Willkür vorgehe, die Assistenz meist verweigere, gegen die Provinzregierung gehässig arbeite und sogar die Gendarmerie – einen Teil der bürgerlichen Macht also – für ihre eigenen Zwecke verwende. In Ansehung dieser gefährlichen Tatsache werde die armenische Bevölkerung zum Widerstande aufgereizt, der, sofern er sich ausbreite, unabsehbare Folgen für das ganze Reich nach sich ziehen könne. Der Kaimakam schloss diese ungewöhnliche Staatsdepesche beinahe mit einer Drohung: Er könne die Verantwortung für die Liquidation des bewaffneten armenischen Lagers auf dem Musa Dagh nur unter der Bedingung übernehmen, dass die gesamte Macht in seiner Hand vereinigt werde. Zu diesem Behufe müsse ihm militärische Assistenz in solcher Stärke und Ausrüstung zur Verfügung gestellt werden, dass eine durchgreifende und restlose Säuberung des Berges möglich sei. Es gehe auch nicht an, dass diese Aktion von einem fremden, mit den Verhältnissen unvertrauten Offizier durchgeführt werde, sondern er bitte dringend um die Zuteilung des bisher stellvertretenden Majors als Platzkommandanten von Antakje, der aber in der armenischen Unternehmung ihm völlig unterstellt bleiben müsse. Andernfalls jedoch, sollten diese billigen Vorschläge nicht annehmbar sein, wage er, der Kaimakam, es gehorsamst anzuregen, dass man die obenberichtete Schmach ohne weitere Gegenmaßnahmen hinnehme und die Insurgenten auf dem Musa Dagh ihrem Schicksal überlasse." Der Rapport des Kaimakams bedeutete in politischer und psychologischer Beziehung ein Meisterstück. Ging auch nur ein Teil seiner Wünsche in Erfüllung, so war er der unabhängigste Landrat in Syrien. Ein gut gedrilltes Beamtenherz älterer Artung wäre vor dem manchmal anmaßenden Ton der Riesendepesche zurückgescheut. Doch gerade dieser schneidig durchgreifende Ton war genau auf das Ohr der jungtürkischen Machthaber von heute abgestimmt. Sie beteten den Westen an und hatten daher abergläubische Verehrung für Worte wie »Initiative« und »Energie«, mochten sich diese auch aufbegehrend äußern. "Gleichzeitig klitterte der vernichtete Bimbaschi, der seine rosigen Wangen wohl für immer verloren hatte, eine lange Depesche an seinen vorgesetzten Etappengeneral zusammen. Sie erging sich in weitschweifigen Anklagen gegen den Kaimakam, der ihn zu dem missglückten Unternehmen gezwungen habe, ohne ihm Zeit zur hinreichenden Vorbereitung zu lassen. Der Ton des Bimbaschi war wehleidig, feierlich und kleinlaut, demnach ganz und gar verfehlt. Der Unglückliche wurde noch innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden abberufen und vor Gericht gefordert. Er verschwand heimlich bei Nacht und Nebel von der Stätte seiner langjährig bequemen Wirksamkeit, das unschuldigste Opfer des armenischen Kriegsglücks. Seine Exzellenz aber, der Wali von Aleppo, fand die Formulierungen des Kaimakams von Antiochia so bedeutsam, dass er sie mit eigenen bekräftigenden Zusätzen an den Herrn Minister des Innern weiterdepeschieren ließ. Der Untergebene hatte mit feinen Fingerspitzen eine brennende Wunde seines Vorgesetzten berührt. Seitdem nämlich der große Dschemal Pascha, mit der unbeschränkten Macht eines römischen Prokonsuls ausgerüstet, in Syrien kommandierte, waren sämtliche Walis und Mutessarifs zu Schattenkönigen zusammengeschrumpft. Dschemal Pascha behandelte diese Großmächtigen etwa wie Intendanten seines Armeenachschubs. Sie bekamen von ihm strenge Befehle, dort und dorthin soundso viel tausend Oka Weizen zu befördern oder bis zu einem bestimmten Zeitpunkt diese und jene Straße in tadellosen Stand zu setzen. Der Feldherr schien die ganze Zivilbevölkerung für eine lästige Schmarotzerherde zu halten und die Zivilregierung für ein gänzlich überflüssiges Übel. Seine Exzellenz von Aleppo nahm daher die Gelegenheit nicht unerfreut wahr, dem eisernen Pascha eins aufs Zeug zu flicken und die Herrschaften in Stambul von dem kläglichen Misserfolg des überheblichen Militärs in Kenntnis zu setzen. Talaat Bey las das Meisterwerk des Kaimakams von Antiochia seinerseits mit gemischten Gefühlen. Er hatte die Aufgabe, den inneren Dienst gegen militärische Vordringlichkeiten in Schutz zu nehmen. Auch bedeutete für ihn die Armenierverschickung eine weit erhabenere Tatsache als der langweilige Ehrgeiz unbefriedigter Eisenfresser. Er fuhr, wie es seine Gewohnheit war, mit der gewaltigen Tatze mehrmals an der weißen Weste hinab. Dann aber fügten die flinken Telegrafistenfinger an dieser gewaltigen Tatze die Depeschenblätter mit einer Klammer zusammen. Er legte einen Zettel mit den Worten bei: »Bitte dringend um positive Erledigung.« Der Akt wanderte unverzüglich auf den Schreibtisch des Kriegsministers. Enver Pascha pflegte niemals eine Bitte Talaats abzuschlagen. Als die Herren einander am Abend beim Endjumen, dem engeren Ministerrat, begegneten, trat Enver auf seinen Freund zu. Der junge Kriegsgott lächelte mit seinen langen Mädchenwimpern befangen: »Ich habe wegen des Musa Dagh an Dschemal energisch telegrafiert ...« Ohne Talaats Dank abzuwarten, fügte er mit zierlicher Spottgrimasse hinzu: »Ihr könnt mir alle dankbar sein, dass ich diesen verrückten Menschen nach Syrien abgeschoben und kaltgestellt habe.« [69]

Vor dem Jaffator in Jerusalem stand ein arabisches Hotel, dessen Fenster auf die Davidzitadelle mit ihrem "hochragenden Minarett", hinausgingen. In diesem Hotel hatte Armeegeneral Dschemal Pascha vorübergehend sein Hauptquartier aufgeschlagen, als die Depeschen Envers, des Wali von Aleppo und anderer Funktionäre einlangten, "die ihn um eine rasche Bereinigung der armenischen Schmach ersuchten. (In jenen Tagen pflegten die jungtürkischen Machthaber einander ganze Bücher zu telegrafieren. Es war nicht allein die Dringlichkeit, sondern eine barbarische Freude an dem vermittelnden Strom, die sie zu solchem Wortreichtum verführte.) Dschemal Pascha saß allein in seinem Zimmer. Weder Ali Fuad Bey noch auch der Deutsche von Frankenstein, seine beiden Stabschefs, waren anwesend. Dschemal Pascha konnte sich deshalb gehenlassen. Nur Osman, der Oberste seiner Leibwache, stand an der Tür, ein reckenhafter Bergbewohner, der wie eine ausgestopfte und behängte Figur im Waffenmuseum wirkte. Mit seiner Leibwache verfolgte Dschemal einen doppelten Zweck. Er frönte mittels ihrer romantischen Ausstattung der Prachtsucht des Asiaten, die in dem farblosen Kriegsbetrieb der Gegenwart sonst nicht auf ihre Kosten kam. Zugleich aber beschwichtigte er durch sie eine Seelenregung, die alle Diktatoren seit eh und je vor ihren weniger erfolgreichen Mitmenschen auszeichnet, die Attentatsfurcht. Osman durfte nicht von seiner Seite weichen, hauptsächlich dann nicht, wenn irgendein Herr aus Stambul vorsprach. Dschemal hielt es nämlich durchaus nicht für ausgeschlossen, dass seine lieben Brüder Enver und Talaat ihm einen tüchtigen Agenten des Todes mit guten Empfehlungen zu senden willens waren. Er las die Depeschen aufmerksam, insbesondere die von Enver Pascha. Obgleich der Fall, um den es sich handelte, ohne größere Bedeutung war, wurde seine gelbe Gesichtsfarbe noch fahler und die starken Lippen unter dem schwarzen Vollbart erblassten vor Wut. Der General sprang auf und begann im Zimmer umherzulaufen. Er war ebenso klein wie Enver, aber ganz und gar nicht zierlich, sondern eher vierschrötig. Er hielt die linke Schulter etwas hochgezogen, weshalb Leute, die ihn nicht genau kannten, ihn für verwachsen ansahen. Aus den goldbesetzten Ärmeln seines Generalsrockes hingen schwere rote Hände herab. Angesichts dieser Hände verstand man die Sage, die ihn zum Enkel des Scharfrichters von Stambul machte. Enver Pascha war aus dem leichtesten Stoff, Dschemal Pascha aus dem schwersten Stoff der Welt gebildet. War an jenem alles träumerisch launenhaft, so an diesem alles leidenschaftlich wüst. Dschemal Pascha hasste mit dem unerschöpflichen Hass des niedriger Gearteten den anmutigen Götterliebling. Er musste sich alles schwer verdienen, was dem anderen unverdient in den Schoß fiel: Kriegsruhm, Spielerglück, Frauengunst. Dschemal nahm noch einmal die Depesche zur Hand und versuchte aus dem amtlichen Wortlaut Envers koketten Tonfall herauszuhören." [70]

In diesem Augenblick stand das Schicksal der sieben Gemeinden des Musa Dagh so scharf auf des Messers Schneide wie noch nie. "Ein Dienstzettel Dschemals hätte genügt, um zwei volle Infanteriebataillone, eine Gebirgskanonenbatterie und einige Maschinengewehre gegen den Damlajik zu werfen. Damit wäre die Sache trotz Gabriel Bagradian und aller Tapferkeit binnen einer Stunde erledigt gewesen. Während Dschemal aber die Depesche noch einmal las, schien seine Wut den Siedepunkt zu übersteigen. Er brüllte den verdutzten Osman an, er möge ihn allein lassen und bei Todesstrafe nicht wieder zu stören wagen. Dann ging er ans Fenster, zog sich aber sofort wieder zurück, damit ihn niemand in seinem nackten Seelenzustand sehe. Könnte er Enver doch zermalmen! Diese Salondame des Krieges! Diesen geblähten Favoriten der schönen Welt! Diesen Faiseur, der niemals eine echte Männertat getan, der seinen Siegerruhm erschlichen hatte, bei der Wiedereroberung Adrianopels mit seinen Reitern sich vorschlängelnd, nachdem alles längst entschieden war. Und diesem eitlen unbedeutenden Lustknaben des Ottomanischen Reiches musste ein Dschemal nachstehen. Dieser geriebene Fant durfte es versuchen, einen Dschemal durch die Machtverleihung in Syrien erledigen zu wollen. Die Raserei des Generals gegen den Mars von Stambul reichte mehrere Seelenschichten tief. Ausgelöst wurde sie durch eine lächerliche Lappalie. Envers Telegramm begann mit den Worten: »Ich bitte Sie, schleunige Maßregeln zu ergreifen ...« Die Anrede »Euer Exzellenz«, ja selbst das einfache »Pascha« fehlte. Nun war Dschemal ein Fanatiker der Förmlichkeit, und insbesondere im Verkehr mit Enver. Er wahrte mit gravitätischem Ernst die Form sogar bei freundschaftlichen Zusammenkünften. Mit fiebrischer Verletzlichkeit aber achtete er darauf, dass Enver Pascha auch ihm die gebührende Ehre bezeuge und keinen Buchstaben seiner Würde raube. Die Depesche mit der hochmütig vergessenen Anrede war nur der letzte Tropfen, der das Gefäß von Dschemal Paschas Hass zum Überlaufen brachte. Enver hatte in den letzten Monaten an den General die ungeheuerlichsten Forderungen gestellt, die von diesem schweigend erfüllt worden waren. Zuerst hatte Dschemal die achte und zehnte Division nach Stambul zurücksenden müssen, später noch die fünfundzwanzigste, und schließlich wurde das ganze dreizehnte Armeekorps nach Bagdad und Bitlis umbeordert. Im Augenblick gebot der kriegerische Diktator Syriens nur mehr über sechzehn bis achtzehn schäbige Bataillone, und zwar in einem riesigen Armeebereich, der von den Gipfeln des Taurus bis zum Suezkanal reichte. Dies war das Werk Enver Paschas und nicht das der vorgeschützten allgemeinen Kriegslage, davon war der knirschende Dschemal überzeugt. Der Generalissimus hatte ihn auf seine taschenspielerische Art völlig entwaffnet, ihn unschädlich gemacht und zugleich um jede Möglichkeit eines Erfolges gebracht. Mit dem erleuchteten Gedächtnis des Hasses brachen in Dschemals Geist hundert verräterische Einzelheiten auf, in denen sich Envers geringschätzige Beziehung zu ihm spiegelte. Dieser mitsamt seiner Clique hatte ihn immer ferngehalten, von entscheidenden Beschlüssen nicht verständigt, zu intimen Beratungen nicht eingeladen. Das Verhältnis war für Dschemal von allem Anfang an eine Kette von ausgesuchten Erniedrigungen gewesen, und die größte Erniedrigung lag darin, dass er sich gegen Enver nicht behaupten konnte, dass er durch dessen Gegenwart und Wirkung rettungslos zum zweiten Rang herabgedrückt wurde, obgleich er von seiner eigenen Überlegenheit als Führer und Soldat erfüllt war. Dschemal Pascha lief, die linke Schulter hochziehend, noch immer um den Tisch. Er fühlte sich völlig machtlos. Durch seinen Kopf zuckten knabenhafte Traumbilder. Mit einer neuen Armee in Stambul einrücken und die freche Blase gefangensetzen, den alliierten Flotten den Bosporus öffnen und ein Bündnis mit dem gegenwärtigen Feinde schließen! Er nahm zum drittenmal die Depeschen in die Hand, warf sie aber sogleich wieder hin. Womit nur konnte man Enver und Genossen am giftigsten weh tun!? Dschemal wusste, dass sie die Ausrottung der Armenier für ihr patriotisch heiligstes Werk ansahen, und er selbst hatte eine ähnliche Meinung oft vertreten. Doch niemals hätte er diesen echt Enverschen Dilettantismus geduldet, dass Syrien zur Kloake des armenischen Todes gemacht werde. Zu den Beratungen über die Deportation war er vom Kriegsminister wohlweislich nicht zugezogen worden. Von dem Plan des süßen Enver wäre ja sonst kein Haar übriggeblieben. Dies auch war einer der Gründe, warum ihn der anmutige Schurke in den Südosten verführt hatte. Nun überlegte er in seiner wilden Rachsucht, ob er die Grenzen Syriens nicht sperren, die Transporte nach Anatolien zurückjagen und das große Werk damit zunichte machen solle. – Im selben Augenblick klopfte der Stabschef Oberst von Frankenstein an die Tür. Dschemal verwarf sofort alle leeren Ausgeburten seiner Erregung. Er wurde der besonnene, ja beinahe skrupelhaft wägende General, als den ihn seine Untergebenen kannten. Seine leidenschaftlichen Asiatenlippen verkrochen sich schleunig im schwarzen Vollbart. Besonders dem deutschen Obersten gegenüber ließ er sich's stets angelegen sein, den Eindruck mürrischer, aber unabwendbarer Logik hervorzurufen. Von Frankenstein bekam nunmehr den gelassensten und kältesten Feldherrnblick Dschemals zu sehen. Sie setzten sich an den Tisch, der Deutsche öffnete seine Aktentasche, zog Notizen hervor, um über die Aufstellung neuer Truppen in Syrien zu referieren. Da bemerkte er die Depeschen, die vor ihm lagen, Enver Paschas Befehl obenauf: »Exzellenz haben wichtige Post erhalten ...« »Lassen Sie sich nicht stören, Oberst«, meinte Dschemal, »was hier wichtig ist, das hängt nicht vom Kriegsminister ab, sondern von mir allein.« Und er nahm mit seiner roten Hand Envers Depesche, zerriss sie in kleine Fetzen und streute sie aus dem Fenster, das zur Davidburg hinübersah. In der Empfindlichkeit dieses türkischen Gewalthabers hatte Gabriel Bagradian einen unfreiwilligen Bundesgenossen bekommen. Denn Dschemal Pascha gab weder eine Antwort, noch auch schickte er einen Mann, ein Maschinengewehr oder ein Geschütz nach Antakje, um den Musa Dagh auszuräuchern." [71]

Die Untätigkeit Dschemal Paschas rettete die Bergarmenier vor einem raschen Untergang, ohne sie von der langsameren Todesumschnürung befreien zu können. Wenn auch der Diktator Syriens und Palästinas selbst nicht eingriff, so gab es untergeordnete Kommandostellen genug, die selbständige Entschlüsse treffen konnten. Der scharfe Major, des unseligen Bimbaschi von Antakje Nachfolger, hatte in Aleppo von dem Etappengeneral die Zusendung von mehreren Kompanien der dortigen Garnison erwirkt. Ebenso stellte der Wali in einem Schreiben dem Kaimakam den Abmarsch einer großen Saptiehtruppe in Aussicht. Man sieht also, dass der Kaimakam mit seinem Schritt in Aleppo Erfolg gehabt hatte. Und Erfolg stachelte den Ehrgeiz auf. Der arabische Nationalismus war jedenfalls im Vormarsch. "Vom Süden her durchdrang er das türkische Reich bis an die Linie Mossul, Mersina, Adana. In den syrischen Vilajets musste man mit ihm gewaltig rechnen, denn schon verbreitete sich im Rücken und in der Flanke der Vierten Armee jene scheelsüchtige Aufsässigkeit, die für eine operierende Heeresmacht die höchsten Gefahren in sich schließt. Der Krawall gegen den armen Bimbaschi von Antakje stand bereits heimlich im Zusammenhang mit dieser Stimmung. Der Kaimakam hatte nun den guten Einfall, die immer unbotmäßigere arabische Bevölkerung seines Bezirkes auf Kosten der Armenier für sich zu gewinnen. Zugleich auch hoffte er, durch Neuentflammung des islamischen Fanatismus an sein Ziel zu kommen. Das armenische Eigentum war kraft des Verschickungsgesetzes samt und sonders dem Staate verfallen; so stand es wenigstens auf dem Papier. In Wirklichkeit aber blieb es dem Ermessen der Provinzbehörden überlassen, damit zu machen, was sie wollten. Der Kaimakam von Antakje schickte schon am ersten Tage nach der Niederlage der Truppen seine Beamten in alle Kreise mit starker arabischer Bevölkerung, die nicht allzu fernab vom Musa Dagh lagen. Dort ließ er verkünden, dass der fruchtbarste Landstrich Syriens zwischen Suedja und dem Ras el Chansir mit Wein- und Fruchtgärten, mit Raupen- und Bienenzucht, mit Wasser- und Holzreichtum, mit Häusern und Höfen an alle diejenigen unentgeltlich verteilt werden solle, welche sich am übernächsten Tage rechtzeitig in dem armenischen Tale einstellen würden. Die Müdirs deuteten geschickt an, dass man dem fleißigen arabischen Landwirt den Vorzug vor dem Türken geben werde." Dies war der Grund der überraschenden Völkerwanderung. Der Kaimakam traf höchstpersönlich ein und blieb bis auf weiteres in Yoghonoluk, um die Aufteilung zu überwachen und sich bei den arabischen Notabeln einzuschmeicheln. Er bezog die Villa Bagradian, nachdem man den Mohadschir und seine Sippe hinausgeworfen hatte. "Nach achtundvierzig Stunden waren die Dörfer ebenso dicht bevölkert wie früher. Reich gewordene Araber und Türken verbrüderten sich. Niemals hatten sie schönere Häuser gesehen. Es war beinahe zu schade, darin zu wohnen. Aus den Kirchen hatte man im Handumdrehen Moscheen gemacht." Schon am ersten Abend fand ein Götzendienst statt. Die Mollahs dankten Allah für den neuen herrlichen Besitz.  "Die Männer verließen mit funkelnden Augen die Moscheen. Auch sie wünschten heiß, der beraubten Vorgänger schnell ledig zu sein, damit ein leises, recht unbehagliches Mißgefühl aus ihren anständigen Bauernseelen verschwinde."  [72]

Finster, aber gleichgültig betrachteten die Verteidiger des Musa Dagh den Untergang ihrer Heimat. Was war mit der Zeit geschehen? Bedros Altouni hatte alle Verwundeten, die nicht schwer fieberten, fortgeschickt oder in ihre Hütten tragen lassen. Wenn er diese Maßnahme auch nicht näher begründete, so lag doch ein heikler Anlass dafür vor. Der armenische Sieg vom 14. August hatte sich blitzschnell in den Ebenen und Gebirgen Nordsyriens herumgesprochen. Insbesondere den Fahnenflüchtigen, die sich auf anderen Bergen ringsum noch versteckt hielten, war er sehr zu Herzen gegangen. Tatsächlich meldeten sich schon am nächsten Tage zweiundzwanzig neue Deserteure bei den vorgeschobenen Posten und verlangten Aufnahme in die Kämpferreihen. Gabriel Bagradian, der wegen Verrates und Spionage auf der Hut sein musste, prüfte die Kandidaten eingehend. Da sie sich durchwegs als Armenier ausgaben, da jeder ein Mausergewehr und Munition besaß, da man ferner die Verluste ersetzen musste, nahm er alle Zuzügler an. [73]

Die Beratung währte diesmal stundenlang. Abseits saßen Awakian und der Gemeindeschreiber von Yoghonoluk, um die wichtigsten Beschlüsse als Schriftführer festzuhalten und in Form zu bringen. Vor der Regierungsbaracke hatte die Lagerwache Aufstellung genommen. Eine persönliche Anordnung Ter Haigasuns! Da der Priester ein dekorativen Gebärden abgeneigter Mann war, durfte man annehmen, dass er mit dieser Schutzmaßregel einen weitsichtigen Zweck verband. Wenn heute die Regierungswache auch keine andre Aufgabe zu versehen hatte, als dem Senat Störungen fernzuhalten und den Eintritt unbefugter Personen zu verhindern, so konnte doch einmal ein gefährlicher Tag kommen, da die Führerschaft einer Ordnungstruppe bedurfte. Ter Haigasun leitete den Rat mit halbgeschlossenen Augen und in fröstelnd müder Haltung wie immer. Den Bericht über die Ernährungslage, den der Priester zum ersten Punkt der Tagesordnung bestimmt hatte, legte Pastor Aram Tomasian als Haupt der inneren Verwaltung ab. Er entwarf ein genaues Bild. Nach dem Unglück mit dem Wolkenbruch habe der durch den Granatvolltreffer hervorgerufene Speicherbrand nicht nur die Reste des Mehls vernichtet, sondern die anderen Kostbarkeiten dazu: alles Öl, allen Wein, den Zucker, den Honig und, wenn man von Entbehrlichkeiten wie Tabak und Kaffee absieht, das unentbehrlichste von allen Dingen, das Salz. Man werde nur noch drei Tage lang das Fleisch salzen können. Was aber dieses Fleisch, dessen Genuss allen Mägen bereits widerstehe, selbst anbelangt, so nehme es in einem geradezu erschreckenden Maße ab. Die anwesenden Muchtars hätten eine Viehzählung durchgeführt und berechnet, dass der Herdenstand seit dem Aufbruch bereits um ein Drittel zusammengeschmolzen sei. So dürfe man nicht weiterwirtschaften, sonst stehe man in kurzer Zeit am Ende. Der Pastor gab das Wort an den Muchtar Thomas Kebussjan weiter, damit er den Zustand der Herden als Fachmann beschreibe. Kebussjan erhob sich, wackelte mit dem Kopf hin und her und sah mit seinen ungleichen Bauernaugen alle und niemanden an. Er begann mit einer beweglichen Klagelitanei über den Verlust seiner schönen Schafe, deren Aufzucht er seine unermüdliche Fürsorge jahrelang geweiht habe. Er erkenne seine lieben Tiere nicht wieder. In den goldenen Zeiten des früheren Lebens habe ein gutgewachsener Hammel 45 bis 50 Oka gewogen. Jetzt erreicht er kaum mehr das halbe Gewicht. Der Muchtar machte zwei Ursachen für diesen Rückgang verantwortlich. Die eine war mehr sentimentaler Natur. Die verfluchte Gemeinwirtschaft – er verkenne ja ihre Notwendigkeit nicht – schlage den Schafen schlecht an. Er verstehe seine Tiere. Sie magern ab, weil sie niemand mehr gehören, weil sie keinen Eigentümer spüren, der sich um ihr Wohl und Wehe kümmert. Die zweite Begründung aber war weniger politisch und einleuchtender. Die besten Triften innerhalb der Verteidigungsgrenzen, die nicht nur die Schafe und Ziegen, sondern auch noch die Esel zu ernähren hätten, seien ganz und gar abgeweidet. Das schlechtgefütterte Vieh könne sich nur wenig zähes Fleisch und gar kein Fett aneignen. Mit der Milch sehe es nicht besser aus. Sie fließe immer magerer, immer gehaltloser. Von Butter und Käse sei keine Rede mehr. Kebussjan kam mit trübsinnigem Klageton zum Schluss, dass man andre Weiden werde finden müssen, um den Zustand der Schafe zu bessern. Gegen diese Absicht wandte sich Gabriel Bagradian mit aller Schärfe. Man lebe nicht in Frieden und Fröhlichkeit, sondern bestenfalls in der Arche Noah mitten in einer Sintflut des Blutes. An Freizügigkeit von Mensch und Vieh sei nicht zu denken. Türkische Kundschafter umlauern den Verteidigungsring von allen Seiten. Die Herden außerhalb dieses Ringes, womöglich auf den nördlichen Höhen des Musa Dagh grasen zu lassen, bedeute ein Wagnis, für das niemand die Verantwortung übernehmen könne. Es müssten, zum Teufel, auch noch in den Lagergrenzen neue Weidegründe ausfindig gemacht werden. Man möge das Vieh auf die hohen Kuppen hinauftreiben. »Auf den Kuppen ist das Gras kurz und verbrannt«, mischte sich der Muchtar von Habibli in die Debatte, »das können nicht einmal Kamele fressen.« Bagradian ließ sich nicht beirren: »Besser wir haben mageres Fleisch als überhaupt keines!« Ter Haigasun stimmte der Warnung Bagradians zu und bat den Pastor, in seinem Bericht fortzufahren. Aram Tomasian kam auf die Brotentbehrung, auf die ungemischte Fleischkost und ihre Folgen zu sprechen. Aus hundert Gründen, nicht zuletzt um das Hinschwinden der Herden zu verhindern, sei es nötig, eiligst Abhilfe und Ersatz zu schaffen. An Beutezüge ins Tal könne nach der Neubesiedlung der Dörfer nicht mehr gedacht werden. Andrerseits werde ihm Bedros Altouni bestätigen, dass durch die Entbehrung gemischter Kost der Gesundheitszustand des Volkes schon gelitten habe. Man sehe immer häufiger fahle Gesichter und hinfällige Gestalten. Jeder hier habe ja auch an sich selbst in dieser Hinsicht unerfreuliche Erscheinungen beobachtet. Abwechslung in der Kost müsse auf jede Weise erzwungen werden. Und nun legte Aram Tomasian seinen Plan dar. Man habe bisher das Meer zu wenig in Betracht gezogen. Von gewissen Punkten der Steilseite aus sei die Klippenküste ganz leicht in einem halbstündigen Abstieg zu erreichen. Er selbst habe bei seinen Probegängen jüngst einen alten verfallenen Maultierpfad entdeckt, der sich ohne viel Mühe ausbauen lasse. Wozu besitze man berufsmäßige Straßenarbeiter unter den Männern des Volkes und den Deserteuren? Zwei Tage Arbeit, und eine bequeme Verbindung zwischen Lager und Meer sei geschaffen. Dann aber sollte eine Gruppe aus jungen Leuten, aus kräftigen Frauen und den größeren Knaben der Jugendkohorte gebildet werden, um unten in den Klippenmulden eine Salzbleiche anzulegen und eine kleine Fischerei in Gang zu bringen. Ein Floß, aus Baumstämmen zusammengebunden, und ein paar Ruderstangen genügten, sich an einer sanfteren Stelle ein paar hundert Meter hinauszuwagen. Noch heute möge man kundigen Weibern den Auftrag geben, Schleppnetze anzufertigen, so gut es gehe. Hanfstricke seien in der Stadtmulde genug vorhanden. Und ferner noch! Er, Aram Tomasian, erinnere sich aus seiner eigenen Jugendzeit, ein leidenschaftlicher Vogelsteller gewesen zu sein. Die Jungen von Yoghonoluk dürften ja diese Kunst inzwischen nicht verlernt haben. Also heraus mit Klappnetz und Vogelgabel! Anstatt herumzulungern und den Leuten zwischen die Beine zu fahren, sollen die jüngeren Knaben auf Vogelfang gehen. An sonstige Jagd sei ja leider nicht zu denken. Des Pastors Aram Vorschlag, Salzbleiche, Fischerei und Vogelfang betreffend, wurde mit Beifall aufgenommen und in allen Einzelheiten durchgesprochen. Der Führerrat erteilte ihm den Auftrag, die Erschließung dieser Hilfsquellen zu organisieren. Als nächster Redner berichtete Bedros Hekim über die Gesundheitslage. Von den einundvierzig Verwundeten der letzten Schlacht befänden sich Gott sei Dank bis auf vier Hochfiebernde alle außer Lebensgefahr. Achtundzwanzig von ihnen habe er in Familienpflege bereits entlassen können. Diese würden insgesamt und in kurzer Zeit in ihre Kampfeinteilung zurückkehren können. Mit weit größerer Besorgnis jedoch als der Zustand der Verwundeten erfüllte den Arzt die neue merkwürdige Krankheit, die der junge Deserteur aus Aleppo eingeschleppt hatte. Dieser selbst ringe seit gestern nacht mit dem Tode und dürfte zu dieser Stunde schon verschieden sein. Doch nicht genug damit, auch an andern Insassen des Lazaretts hätten sich inzwischen bedenkliche Zeichen der Ansteckung gezeigt, Erstickungsanfälle, hohes Fieber, Erbrechen. Es handle sich demnach um eine epidemische Krankheit, von der, wie sich Altouni erinnerte, die Aleppiner Zeitungen in den letzten Monaten mehrmals geschrieben hätten. Eine um sich greifende Epidemie aber bedeute für das enge Lager eine ebenso große Gefahr wie die Türken. Deshalb habe er schon heute in aller Frühe für die strengste Trennung der Ansteckungsverdächtigen von den übrigen Kranken gesorgt. Zwischen den beiden Kuppeln liege, wie jeder weiß, fernab von der Stadtmulde ein kleiner schattiger Buchenwald mit einem Wasserlauf. Diesen Wald, der vom Verkehr der Zehnerschaften und Lagerleute fast niemals berührt werde, habe er zum Infektionsspital bestimmt. Der Führerrat möge nun seinerseits aus den unbrauchbarsten Leuten des Lagers eine Wärtergruppe bilden, die mit dem übrigen Volke ebenfalls nicht in Berührung kommen dürfe. Bedros Hekim nannte Kework, den Tänzer mit der Sonnenblume, als ein Prachtbeispiel für diese Wärterschaft. Dann wandte er sich an Gabriel Bagradian: »Mein Freund! Ich bitte dich dringend, Juliette Hanum zu ersuchen, sie möge nicht mehr zur Krankenpflege kommen. Ich verliere in ihr eine sehr gütige Helferin. Aber ihre Gesundheit ist mir offen gesagt wertvoller als ihre Hilfe. Auch ohne die Ansteckungsgefahr bin ich um deine Frau besorgt, mein Sohn. Wir andern hier sind harte Leute und kaum eine Meile von unserer Heimat entfernt. Deine Frau aber hat sich, seitdem wir auf dem Damlajik leben, sehr verändert. Ganz sonderbare Antworten gibt sie manchmal. Nicht nur körperlich scheint sie zu leiden. Sie ist diesem Leben nicht gewachsen. Wie wäre das anders auch möglich!? Kümmere dich mehr um sie, das rat ich dir! Am besten, sie bleibt den ganzen Tag im Bett liegen und liest Romane, die sie weit weg von uns führen. Unser Krikor ist ja glücklicherweise der Mann, einer ganzen Stadt von Madames mit französischen Büchern über das Elend hinwegzuhelfen.« [74]

Man habe bisher zwei schwere Angriffe blutig abgeschlagen. Gerade aber in der vernichtenden Kraft dieser Erfolge liege das Verhängnis. Ohne Zweifel sei die türkische Regierung bis zur Raserei erbittert. Wenn sich die Kunde dieses Misserfolges im Reich verbreite, dann habe die militärische Autorität die schwerste Einbuße erlitten. Das ottomanische Militär dürfe diese furchtbare Belehrung nicht auf dieselbe leichtfertige Weise beantworten wie bisher. Wer weiß, ob nicht der Armeekommandant Dschemal Pascha selbst den Krieg gegen den Damlajik bereits in die Hand genommen habe? Er, Bagradian, sei fast geneigt, dies zu befürchten. Jedenfalls werde der dritte Angriff sich mit den vorhergehenden nicht im entferntesten vergleichen lassen. Wahrscheinlich hätten die Türken schon außer mächtigen Infanteriegruppen auch Gebirgsartillerie und Maschinengewehrkompanien zusammengezogen, um den Damlajik unter Trommelfeuer zu nehmen. Demgegenüber könne die Verteidigung einige kleine Vorteile ins Treffen führen. Die Befestigungen seien nach den Erfahrungen vom vierzehnten August in den letzten Tagen wiederum verstärkt und verbessert worden. Der Besitz der Haubitzen biete keineswegs bloß einen moralischen Vorteil. Mehr als alles andere aber bedeute die Kampfgewöhnung der Zehnerschaften auf dem Damlajik ein wirkliches Übergewicht über den Feind: »Aus diesem Grunde ist es vielleicht nicht ganz und gar unmöglich, dass wir mit Gottes Hilfe noch einen Angriff abschlagen ...« Gabriel Bagradian stellte nunmehr einen überaus wichtigen Antrag. So unsinnig auch jeder Traum der Rettung scheine, der Führerrat dürfe sich nicht ergeben in das unabwendbare Schicksal fügen und träge zuwarten. Nein, nichts, aber auch gar nichts dürfe unversucht bleiben. Das Meer freilich sehe so fürchterlich leer aus; als sei die Schiffahrt bis heute noch nicht erfunden. Und doch, Gott weiß es, vielleicht liege dennoch, gegen alle Wahrscheinlichkeit und Erhoffbarkeit, ein Torpedoboot der Alliierten vor der Reede von Alexandrette: »Es ist unsere Pflicht, diese Möglichkeit anzunehmen. Es ist unsere Pflicht, sie nicht ungenützt vorübergehen zu lassen. Und wie steht es mit dem amerikanischen Generalkonsul in Aleppo, Mr. Jackson? Weiß er von den Christenkämpfen und der Not auf dem Musa Dagh? Es ist unsere Pflicht, ihn aufzuklären und von der amerikanischen Regierung Schutz zu fordern.« Gabriel setzte seinen neuen Plan auseinander. Zwei Gruppen von Boten sollten entsandt werden, die eine nach Alexandrette, die andere nach Aleppo; nach Alexandrette die besten Schwimmer, nach Aleppo die besten Läufer. Die Aufgabe der Schwimmer sei insofern leichter, als die Bucht von Alexandrette nur fünfunddreißig englische Meilen nordwärts liege und der Weg über ausgestorbene Bergeshöhen genommen werden könne. Der eigentliche Zweck des Unternehmens allerdings – das Kriegsschiff in der Bucht schwimmend zu erreichen – erfordere die höchste Entschlossenheit und Körperkraft. Diese Willensleistung bleibe den Aleppoläufern wohl erspart, dafür aber hätten sie eine Wegstrecke von fünfundachtzig Meilen vor sich, die nur bei Nacht, ohne Benützung der großen Straße, jenseits aller menschlichen Wohnstätten, und dennoch unter ständiger Todesgefahr, zurückgelegt werden könne. Gelänge es aber diesen Kurieren, das Haus von Mr. Jackson zu erreichen, so wären sie so gut wie gerettet. Dieser Plan Gabriel Bagradians, der ja der frevelhaftesten Hoffnung eine Chance gab und damit dem Todesbewusstsein entgegenwirkte, wurde in leidenschaftlicher Zwischenrede durchgesprochen. Man setzte die Zahl der Schwimmer mit zwei fest. Als Bote für Aleppo mochte sogar ein einziger junger Mensch genügen. Es hatte keinen Sinn, Menschenleben überflüssig in Gefahr zu bringen. Zwei Leute halten sich unauffälliger verborgen als drei, und einer schlüpft leichter an Zöllnern und Saptiehs vorüber als zwei. Auf den Vorschlag Ter Haigasuns sollte die Auswahl der Schwimmer und Läufer auf Grund freiwilliger Meldung erfolgen. Die Läufer (ob einer, ob zwei, stand jetzt noch nicht fest) hatten einen Brief an den amerikanischen Generalkonsul mitzunehmen, die Schwimmer desgleichen einen Brief an den mutmaßlichen Schiffskommandanten. Damit aber im Falle einer Verhaftung die Briefe den Türken nicht in die Hand fielen, sollten sie in das aufgeschnittene Leder der Leibgürtel eingenäht werden. – Ter Haigasun bestimmte Tag, Stunde und Form der freiwilligen Meldung. Er diktierte dem kleinen Gemeindeschreiber einen Aufruf an die Bevölkerung der Stadtmulde, diese Meldung betreffend. Die Münadirs, die Austrommler, wurden angewiesen, ihn noch an demselben Abend zu verbreiten. Gabriel Bagradian erbot sich, den Brief an Mr. Jackson zu schreiben. Aram Tomasian übernahm die Abfassung des Manifestes an das Kriegsschiff. Er setzte sich sogleich abseits und entwarf, während bereits ein neuer Punkt der Tagesordnung mit reichlichem Lärm beraten wurde, seinen Text für die Schwimmer. Dann und wann schien er von dem Werke selbst ergriffen zu sein, denn er sprang plötzlich auf, überlas mit lautem Pathos und feierlichen Handbewegungen irgendeine Stelle, wobei er durch und durch Pastor war, der seine Sonntagspredigt memoriert. Er brachte sein Manifest in kürzester Zeit zustande. Es hat sich als ein Zeugnis der vierzig Tage erhalten. [75]

"An irgendeinen englischen, amerikanischen, französischen, russischen, italienischen Admiral, Schiffskapitän oder Befehlshaber, den die vorliegende Petition erreichen mag.
Sir! Wir flehen im Namen Gottes und menschlicher Brüderlichkeit zu Ihnen. Wir, die Bevölkerung von sieben armenischen Ortschaften, im ganzen fünftausend Seelen etwa, haben uns auf jene Hochfläche des Musa Dagh geflüchtet, die Damlajik genannt wird und drei Wegstunden nordwestlich oberhalb Suedjas und der Steilküste des Meeres liegt. Wir haben hier Zuflucht gesucht vor türkischer Barbarei und Grausamkeit. Wir haben uns zur Wehr gesetzt, um von unseren Frauen die Schändung ihrer Ehre abzuwenden. Sir! Sie wissen zweifellos von der Vernichtungspolitik der Jungtürken gegen unser Volk. Unter dem Schein der Umsiedlung, unter dem lügnerischen Vorwand, einer nichtbestehenden Aufruhrbewegung vorzubeugen, treiben sie unsere Leute aus ihren Häusern, berauben sie ihrer Felder, Fruchtgärten, Weinberge und aller beweglichen und unbeweglichen Habe. So ist es unseres Wissens außer anderen Orten schon mit der Stadt Zeitun und ihren zweiunddreißig Dörfern geschehen ...

Nun schilderte Aram Tomasian seine Erlebnisse auf dem Transport von Zeitun nach Marasch. Dann ging er auf die Verschickung der sieben Dörfer über und legte die bedrängte Lage des Volkes auf dem Damlajik in erregten Worten dar. Das Manifest schloß mit folgenden Hilferufen: Sir! Wir flehen Euch an im Namen Christi! Bringet uns, wir bitten Euch, nach Zypern oder nach einem anderen freien Lande. Unsere Leute sind nicht träge. Wir wollen unser Brot mit härtester Arbeit verdienen, sofern man sie uns gibt. Ist dies aber zuviel verlangt, um gewährt zu werden, so nehmet wenigstens unsre Frauen, nehmt unsere Kinder, unsre Alten auf! Uns wehrhafte Männer aber wollet gütig mit Waffen, Munition und Nahrungsmitteln hinreichend ausstatten, damit wir uns gegen die Streitkräfte des Feindes verteidigen dürfen, bis zum letzten Atemzug! Wir flehen Euch an, Sir, wartet nicht, bis es zu spät ist! Im Namen aller Christen hier oben. Ihr untertäniger Diener Pastor A. T."

Dieses Manifest bekam eine doppelte Sprachfassung, auf der einen Seite des Blattes in französischer, auf der anderen in englischer Sprache. Die beiden Texte wurden unter Aufsicht Hapeth Schatakhians, des Sprach- und Stilmeisters, sorgfältig durchgefeilt. 
 

8. Das Christentum stand hier im schweren Kampfe; Kolagasi (Stabshauptmann); bewaffnete Dorf-Moslems; 3. Türkenangriff

Das neue Leben auf dem Musa Dagh zeitigte auch in konfessioneller Beziehung seine Folgen. Der Bekenntniswechsel war in den letzten Jahrzehnten im armenischen Volk beinahe zu einer Mode geworden. Insbesondere der Protestantismus hatte sich seit Mitte des vorigen Jahrhunderts durch amerikanische und deutsche Missionare mit zunehmender Kraft ausgebreitet. Es genügt schon, auf die ausgezeichneten Reverends von Marasch hinzuweisen, die sich durch ihre unermüdliche Bildungs-, Bau- und Fürsorgetätigkeit um die zilizischen und syrischen Armenier, mithin auch um die Heptapolis am Musa Dagh, große Verdienste erworben hatten. "Ein sehr glücklicher Umstand jedoch muss es genannt werden, dass durch die Verschiedenheit der Bekenntnisse die Seele der Nation nicht wesentlich gespalten wurde. Das Christentum stand hier im schweren Kampfe, und dieser Kampf verhinderte alle Eifersüchteleien und gegenseitigen Überheblichkeiten. Pastor Harutiun Nokhudian von Bitias hatte in den sieben Dörfern seine Seelsorge frei ausgeübt und sich in allen großen allgemeinen Fragen dennoch der Autorität von Ter Haigasun Wartabed gebeugt. Auf dem Damlajik betreute Aram Tomasian als Nachfolger des alten Pastors die Seelen der restlichen Evangelischen, indem auch er sich der Autorität des Wartabed beugte. Dieser überließ ihm an jedem Sonntag nach der Messe den Altar für seine Predigt, bei der nicht nur die Protestanten, sondern zumeist das ganze Volk zuhörte. Der Unterschied im Ritus hatte alle Wichtigkeit verloren. Ter Haigasun war der unantastbare Hohepriester des Berges und verwaltete nicht nur als Vorgesetzter der kleinen verehelichten Dorfpfarrer, sondern ebenso als Oberer des Pastors das unsterbliche Teil des Volkes. Es war demnach selbstverständlich, dass ihn Aram Tomasian gebeten hatte, die heilige Taufe an seinem Neugeborenen vorzunehmen." [76]

Die Zeremonie war für den nächsten Sonntag, den vierten im August und den dreiundzwanzigsten Tag des Lagers, festgesetzt worden. Wegen des Gottesdienstes und anderer Pflichten Ter Haigasuns jedoch konnte sie erst in den späteren Nachmittagsstunden stattfinden. "Da sich Howsannah noch zu schwach und elend fühlte, um den Weg bis zum Altarplatz zurückzulegen, hatte Aram Tomasian den Priester ersucht, auf den Dreizeltplatz zu kommen und das Kind dort zu taufen, damit die Mutter bei der Feierlichkeit anwesend sein könne. Verabredungsgemäß ließ auch Bagradian ungefähr fünfunddreißig Einladungen an die Notabeln und wichtigsten Abschnittsführer ergehen. Die Aufnahme dieses Erstgeborenen des Musa Dagh in die Gemeinschaft Christi bot ihm gute Gelegenheit, die führenden Personen des Volkes in Form eines Festes zu bewirten und sich neu zu verbinden. Er besaß noch neun Zehnliterkrüge des schweren heimischen Weines. Kristaphor musste davon zwei für den Umtrunk absondern und außerdem noch einige Maß Maulbeerschnaps. Einen Imbiß konnte Gabriel seinen Gästen freilich nicht bieten, da der Proviant des Dreizeltplatzes schon beängstigend eingeschrumpft war." Die Gäste versammelten sich in der vierten Nachmittagsstunde vor den Zelten. Für die Kindesmutter und die älteren Leute hatte man einige Stühle hergetragen. Der Kirchendiener stellte eine kleine Badewanne aus Blech auf einen niedrigen Tisch. Das uralte wunderschöne Marmor-Taufbecken gehörte zu jenen Schätzen, die in der Kirche zu Yoghonoluk zurückgeblieben waren. Ter Haigasun legte die heiligen Gewänder im Scheichzelt an. Ginkahaï, Taufpate, war auf Arams Wunsch Gabriel Bagradian. Der Kirchenchor, unter des schneiderdürren Asajan Führung, hatte hinter dem Tisch mit dem Kruzifix und blechernen Wännchen Aufstellung genommen. Das laue Taufwasser war schon vor dem Altar geweiht worden. Jetzt träufelte unter den Gesängen des Chores einer der untergebenen Priester drei Tropfen des heiligen Myron-Öles in das Becken. Gabriel, der Ginkahaïr, nahm mit verlegener Haltung den Säugling aus den Armen Mairik Antarams entgegen. Die Frauen hatten zu dem feierlichen Anlass das braungelbe verschrumpelte Wesen, das nicht zu Kräften kam, in ein Staatskissen gesteckt, das im Hinblick auf die allgemeinen Umstände prachtvoll genannt werden musste. Die Augen des Kindes starrten noch immer ohne Blick an diesem Leben vorbei, in dessen grausamste Veranstaltungen es so schuldlos geraten war. Auch seine Stimme fand es noch immer nicht der Mühe wert, das Gotteslicht, das diesen grausamen Veranstaltungen der Menschheit so großmütig schien, mit einem bejahenden Jammergewinsel zu begrüßen. Gabriel trug das unselige Paket, das in seiner fremdartigen Abgeschlossenheit der religiösen Festnahme und ihren Folgen zu widerstreben schien, vor den Priester, wie es ihm vorgeschrieben war. Die demutscheuen und doch so merkwürdig kalten Priesteraugen Ter Haigasuns schienen Bagradian nicht zu erkennen. Sie sahen zumindest in ihm nicht den Mann, der er war, sondern nur den Funktionär, der bei einer heiligen Handlung eine Aufgabe zu erfüllen hat. Das war immer so, wenn Ter Haigasun vor dem Altare stand oder in die Meßgewänder gekleidet war. Dann wich aus seinen Augen alle menschliche Teilnahme und Erinnerung und machte einzig dem strengen Gleichmut seines Amtes Platz. Mit seinem summenden Melisma stellte er dem Taufpaten die Frage: »Was verlangt dieses Kind?« 
Und Gabriel Bagradian, der sich sehr ungeschickt vorkam, hatte zu antworten: »Glaube und Hoffnung und Liebe!« Dies wiederholte sich dreimal. Dann erst kam die Frage: »Und wie soll dieses Kind heißen?« Man hatte den Vornamen Meister Mikael Tomasians, des Großvaters, gewählt. Bei dieser Stelle der Zeremonie fand sich der Alte komischerweise bemüßigt, von seinem Sitz aufzustehen und eine kleine Verbeugung zu machen, als sei er in der Zukunft seiner Nachkommenschaft mit aufgerufen. Was diese Zukunft anbelangt, gab es in der Zeugenschaft des Taufaktes nur eine ungeteilte Meinung. Selbst wenn man von dem allgemeinen Todeslos absah und an eine Wunderrettung glaubte, so dürfte dieses elend apathische Körperchen dort sie kaum erleben. Mairik Antaram, Iskuhi und Aram Tomasian waren nun zu Gabriel getreten. Das Kind wurde aller Hüllen entkleidet. Iskuhis und Gabriels Hände berührten einander mehr als einmal. Über den Zuschauern lag eine verbissen hoffnungslose Stimmung. Howsannah starrte mit puritanisch eingekniffenen Zügen auf die Taufgruppe. Irgend etwas stimmte ihre Seele todtraurig, todfeindlich, so hatte es den Anschein. Vielleicht war's die innige Gemeinschaft zwischen Aram und Iskuhi, zwischen Bruder und Schwester, von der sie sich im Augenblick ausgeschlossen fühlte. Ter Haigasun nahm das nackte Kind mit einem unnachahmlich sicheren Griff entgegen. Seine Hände, die viele tausend Säuglinge schon getauft hatten, arbeiteten mit jener fast überirdischen Gewandtheit und Elegantheit, die alle bedeutenden Priester auch in dem handwerklichen Teil ihres Dienstes zeigen. Er hielt eine Sekunde lang das Kind den Augen der Versammlung hin. Jeder konnte genau das große Feuermal auf der Brust sehen. Dann tauchte er es schnell dreimal ins Wasser, mit dem Körper des Täuflings jedesmal ein Kreuzzeichen beschreibend: »Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«  [77]

Ein langer Trommelwirbel war zu hören. Ein plötzliches Stillschweigen! »Die Münadirs«, sagte jemand, und ein anderer schrie: »Alarm!« Die jungen und die alten Männer erwachten jäh aus ihrer streitsüchtigen Weltvergessenheit. In langen Sprüngen stürzte alles davon und galoppierte in die verschiedenen Einteilungen. Auch Pastor Tomasian sah man in wilder Hast gegen die Stadtmulde rennen. Binnen weniger Minuten lag der Platz des Gelages leer. »Alarm«, wiederholte Gonzague nachdenklich und in dem ruhigen Braun seiner Augen glitzerten goldene Pünktchen. Der Angriff der Türken kam seinen Plänen zuvor. Diesmal würde es wahrscheinlich nicht gut ausgehen.  Gabriel Bagradian hatte den großen Alarm angeordnet, ohne der unmittelbaren Gefahr noch gewiss zu sein. Merkwürdigerweise wurde es erst nach Sonnenuntergang klar, dass die Türken in der Orontesebene und im armenischen Tale eine unabschätzbar große Truppenmenge zusammengezogen hatten. Die reguläre Streitkraft und die Freischaren schienen so zahlreich zu sein, dass sie in den Ortschaften kein Quartier mehr fanden und unter freiem Himmel nächtigen mussten. Der weite Halbkreis von Lagerfeuern reichte fast vom Ruinensturz Seleucias bis zum äußersten armenischen Dorf, bis zu Kebussije im Norden. "Nach und nach rückten die Späherpatrouillen ein und meldeten staunenswerte Dinge. Die türkischen Soldaten wären wie mit einem Schlage aus dem Boden gefahren. Doch nicht nur die Soldaten, die Saptiehs und Tschettehs, alle Moslems der ganzen Landschaft seien plötzlich mit Mausergewehren und Bajonetten bewaffnet und die Offiziere bildeten aus ihnen Abteilungen. Die Zahl der Waffenträger lasse sich gar nicht berechnen. Phantastische Zahlen machten die Runde. Wenn aber Gabriel Bagradian den viele Meilen großen Halbkreis der Lagerfeuer in Betracht zog, so mochten ihm diese Zahlen gar nicht phantastisch erscheinen. Zwei Dinge waren sicher. Der türkische Befehlshaber hatte erstens Mannschaften genug, um den Damlajik von der Südbastion bis zum Nordsattel zu belagern und zu stürmen. Und zweitens musste er sich so übermächtig fühlen, dass er die Taktik des gedeckten Aufmarsches und plötzlichen Überfalles verschmähte. Diese Offenheit, die auf die Armenier niederschmetternd wirken sollte und wirkte, wies auf einen bestimmten »Fall« hin, den Bagradian unter dem Kennwort »Generalangriff« schon vorgesehen, ausgearbeitet und als Manöver geübt hatte. Gabriel war weit ruhiger als vor den beiden anderen Kämpfen, obgleich die Aussichten diesmal für das Bergvolk hoffnungslos standen. Nach dem ersten Alarm jagte er die Ordonnanzen in die einzelnen Stellungen, um alle Führer und die freien Zehnerschaften bei sich auf seinem Standort zu versammeln. Indessen hatten sich auch die Gewählten des Führerrats eingefunden. Von ihren erschrockenen Zügen war die Wirrnis des Weines völlig verschwunden. Gabriel Bagradian übernahm, wie es verfassungsmäßig bestimmt war, für die Stunden des Kampfes auch den obersten Befehl über das Lager. Er verfügte, dass alles frisch geschlagene Fleisch noch im Laufe der Nacht unverzüglich zubereitet werde. Zwei Stunden vor Tagesanbruch müsse der reichlichste Proviant in die Stellungen geschafft werden. Es solle ferner auch alles, was sich im Lager noch an Wein und Branntwein vorfinde, an die Kämpfer verteilt werden. Er selbst stellte alle Zehnliterkrüge des Dreizeltplatzes bis auf einen einzigen den Verteidigern zur Verfügung. (Diese Gabe war später mitschuldig an dem Märchen vom unerschöpflichen Horte der Bagradians.) Als die Gruppenführer, die Zehnerschaften, die Leute der Reserve und die Jugendkohorte angetreten waren, hielt Gabriel Bagradian eine kurze Ansprache. Er belehrte die Leute über den Kampf, der zu erwarten war, und verschwieg ihnen die Wahrheit nicht. Wörtlich sagte er: »Aller menschlichen Voraussicht nach haben wir nur zwischen zwei Toden zu wählen, zwischen dem leichten und anständigen des Gefechtes und dem niedrigen und furchtbaren des Massakers. Wenn wir uns dies völlig klarmachen, wenn wir mit unbeugsamer Entschlossenheit den ersten, den anständigen Tod wählen, dann geschieht vielleicht das Wunder, und wir werden nicht sterben müssen. Aber nur dann, Brüder!« [78]

Nun wurden die neuen Einteilungen für den »Generalangriff« getroffen. Tschausch Nurhan Elleon erhielt das Kommando über den Nordsattel. Ein weiterer Befehlswechsel erfolgte, indem Gabriel Bagradian dem Russen Kilikian, wie er es vor einigen Stunden schon angedeutet hatte, den wichtigen Abschnitt oberhalb der Steineichenschlucht übertrug. Zwei gänzlich neue Kampfgruppen wurden gebildet, eine fliegende Garde und ein Komitatschi-Bann. Für letzteren sonderten Nurhan und Bagradian, eingedenk des Bandenkrieges auf dem Balkan, aus den Zehnerschaften etwa hundert der entschlossensten Männer, der besten Schützen, der gewandtesten Kletterer aus. "Sie hatten sich über die ganze Talseite des Damlajik zu verteilen und längs der Aufstiege in Baumkronen, hinter Gestrüpp und Felsblöcken, in Gruben und Falten den Hinterhalt zu beziehen. Sie sollten die türkischen Angriffskolonnen zuerst ruhig vorüberlassen, dann aber diese vom Rücken her und womöglich von mehreren Seiten schlagartig unter heftiges Feuer nehmen, ohne Munition zu sparen. Jeder Komitatschi bekam zwölf Magazine, also sechzig Patronen ausgefolgt, unter den gegebenen Umständen eine überwältigend reiche Munition. Bagradian war übrigens, was die Munition im allgemeinen betrifft, ausnehmend großmütig. Da die kommende Schlacht zweifellos die Entscheidung brachte, sah er keinen Grund, zu geizen, und behielt von den alten, den erbeuteten und den neu gefüllten Patronen nur einen unbeträchtlichen Rest in den Verschlägen zurück. Den Franktireurs setzte er die Aufgabe in seiner logischen und einfachen Art auseinander, so dass jeder der jungen Leute bis zum Grund verstand, worum es ging: den feindlichen Anmarsch verwirren und aufhalten! Keinen Augenblick in Ruhe sein, sondern den Rücken des Feindes unausgesetzt belästigen, besonders dann, wenn er zum Angriff vorgehen will! Und das Hauptgesetz wie immer: Jede Kugel ein Toter! Nach dem Komitatschi-Bann wurde die fliegende Garde aus den Zehnerschaften ausgehoben. Gabriel Bagradian verkleinerte die Besatzung der Südbastion, die durch ihre starken Verteidigungswerke so gut wie uneinnehmbar war, auf die notwendigste Kämpferzahl. Die Lücken ließ er durch Reservisten auffüllen. So wurden etwa hundertundfünfzig Gewehre für seine Garde frei, die er selbst führte und mit der er überall dort eingreifen wollte, wo der Kampf ungünstig stand. Ein großer Teil dieser Stoßtruppe wurde auf den Eseln des Lagers, der leichten Beweglichkeit wegen, beritten gemacht. Die Reitesel dieser Gegend sind keine störrisch langsamen Gesellen, sondern für alle Gangarten abgerichtet. Die beiden Gruppen der Jugendkohorte, die Ordonnanzen und ein Teil der Späher, hatten sich der Garde immer an die Fersen zu heften, damit die ausstrahlenden Verbindungen aller Abschnitte mit dem Hauptkommando niemals unterbrochen würden. Dies war in großen Zügen die Ordre de bataille, die Gabriel für den Fall des Generalangriffes ausgearbeitet hatte und deren Vorbereitung er nun während der beiden ersten Nachtstunden in großer Ruhe durchführte. Zuletzt musterte er noch die gesamte Reserve. Sie bekam den Befehl, bei Sonnenaufgang die Stadtmulde zu verlassen. Die eine Hälfte wurde für die einzelnen Stellungen als Ersatzmannschaft bestimmt, die andre Hälfte sollte den langen Streifen der Hochfläche beziehen, die zwischen dem östlichen Bergrand und der Lagerstadt lag. Dieser Streifen, der an mancher Stelle, wie zum Beispiel vor dem Steineichenschlucht-Abschnitt, nur tausend Schritt schmal war, bildete eine äußerst gefährdete Zone. Hier sorgten nur einige Schanzen, oder besser regellose Steinhaufen, für die Abriegelung der Stadtmulde gegen einen feindlichen Ansturm. Nachdem Gabriel Bagradian auch der Reserve ihre große Pflicht eingeschärft und ihr dargelegt hatte, dass sie den letzten Wall gegen die unausdenklichste Frauenschändung und Kindermetzelei vorstelle, blies Nurhan Elleon auf seinem Kornett mit stotternder Erbitterung irgendwelche Fetzen aus dem türkischen Zapfenstreich. Dies war der Befehl zum Schlafengehen. Gabriel begab sich daraufhin zu den Haubitzen, wo er die Nacht zubringen wollte. Er hatte mit Hilfe Nurhans ein paar der klügeren Leute für den Artilleriedienst notdürftig ausgebildet. Vor Mitternacht rückte das letzte Kundschafterpaar ein. Sein Bericht brachte nichts Unbekanntes. Als einzige Neuigkeit erfuhr Bagradian nur, dass vom Dach seiner Villa die Halbmondflagge wehe, dass im Hofe eine Menge Pferde zusammengekoppelt seien und Offiziere ein und aus gingen. Es war demnach klar, dass sich im Hause Bagradian das Hauptquartier der Türken befand. Gabriel wartete auf den späten Aufgang des Mondes. Dann begann er, auf der Karte bedachtsam mit dem Zirkel Entfernungen zu messen und Berechnungen anzustellen. Da der dicke, aufgeblähte Vollmond ziemlich viel Licht verbreitete, gelang es ihm, einen Hilfszielpunkt anzuvisieren und danach die Richtelemente der beiden Geschütze zu ermitteln. Die Mannschaft der Batterie musste die Geschoßverschläge nahe heranschleppen. Es waren noch fünf Schrapnells und dreiundzwanzig Granaten vorhanden. Bagradian ließ die Hälfte dieser Geschosse hinter dem Sporn jeder Haubitze aufreihen. Dann ging er von einem Geschoss zum andern und tempierte es mit dem Klammerschlüssel im Scheine seiner Taschenlaterne."  [79]

Der Kaimakam, der Jüsbaschi aus Antakje, der rothaarige Müdir, der Bataillonskommandant der aus Aleppo gesandten vier Kompanien und zwei andere Offiziere hielten nach Sonnenuntergang im Selamlik der Villa Bagradian Kriegsrat. Das Empfangszimmer erstrahlte im vollen Kerzenlicht wie bei Juliettens Notabeln-Abenden. Die Offiziersdiener räumten die Reste der Mahlzeit ab, welche die Herren in diesem Salon eingenommen hatten. Durch die offenen Fenster drangen Trompetensignale und die Feierabendgeräusche einer rastenden und menagierenden Truppe. "Da man bei diesen Teufelsarmeniern auf unvorhergesehene Streiche gefasst sein musste, hatte der Kaimakam für das Hauptquartier eine Bedeckungsmannschaft angefordert, die nun den Park, den Obst- und Gemüsegarten des Hauses durch ihr Zeltlager verwüstete." Die Beratung der Offiziere und Beamten dehnte sich schon ziemlich lange aus, ohne dass eine volle Übereinstimmung erreicht worden wäre. Es handelte sich um nichts Geringeres als um die Frage, ob die angeordnete Erstürmung des Damlajik im Morgengrauen wirklich gewagt werden sollte. Der Kaimakam mit der missvergnügten Hautfarbe und den schwarzbraunen Augensäcken war innerhalb dieses Kriegsrates die zögernde und widerstrebende Persönlichkeit. Er begründete seine unentschlossene Haltung mit dem Umstand, dass der Etappengeneral von Aleppo auf Wunsch des Wali zwar ein ganzes Infanteriebataillon gesandt habe, dass aber die versprochenen Maschinengewehre und Gebirgskanonen nicht eingetroffen seien. Der Kolagasi (Stabshauptmann) aus Aleppo erklärte dieses Versäumnis damit, dass diese Waffengattungen allesamt mit den abkommandierten Divisionen aus Syrien verschwunden seien und dass sich in ganz Aleppo kein Maschinengewehr finde. Der Kaimakam gab den Herren zu bedenken, ob es nicht vorteilhafter wäre, mit der Aktion noch einige Tage zu warten und Seine Exzellenz Dschemal Pascha telegrafisch um Überlassung der notwendigen Angriffswaffen dringend zu ersuchen. Die Offiziere aber hielten diesen Vorschlag für unmöglich, da die Umgehung der Instanzen den unberechenbaren Dschemal erbittern und zu einem Gegenstreich aufreizen könnte. Der Jüsbaschi aus Antakje schob den Stuhl zurück und nahm einen Zettel zur Hand. Seine Finger zitterten, weniger, weil er erregt, als weil er ein Kettenraucher war: »Effendiler«, begann er mit einer leisen und heiseren Stimme, »wenn wir auf Artillerie und Maschinengewehre warten wollen, so bleibt uns nichts übrig, als hier zu überwintern. Mit dergleichen sieht es bei der Feldarmee so schlecht aus, dass wir uns mit unseren Ansprüchen nur lächerlich machen würden. Ich werde mir erlauben, dem Kaimakam die Stärke unserer Truppen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen ...« Ohne jede Betonung las er die Zahlen von seinem kleinen Zettel ab: »Vier Kompanien aus Aleppo: sind rund tausend Mann. Zwei Kompanien aus Alexandrette: sind fünfhundert Mann. Die aufgefüllte Garnison von Antakje: sind vierhundertundfünfzig Mann. Das bedeutet fast zweitausend Gewehre regulärer Infanterie. Die Regimenter der Front dürften nicht annähernd diese Stärke haben. Weiter, die zweite Linie: vierhundert Saptiehs aus Aleppo, dreihundert Saptiehs aus unserer eigenen Kasah und vierhundert Tschettehs aus dem Norden, das sind wiederum elfhundert Mann. Dazu kommen in dritter Linie noch die zweitausend Moslems der verschiedenen Dörfer, die wir bewaffnet haben. Alles in allem werden wir also mit einer Truppe von rund fünftausend Gewehren angreifen ...« Der Jüsbaschi unterbrach seinen Bericht, um eine Tasse Kaffee hinunterzustürzen und eine neue Zigarette anzuzünden. Diese Pause benützte jemand, um einen Einwurf zu machen. 
»Die Armenier besitzen immerhin zwei Geschütze.« Die eingefallenen Wangen des Majors hatten sich belebt und seine gelbliche Stirn schimmerte feucht: »Diese Geschütze sind vollkommen wertlos. Denn erstens fehlt ihnen die Munition, und zweitens kann niemand mit ihnen umgehen. Drittens aber werden wir sie sehr schnell wiederbekommen.« Der Kaimakam, der müde oder gelangweilt in seinem Fauteuil zurückgesunken saß, hob die Augen: »Unterschätzen Sie diesen Bagradian nicht, Jüsbaschi! Ich bin dem Mann nur ein einziges Mal begegnet, im Bade. Dort hat er sich merkwürdig frech benommen.« Der junge Müdir mit den Sommersprossen und fabelhaften Fingernägeln mischte sich vorwurfsvoll ins Gespräch: »Es war der größte Fehler, dass die Militärbehörde diese armenischen Reserveoffiziere nicht eingezogen hat. Meines Wissens hat sich Bagradian mehrmals freiwillig gemeldet. Ohne ihn hätten wir an der Küste die schönste Ruhe.« Der Major schnitt diese Überlegungen jäh ab: »Bagradian hin, Bagradian her! Solche Zivilisten sind gar nicht so wichtig. Ich habe gestern persönlich den Damlajik rekognosziert und mir die Geschichte ein bißchen angesehen. Es ist ein zerlumptes Pack. Ihre Gräben scheinen ganz primitiv zu sein. Wenn ich verschwenderisch rechne, so besitzen sie vier- bis fünfhundert Gewehre. Wir müssten uns selbst ins Gesicht spucken, wenn wir die Sache nicht bis Mittag erledigt haben.« Der Kolagasi von Aleppo schloss sich der Meinung des Majors nachdrücklichst an. Er hege die entschiedenste Hoffnung, binnen zwei Tagen aus dieser unbequemen Gegend fort und wieder in der schönen Stadt Aleppo zu sein. Da die Offiziere von solch einmütiger Zuversicht erfüllt waren, gähnte der Kaimakam abschließend: »Sie garantieren also den Erfolg, Jüsbaschi?« Der Major blies wie ein Drache zwei dicke Rauchstrahlen durch die Nase: »Bei militärischen Unternehmungen gibt es keine Garantien. Dieses Wort muss ich ablehnen. Ich kann nur sagen, dass ich nicht weiterleben will, wenn das armenische Lager nicht bis zum Abend liquidiert ist.« Daraufhin rekelte sich der Kaimakam mühsam auf: »Gehen wir also schlafen!« Der Schlaf des Hochmögenden gelang jedoch in dieser Nacht nicht zum besten. Er hatte sein Lager in Juliettens Zimmer aufgeschlagen. Der Raum war von dem Geruch der zerbrochenen Parfümflaschen noch immer so durchdringend erfüllt, dass die Nachtruhe des leberkranken Kaimakams durch beklemmende und aufreizende Traumbilder feindselig gestört und durch viele schlaflose Stunden unterbrochen wurde. [80]

Das Erwachen war nicht besser als der Schlaf. "Kaum hatte sich das erste Morgengrauen entfaltet, als der Kaimakam durch eine ungeheure Explosion geweckt wurde. Er stürzte halbangekleidet vors Haus. Die Verwüstung war groß. Die Granate war dicht vor der Hausrampe niedergegangen. Die Scherben sämtlicher Fensterscheiben bedeckten die Erde. Der Luftdruck hatte einen Türflügel aus den Angeln gehoben und in den Flur geschmettert. Im Mauerwerk klafften tiefe Breschen. Steintrümmer und aufgebogene Eisenstücke lagen überall umher. Das Schlimmste aber war der Anblick des Stabsoffiziers aus Aleppo. Den Unglücklichen hatte das Schicksal dazu ausersehen, gerade im Augenblick des Volltreffers aus dem Hause zu treten. Nun saß er gegen die Wand gelehnt. Seine blauen Augen blickten kindhaft leer. Er schien tief atmend einer träumerischen Vergangenheit nachzuhängen. Ein Sprengstück hatte ihm die rechte Schulter aufgefleischt, ein anderes den linken Oberschenkel verwundet. Der Jüsbaschi von Antakje bemühte sich um ihn. Es hatte den Anschein, als rede er ihm nicht ohne Strenge zu, sich seiner Verwundung weniger bequem hinzugeben. Der Kolagasi aber lieh diesen Mahnungen trotzig kein Gehör, sondern kippte langsam zur Seite. Der Jüsbaschi drehte sich zornig und brüllte die schreckerstarrten Soldaten an, sie möchten nicht glotzen, sondern Feldscher und Sanität holen. Dies aber war nicht so einfach. Der Feldscher befand sich bei der dritten Kompanie in Bitias. Der Major ließ den Schwerverwundeten ins Haus tragen. Er wurde in Stephans Zimmer aufs Bett gelegt. Wieder zur Besinnung gelangt, flehte er den Major an, er möge ihn nicht verlassen, ehe er verbunden sei. Der Kaimakam, der seinem Wesen nach ein überzeugter Zivilist war und den vergossenes Menschenblut praktisch ebenso entsetzte, wie es ihn theoretisch kaltließ, stieg wie von ungefähr still vor sich hin die finstre Treppe in den Hauskeller hinab. Die Kanonade Gabriel Bagradians ging nämlich gemächlich weiter. Soeben polterte ein neuer Krach von der Ortschaft herüber." Ein mehr als ironischer Zufall hatte die Flugbahn der ersten Granate zum Bagradianhaus gelenkt und den feindlichen Bataillonsführer schachmatt gesetzt. "Vielleicht aber war es gar kein Zufall, sondern ein lebendiger Lehrbeweis dafür, dass Gott durchaus nicht immer auf seiten der stärkeren Bataillone steht. Durch die Lähmung des Kommandos wurde jedenfalls der Zeitpunkt des Angriffs um mehr als eine Stunde hinausgeschoben. Die türkischen Schwarmlinien, die sich schon in den Obst- und Weingärten am Fuße des Damlajik entwickelt hatten, wurden zurückgehalten. Diese armenischen Schweine schienen das wichtigste Ziel verteufelt gut herauszuhaben und ausgelernte Feuerwerker zu besitzen. Wenn sich auch die nächsten acht Zufälle als weniger genial erwiesen als der erste, so war die Talsohle doch breit genug, um den Schrapnells und Granaten, wo immer sie auch niedergingen, schreckenerregende Gelegenheit zu bieten. Drei Häuser in Bitias, Azir und Yoghonoluk wurden in Brand geschossen. Unter einer Abteilung lagernder Saptiehs, die aus ihren Feldflaschen Kaffee tranken, richtete eine der Granaten die schwerste Verheerung an. Drei Tote und viele Verwundete zurücklassend, verließen diese Träger der zivilen Ordnungsgewalt den Kriegsschauplatz für immer, ohne einen Schuss abzugeben." Gabriel Bagradian erreichte durch das Haubitzfeuer ungefähr das, was er angestrebt hatte, ohne freilich von seinen Erfolgen rechte Kenntnis zu haben. Die türkischen Operationen wurden schmählich gestört, der Mut der neuen Bevölkerung so empfindlich herabgestimmt, dass die Frauen in hellen Haufen bereits gegen die Orontes-Ebene zu flüchten begannen, und nicht zuletzt blieb die oberste Führung eine Zeitlang ausgeschaltet. Erst nachdem das Haubitzfeuer längst schon eingestellt war, rafften sich die Schützenketten auf und verschwanden in den Waldungen der Vorberge des Musa Dagh. "Bagradian machte sich einen Augenblick lang den Selbstvorwurf, dass er nicht Verwegenheit genug besessen hatte, mindestens vierhundert Mann des ersten Treffens, die Hälfte aller Zehnerschaften, als Komitatschis auf die Anmarschwege zu verteilen und so den Angriff zu vernichten, ehe er sich zu entwickeln noch Zeit fand. Er fürchtete jedoch aus seiner eigenen gefährdeten Natur heraus alles Aufgelöste und Ungeregelte und hatte deshalb darauf verzichtet, diesen Gedanken auch nur auszusprechen. Tatsache jedenfalls war es, dass die hundert Komitatschis durch listenreiche Positionen und geistesgegenwärtige Tollkühnheit schon auf halber Bergeshöhe unter den heraufkeuchenden Feindesgruppen mehr Verwirrung und Schaden stifteten, als ein offener Sturmangriff es vermocht hätte. Zweimal, dreimal schleuderte das unsichtbare Kreuzfeuer die Verbände, die sich mühsam durch das Dickicht emporarbeiteten, wild auseinander und zerstreute sie. Die einzelnen Haufen und Rotten, von der Befehlgebung abgeschnitten, Schritt auf Schritt des Todes gewärtig, jagten die Abhänge wieder hinab, was nicht einmal Feigheit genannt werden darf, da Gegenwehr ja unmöglich war. Nach all diesen missglückten Versuchen blieb dem Major nichts anderes übrig, als die Kompanien auf der Linie des Vorberges zu sammeln, eine Erholungsrast anzuordnen und abkochen zu lassen. Inzwischen konnten die Komitatschis in aller Ruhe die Gewehre und Patronen der Gefallenen und Verwundeten in Sicherheit bringen. Der Kaimakam, der sich beim Kommando befand, stellte mit bitterster Verdrossenheit dem Jüsbaschi die Frage: »Wollen Sie Ihre Taktik aufrechterhalten? Ich glaube, wir kommen so nie und nimmer auf den Berg.« Der Major wurde kaffeebraun vor Wut und schrie den Landrat an: »Wenn Sie es wünschen, übergebe ich Ihnen hiermit den Befehl und ziehe mich zurück. Das Ganze ist mehr Ihre als meine Sache.« Der Kaimakam merkte, dass man mit diesem eitlen Offizier äußerst vorsichtig umgehen müsse. Er beschloß deshalb, den plötzlichen Konflikt sofort abzuknicken. Mit seiner schläfrigsten Miene zuckte er die Achseln: »Das ist richtig. Ich habe die Verantwortung. Merken Sie sich aber, Jüsbaschi, dass Sie mir verantwortlich sind. Wenn die Sache misslingt, werden wir beide die Folgen tragen müssen, Sie genauso wie ich.« [81]

Diese reine Wahrheit leuchtete dem Major so heftig ein, dass er verstummte. "Da man die höchsten Stellen, den Wali, ja den Kriegsminister höchstpersönlich mit dem Musa Dagh beschäftigt hatte, konnte ein neuer Misserfolg den Jüsbaschi vor ein Kriegsgericht führen, das ihm gegenüber weniger gnädig vorgehen würde als gegen den alten Bimbaschi mit den Kinderwangen. Er war auf Gedeih und Verderb an den Kaimakam geschmiedet und musste sich daher mit ihm verhalten. Zu diesem Zwecke machte er eine ziemlich friedliche Bemerkung und ging ans Werk. Die Kompanie im Norden wurde angewiesen, sofort gegen die armenische Sattelstellung vorzugehen. Die Südstellung oberhalb des Bergsturzes sollte unbehelligt bleiben, da der Jüsbaschi die Truppen nicht einer neuen Steinlawine aussetzen wollte. Er versammelte die Offiziere um sich und befahl ihnen, ihren Zügen zu verkünden, dass jeder Soldat, der während des nächsten Aufstiegs umkehre und zurücklaufe, unbarmherzig niedergemacht werde. Eigens zu diesem Henkersberufe legte er die Saptiehs und Tschettehs in langer Linie in die Einbuchtungen der Vorberge. Sie bekamen den scharfen Befehl, gegen die zurückflutende Infanterie sofort das Feuer zu eröffnen. Diese Aufgabe zu übernehmen, weigerten sich die Saptiehs und Freischärler nicht. Zugleich ließ der Major im Gelände der Aprikosen- und Weingärten eine dritte, sehr lange Linie aufmarschieren, die bewaffneten Dorfbewohner, zu denen sich ein Teil ihrer Frauen gesellte. Die Angst vor dem Befehl des Jüsbaschi tat bei den Kompanien ihre Wirkung. Die Schwärme rasten, von Angst gehetzt, die steilen Berglehnen empor. Sie wagten es nicht, auch nur eine halbe Minute zu verschnaufen. Mit geschlossenen Augen stürmten sie durch das Komitatschifeuer. Der Mittag war lange vorüber, als es drei Zügen unter dem grausamen Feuer der Verteidiger gelang, auf den Höhen Fuß zu fassen und sich an vier Punkten den armenischen Abschnitten gegenüber notdürftig mit dem Infanteriespaten einzugraben oder hinter Felsen, Geröllstürzen, Bäumen, Bodenwellen Deckung zu finden. Durch diese wahre Heldentat aus Angst hatten die Truppen des Majors ihren ersten ansehnlichen Erfolg errungen. Er selbst, vom echten Schlachtenfieber erfaßt, führte mit gezogenem Säbel eine neue Sturmwelle hinauf. Auch ihr gelang es, sich unterhalb der armenischen Gräben festzusetzen und die Angriffsfront zu verlängern. Die Begeisterung über diesen Erfolg befeuerte die Türkenseelen mächtig. Sie eröffneten an allen Einfallspunkten zugleich ein rasendes Feuer. Dem Major war es vorerst gleichgültig, ob die Schüsse ein Ziel trafen oder nicht. Zwei Stunden lang sollten die Ohren und Seelen der Armeniersöhne so zermürbt werden, dass ihnen der letzte Rest ihrer Frechheit verging. Auch bekamen sie auf diese Weise zu spüren, dass der Staatsgewalt Munition genug zur Verfügung stand, um dieses Feuer mit der gleichen Dichtigkeit drei Tage lang fortzusetzen. Die Verteidiger verkrochen sich wie gelähmt in ihren Gräben, während der undurchdringliche Projektilschleier über ihre Köpfe wegwehte. Das Schlimmste aber war, dass sich von jenen Kampfplätzen, die der Stadtmulde zunächst lagen, Hunderte von Kugeln unter die Laubhütten verirrten und bisweilen Geller als abgeplattete Dumdum-Geschosse furchtbare Wunden schlugen. Ter Haigasun befahl daher, dass die Stadtmulde unverzüglich geräumt werde und dass sich das nicht wehrfähige Volk gegen die Meer- und Felsseite des Berges zurückziehe."  [82]

Während der lang dauernden Feuerraserei gegen die armenischen Gräben ließ der Jüsbaschi nacheinander die Kompaniereserven, die Saptiehs und zuletzt die bewaffneten Bauern von seinen Offizieren heranführen, damit sich seine Obermacht beim Sturmangriff in immer wieder erneuerten Männerwellen auswirken könne. Das zweite, dritte und vierte Treffen wurde in ziemlich dichten Abständen hinter der Front bereitgestellt. "Als diese durch die tückischen Überfälle der Komitatschis erschütterten und wutgepeitschten Mannschaften brüllend die Höhe erreichten, gab der Major dem ersten Treffen den Sturmbefehl. Die Armenier, die schon eine alte Sturmabwehrerfahrung hatten, schossen von ihren zumeist höher gelegenen Stellungen die zögernden Stoßschwärme in aller Ruhe zusammen. So schnell hintereinander die Wellen auch eingesetzt wurden, sie brachen sich, von der Ungunst des Bergbodens schwer benachteiligt, weit vor den armenischen Gräben. Trotz ihrer unermesslichen Übermacht und Feuerüberlegenheit konnten die Moslems bis zum späten Nachmittag an keinem der Einfallspunkte auch nur einen Schritt weiterkommen. Dabei hatten die Armeniersöhne durch die kluge Anlage der Verteidigungsabschnitte ein verhältnismäßig leichtes und kostenloses Spiel. Ihre Gräben bildeten da und dort scharfe Winkel, und die anstürmenden Türken erhielten dadurch Front- und Flankenfeuer. Dazu kamen noch die Komitatschis, die plötzlich an dieser und jener Stelle die Reserven mit einem raschen, aber tödlichen Kugelregen überschütteten. Die todesmutigen, vergeblichen Sturmangriffe hatten den Major schon beinahe ebensoviel Männer gekostet wie die letzte Niederlage den armen Bimbaschi, der ihretwegen schmählich davongejagt worden war. Der aus einem weit härteren Holz geschnitzte Jüsbaschi aber gab nicht nach. Er stellte sich immer wieder an die Spitze der Angriffsreihen und entging hundertmal durch das Wunder der echten Führertapferkeit dem Tode. Er hielt sich zumeist im Abschnitt der Steineichenschlucht auf, denn es wurde allgemach klar, dass sich hier der schwächste Punkt der Verteidigung befand. Noch hielt Gabriel Bagradian dank seiner fliegenden Garde alle Fäden in der Hand. Drei Stunden noch, dachte er, und dann ist es Nacht. Die Garde hatte immer wieder in bedrohlichen Fällen eingegriffen, wankende Gräben versteift, die gefährdeten Lücken zwischen den Abschnitten gefüllt und ermüdete Zehnerschaften abgelöst. Jetzt freilich lag Bagradian ausgepumpt, totenfahl und ohne Atem irgendwo auf der Erde und erholte sich nur mühsam. Awakian saß neben ihm, und etwa zwölf Ordonnanzen der Jugendkohorte warteten auf seine Befehle. Haik war unter ihnen, Stephan nicht. Jeden Augenblick trafen Meldungen ein. Hauptsächlich vom Nordsattel, der bis jetzt noch keinen schweren Tag gehabt hatte. Um diese Stunde aber schienen die Türken ihre Absichten zu ändern und einen Hauptschlag im Norden vorzubereiten. Die Berichte Tschausch Nurhans lauteten immer nervöser. Nicht nur der Major, sondern ein ganzer Stab von Offizieren sei hinter den Deckungen auf den Gegenhöhen des Sattels aufgetaucht. Man habe sie deutlich an den Feldstechern erkannt. Bagradian hatte sich vorgenommen, mit dem Einsatz der Garde, das heißt der letzten Kräfte, auf das äußerste zu geizen und sich durch die Unsicherheit der einzelnen Unterführer nicht missbrauchen zu lassen. Der Nordabschnitt war die bei weitem bestgesicherte Stellung, und es lag gar kein Grund vor, Verstärkungen in dieses Grabensystem zu werfen, ehe der Kampf noch begonnen hatte. Viel wichtiger dünkte es Gabriel Bagradian, immer in der Nähe des sehr gefährdeten Abschnittes der Steineichenschlucht zu bleiben, um dort ein Unglück zu verhüten. Er lag mit geschlossenen Augen da und schien den häufigen Meldungen vom Nordsattel keine Beachtung zu schenken. Nur noch zweieinhalb Stunden, sagte er sich innerlich vor. Eine Kampfpause war eingetreten. Das Feuer schwieg. Bagradian gab sich ganz seiner Erschöpfung hin. Vielleicht aber war dieser geistige und körperliche Schwächezustand der Grund, warum er dem Major doch in die Falle ging." [83]

Gabriel Bagradian hatte ohne Zweifel bewiesen, dass er, der Schöngeist, echte militärische Führerbegabung besaß, vom tödlichen Zwang an die Oberfläche geholt. Dem Fehler, den er jetzt beging, waren angesehene Generale oft erlegen, indem sie sich durch die Vorliebe für gewisse wohlstudierte Kampfabschnitte in ihren Entschlüssen leiten ließen. Und so ließ sich denn Gabriel auch durch die Vorliebe für das Hauptwerk seines großen Verteidigungsplanes, den Nordabschnitt, dazu verleiten, den zahlreichen Botschaften Tschausch Nurhans, die zuletzt in Hilferufe ausarteten, endlich doch nachzugeben. Da die Türken ihre Angriffe weder aus der Steineichenschlucht noch auch bei den anderen Einfallspunkten des Bergrandes wiederholten, da ringsum das Gewehrfeuer schwieg, um sich mit ungeahnter Wucht im Norden zu sammeln, so erschien es mehr als wahrscheinlich, dass der Feind mit seiner ganzen Übermacht einen Durchbruchsversuch in der Sattelstellung wagen werde. Aus diesem Grunde zog Bagradian die über die lange Randfront verteilten Zehnerschaften der fliegenden Garde zusammen und führte sie nach Norden, wo sie, des türkischen Sturmes gewärtig, den zweiten Graben und die Felsbarrikaden bezogen. Gabriel erwartete das Vorbrechen des Feindes in jedem Augenblick, da das Feuer von Minute zu Minute an Heftigkeit zunahm und der Abend immer näher rückte. (Da niemand andrer als er die Haubitzen richten und bedienen konnte, mussten sie außer Gefecht bleiben.) Sarkis Kilikian hatte sich während des Tages als Abschnittskommandant über der Steineichenschlucht hervorragend gehalten und fünf Angriffe abgeschlagen. Eine Zeitlang hatte es den Anschein, als ob die türkischen Schwarmlinien, aller Verluste ungeachtet, den Durchbruch nirgendwo anders als hier oben erzwingen wollten, da es sich ja um die Schlüsselstellung handelte, die mitten ins Volkslager führte. Weil Gabriel Bagradian der Ausdauer des Russen in den ersten Kampfstunden nicht völlig traute, hatte er sich zumeist in der Nähe des Steineichenschlucht-Abschnittes aufgehalten und mehrmals, den Türken in die Flanke fallend, mit seinen Zehnerschaften eingegriffen. Die Aufgabe Sarkis Kilikians war alles eher als leicht. Der Hauptgraben dehnte sich nur über ein ziemlich kurzes Bodenstück. Die Gräben der Seitensicherung lagen nicht sehr günstig und waren überdies je einige hundert Schritt weit von den Nachbarabschnitten entfernt, ohne dass diese Lücken, wie zwischen den meisten anderen Einfallspunkten, durch Steilhänge, Felswände oder dicken Knüppelwuchs ungängig blieben. Der Russe gebot über eine verhältnismäßig kleine Besatzung von acht Zehnerschaften, die außerdem, der Bodenbeschaffenheit entsprechend, ziemlich auseinandergezogen stand. Dennoch war er ohne bedeutende Verluste über den Tag hinweggekommen, obwohl immerhin zwei Tote und sechs Verwundete zu beklagen waren. Etwas von Kilikians Wesen, seiner totenhaften Ruhe und Gleichgültigkeit, war auf die Besatzung übergegangen. Sooft die Türken zum Angriff ansetzten, schossen die Leute mit solcher, man kann es nicht anders nennen, gelangweilten Sicherheit, als seien sie im Tode und im Leben gleicherweise zu Hause und es bekümmere sie nicht sehr, welchen von diesen zwei Aufenthaltsorten sie künftig bewohnen würden. Während Kilikian sein Gewehr im Anschlag hielt, ließ er keine der guten Zigaretten verlöschen, von denen ihm Bagradian eine Schachtel zum Geschenk gemacht hatte. Jetzt, nach so vielen blutigen Stunden, lehnte er seine dürre Gestalt gegen die Grabenwand und starrte auf das mit Baumstrünken und Stämmen, mit Sträuchern und Latschen übersäte Vorfeld, das sich in scharfer Neigung bis zum Ausstieg der eigentlichen Steineichenschlucht senkte, die der Feind dicht besetzt hielt. Gabriel Bagradian hatte hier selbstverständlich in den ersten Tagen schon den Bergrand abholzen lassen. Kilikians jugendlicher Totenkopf saß regungslos zwischen den Schultern. In seinen Augen mit dem stumpfen Achatglanz kam die große Kunst zum Ausdruck, das Leben bis auf ein Minimum an Tätigkeit abstellen zu können. In der erbeuteten Uniform sah der Russe mit seinen abfallenden Schultern und seiner mädchenschmalen Taille, die er durch einen festangezogenen Gürtel eigens betonte, wie ein äußerst eleganter Offizier aus. Er sprach mit den Nachbarmännern kein Wort, und auch diese schwiegen. Ihre Augen sahen immer wieder nach den Schatten der Bäume und Sträucher, die von Sekunde zu Sekunde länger, schmäler, goldhaltiger wurden wie geheimnisvolle Lebewesen. Alle Armeniersöhne und -töchter auf dem Damlajik, bis vielleicht auf Krikor und Kilikian, hegten jetzt einen einzigen Gedanken, den Gedanken Gabriel Bagradians: Nur eine Stunde noch und dann ist die Sonne untergegangen. Im Norden knatterte salvenartiges Feuer. Hier unten aber lag Wald und Berg scheinbar im tiefsten Frieden. Manche von diesen abgekämpften Männern schlossen jetzt die Augen, um eine Weile im Stehen zu schlafen. Sie hatten dabei das sonderbare Gefühl, dass dieser gestohlene Schlummer die Zeit heimlich vorwärts- und der rettenden Nacht in die Arme treibe. Der Schläfer wurden immer mehr und mehr. Zuletzt schien von der Besatzung in den drei Gräben kaum ein Mann wach zu sein. Nur die leblos geschliffenen Steinaugen Sarkis Kilikians, des Führers, beobachteten unbeweglich den schwarzen Waldrand der Steineichenschlucht. Das Geschehnis der nächsten Minuten gehört zu jenen Rätseln, die sich wahrheitsgemäß durch nichts erklären und ergründen lassen. Zur Not könnte man die unbegreifliche Lethargie im Wesen Kilikians verantwortlich machen, jene Eigenschaft, die das Leben schon in dem elfjährigen Knaben (als er unter seiner verblutenden Mutter lag) als Selbstschutz gegen das Übermaß von Qualen auszubilden begann. Er rührte sich jedenfalls nicht, und in seine Augen kam kein anderer Blick, als aus dem Walde unten erst einzelne Infanteristen hervorzögerten, denen allmählich ganze Schwärme folgten. Kein einziger Schuß kündigte einen Angriff an. Die Türken schienen sich von der schwarzgezackten Wand der Steineichenschlucht ängstlich nicht lösen zu wollen und verlegen zu warten, bis die Gewehre der Verteidiger losgehen würden. Da dieses nicht geschah, gaben sie sich einen Ruck, es waren schon mindestens dreihundert Mann, liefen vor und warteten, hinter jedes Hindernis sich duckend, wieder auf das armenische Feuer. Ein Teil der Männer in den Gräben schlief noch immer. Andre erwachten, griffen zu ihren Gewehren und blinzelten in das lautlos huschende Bild vor ihnen. In dieser Sekunde blähte sich das Goldlicht der Abendsonne auf und zerplatzte in hunderttausend blendende Splitter und Sprengstücke. Die Halbmonde auf den Pudelmützen der Offiziere blitzten grell. Erstaunlicherweise trugen sie während dieses Kriegszuges keine Feldkappen. Die von dem prahlenden Katzengold der späten Sonne benommenen Armeniersöhne legten die Gewehre aus und starrten, befehlgewärtig, Kilikian an. Und jetzt geschah das ganz Unerklärliche. Anstatt, wie er es bisher getan hatte, ruhig das Zielaviso zu geben, die Distanz für den Rahmenaufsatz zu bestimmen und seine Pfeife an die Lippen zu setzen, stieg der Russe mit nachdenklicher Langsamkeit aus dem Graben. Die Bewegung pflanzte sich wie ein Befehl unter den Zehnerschaften fort. Teils aus müder Verwirrung, teils aus Vertrauen in die unbekannte Absicht des Führers, schwang sich ein Mann nach dem anderen über den Grabenrand. Die Türken, die sich schon bis auf fünfzig Schritte herangepirscht hatten, stutzten, warfen sich nieder. Das Herz blieb ihnen stehen. Sie erwarteten einen wütenden Gegenangriff. Doch Sarkis Kilikian stand ruhig vor dem Mittelgraben, ohne vorwärts-, ohne zurückzugehen, ohne ein Befehlswort zu rufen, ohne ein Zeichen zu geben, die Hände in den Taschen vergraben. Ehe die unglücklichen Verteidiger noch zur Besinnung kommen konnten, brüllte einer der Offiziere unten ein lang anhaltendes Kommando, und aus dreihundert Mausergewehren knatterte ein grauenhaftes Schnellfeuer gegen die erstarrten Zielpuppen oben, die sich schwarz vom lichttrunkenen Himmel des Unterganges abhoben. Binnen wenigen Atemzügen krümmte sich ein Drittel der Besatzung des Abschnitts schreiend und ächzend auf der blutigen Erde des Musa Dagh. Sarkis Kilikian stand noch immer nachdenklich erstaunt da, die Hände in den Taschen vergraben. Das türkische Blei schien ihm auszuweichen, als wäre ein Abschluss dieses einzigartigen Schicksals in offener Feldschlacht viel zu simpel und stillos. Als er dann die Hand erhob und seinen Kämpfern irgend etwas zuschrie, war es längst schon zu spät. Er wurde von der allgemeinen Flucht des Besatzungsrestes mitgerissen, die erst mittwegs bei den Steinschanzen zum Stillstand kam. Es waren vier längere, trapezförmig abgewinkelte Steinhaufen in nächster Nähe der Stadtmulde. Ehe die Flüchtigen diese Deckung erreichten, ließen sie dreiundzwanzig Tote und Verwundete zurück. Die türkische Infanterie besetzte mit unbeschreiblichem Grölen die verlassenen Gräben. Die Reserve drängte nach, die Saptiehs, die Tschettehs und zuletzt die bewaffneten Dörfler. Auch eine recht erhebliche Anzahl von mutigen Weibern war den Moslems gefolgt. Als diese hinter den Bäumen der Eichenschlucht versteckten Frauen den Erfolg der Ihren sahen, brachen sie wie wahnsinngeschüttelte Mänaden aus dem Wald, fassten einander an den Händen, bildeten eine Kette, und aus ihren Kehlen pfiff ein langes eigenartiges Schrillen, Zilgith, der uralte Schlachtruf islamischen Weibervolks. Dieser aufwühlende Schrei befreite den Teufel in den Männern. Sie kümmerten sich, wie ihr kühner Glaube es ihnen eingibt, nicht um Tod und Leben und stürzten in tollem Lauf auf die dürftigen Steinschanzen zu, ohne einen Schuss mehr abzugeben, mit blankem Bajonett." [84]

In diesem Unglück kamen den Armeniersöhnen mehrere Glücksfälle zu Hilfe. "Als sie sahen, dass die Türken die Verwundeten mit Bajonettstichen durchsiebten und mit ihren Soldatenstiefeln zertraten, breitete sich wieder die ganze Kälte und Wachheit ihres unentrinnbaren Schicksals über sie. Steif lagen sie hinter dem Schotter und zielten ruhig und tödlich wie sonst. Zeitgewinn! Die Türken hatten die letzte überschwengliche Sonne im Gesicht, sie aber im Rücken. Ein andres Glück im Unglück war die Verwirrung, die dadurch entstand, dass die Angreifer vor den Nachbarabschnitten, ihre eigenen Offiziere überrennend, den Posten verließen und siegestrunken auf die Bresche zuströmten. Daher verließen auch die Verteidiger ihre Gräben und drängten von rechts und links der Unheilstelle entgegen. Die Folge war ein Nahkampf und Durcheinander, in dem Freund und Feind (viele Armenier trugen ja erbeutete Türkenuniformen) unkenntlich durcheinandergeschüttelt wurde, überall dröhnte die Flut in das Loch. Es dauerte blutig lange, und viele, viele Männer mussten fallen, ehe die Gegner sich entmischten und es der Überzahl gelang, die Armenier gegen die Stadtmulde vor sich herzutreiben. Bis zur Sekunde genau reichte die Zeit hin, dass Bagradian mit der völlig erschöpften Garde das Allerletzte vom Lager noch abwenden konnte. Die Türken wurden zurückgedrängt, doch nur bis zu den eroberten Gräben, die sie fest in der Hand hielten." Das größte Heil war aber die Nacht, und eine bewölkte, mondlose dazu, die jetzt rasch einbrach. Der Jüsbaschi konnte es nicht mehr wagen, noch einen, und zwar den entscheidenden Stoß zu führen. In der Finsternis waren die Armenier, die den Damlajik wie ihren eigenen Körper kannten, trotz ihrer vielen Toten gegen eine ganze Division im Vorteil. Der Kaimakam, durch die riesigen Verluste aufs tiefste verstört, wusste nicht recht, was er von diesem unausgenützten Sieg zu halten habe. "Der Major versprach ihm hoch und heilig, er werde bis zur dritten Morgenstunde der Angelegenheit ein radikales Ende bereitet haben. Daraufhin entwickelte er in Kürze seinen neuen Kriegsplan. Bis auf kleine Scheinbesatzungen wurden die türkischen Truppen unauffällig von den Verteidigungsabschnitten zurückgezogen. Die ganze Streitmacht bezog auf der breiten Sohle der Steineichenschlucht das Nachtlager, um in der ersten Morgenfrühe bereit zu sein, aus dem eroberten Graben heraus, wie ein mächtiger Balken, das letzte unbedeutende Hindernis durchzustoßen." Es ließ sich aber nicht verhindern, dass die "bewaffneten Dorf-Moslems" als die neuen Hausbesitzer, die sie ja waren, eine Nächtigung unter eigenem Dache dem Freilager vorzogen und die Truppen verließen. [85]
 

9. Gegenangriff der Christen zur Verteidigung gegen die "Söhne des Propheten", Ittihad-Mitglieder und Erz-Osmanen; Prozession des Feuers

Selbst Aram Tomasian, dessen Herz durch den Gedanken an Howsannah, Iskuhi und das Kind zerrissen war, erwog heute allerlei nervöse Pläne. Er sprach allen Ernstes davon, dass es vielleicht am besten wäre, das Lager zu räumen und in den Felsrissen, Kalkhöhlen und Grotten der Steilseite Schutz zu suchen. Diese Anregung aber fand nur wenig Parteigänger. Es zeigte sich, dass die Menschen unsinnigerweise zu ihrem neuen Wohnort Liebe gefasst hatten und ihn bis zur letzten Möglichkeit verteidigen wollten. Man begann hin und her zu streiten. Mit leeren Phantastereien drohte von den wenigen Stunden der Finsternis Minute um Minute fruchtlos abzubröckeln. Aus der ringsum gelagerten Volksmenge drangen dann und wann unterdrückte Frauenschreie und krampfhaftes Aufschluchzen. Dieser Tag hatte den Tod über mehr als hundert Familien gebracht, wenn man die Verwundeten mit einrechnete, die den Türken in die Hände gefallen waren. Auch wusste niemand, wie viele Schwerverletzte noch draußen in den Stellungen lagen, die bisher noch nicht ins Lager hatten gebracht werden können. Die schwere Nacht drückte wie eine niedrige Zimmerdecke auf den Musa Dagh. Als das Geflüster immer leerer und wirrer rann, wurde Gabriel Bagradian von Ter Haigasuns Stimme gewichtig getroffen: »Es bleibt uns nur mehr diese einzige Nacht, Bagradian Effendi! Müssen wir diese Nacht, diese acht kurzen Stunden nicht ausnützen?« Gabriel hatte sich, die Arme unterm Kopf, zurückgelegt und starrte in das schwarze Oben. Er konnte sich gegen den Schlaf kaum wehren. Alles versank. Sinnlose Worte plätscherten an sein Ohr. Ihm fehlte in dieser Sekunde die Energie, dem Priester auch nur eine Antwort zu geben. "Er murmelte etwas Unverständliches in sich hinein. Da fühlte er auf einmal eine kleine eiskalte Hand, die sein Gesicht abtastete. Es war so finster, dass er Iskuhi nicht sehen konnte. Sie hatte ihn nach langer Irrfahrt von Stellung zu Stellung endlich gefunden. Nun setzte sie sich, als sei das selbstverständlich, mitten in den Kreis der Führer an seine Seite. Nicht einmal vor ihrem Bruder schien sie angesichts dieser einzigen und letzten Nacht Scham zu empfinden. Iskuhis kalte Hand wirkte auf Gabriel weckend und belebend wie frisches Wasser. Die Erstarrung begann von ihm zu weichen, sein Denken wieder zu keimen. Er setzte sich auf und nahm ihre Hand in die seine, ohne dessen zu achten, ob in der Finsternis jemand diese Zärtlichkeit bemerkte oder nicht. Iskuhis Hand schien ihn aus der stolprigen Wirrnis seiner Ermattung zu sich selbst zurückzuführen. Er atmete tief. Sein Zwerchfell straffte sich. Ein körperlicher Frohmut regte sich, wie ihn ein Durstiger empfindet, der sich satt getrunken hat. Der Führerrat verstummte plötzlich. Fremde Stimmen nahten. Alles sprang erschrocken auf die Beine. Türken? Mehrere Blendlaternen schwankten. Es war eine Abordnung der Komitatschis, die zurückkehrte. Sie wollten Befehl für morgen entgegennehmen. Die Komitatschis meldeten, dass von ihnen nur ein Mann gefallen und zwei gefangen worden seien und dass sie ihre Posten nach wie vor besetzt hielten. Zugleich berichteten sie, dass die türkischen Kompanien bis auf kleine Reserven die meisten Höhenabschnitte heimlich räumten, um in der Steineichenschlucht zusammenzuströmen. Die Verbindung zwischen dem eroberten Graben und der Hauptmacht werde durch Postenketten und Patrouillen aufrechterhalten. Die Absicht sei sonnenklar. »Wir werden diese Nacht benützen, Ter Haigasun«, rief Gabriel so laut, dass die ganze Menge es hören konnte. Im selben Augenblick schien auch die Lähmung der anderen Führer überwunden zu sein. "Alle Köpfe durchblitzte der gleiche Gedanke, ehe Bagradian noch ein Wort gesagt hatte. Nur ein gewaltiger Überfall auf das türkische Nachtlager konnte den Untergang abwenden. Doch um den Überfall zu vollbringen, reichten die erschöpften Kämpfer dieses endlosen Bluttages nicht hin. Das ganze Volk, Frauen und Kinder mussten in irgendeiner Weise teilnehmen und mit der körperlichen Wucht von Tausenden dem Handstreich Nachdruck verleihen. Alles redete jetzt mit lauter Stimme durcheinander. Jeder Muchtar und Lehrer suchte seinen Vorschlag anzubringen, bis Gabriel mit scharfer Stimme Ruhe gebot. Man dürfe über diese Frage nicht laut verhandeln. Es sei nicht unmöglich, dass sich türkische Spione ins Lager geschlichen hätten. Gabriel Bagradian sandte Nurhan Elleon in seinen Abschnitt zurück, damit er von den zwanzig Zehnerschaften, die ihn besetzt hielten und die durch die Kämpfe verhältnismäßig wenig gelitten hatten, hundertfünfzig Krieger in tiefer Stille heranführe. Der Rest konnte und musste genügen, um die dortigen Gräben und Felsbarrikaden im Falle eines Gegenangriffes zu behaupten. Desgleichen hatten die Südbastion und die Abschnitte des Bergrandes insgesamt zwanzig Zehnerschaften zu stellen, die auch wirklich im Laufe von zwei Stunden sich lautlos auf dem Altarplatz versammelten. Mit den Komitatschis und seiner fliegenden Garde brachte Bagradian eine Macht von mehr als fünfhundert Männern zusammen. Alle Bewegungen kosteten sehr viel Zeit, da nicht das leiseste Geräusch gemacht und kein Befehlswort gesprochen werden durfte, sondern nur das Notwendigste in knappen Silben geflüstert wurde. In der dichten Finsternis war es sehr schwer, die Einteilungen zu treffen. Nur die Kenntnis jedes einzelnen Mannes ermöglichte es Bagradian, in dem stumpfen und müden Haufen die beiden Gruppen zu organisieren. Die erste, größere wurde der Führung des Komitatschi-Häuptlings unterstellt. Nachdem sie etwas Proviant gefasst und ihre Patronen ergänzt hatte – was in der Dunkelheit wiederum ein schwieriges und langwieriges Werk war –, zogen diese Männer ein Stück gegen Süden, um sich dann auf einem abgelegenen Wildpfad unendlich vorsichtig, mit traumhafter Schwerelosigkeit gleichsam, in Wald und Dickicht, über Lichtungen und Freihalden hinabzuschleichen und dem Türkenlager zu nähern. Nicht nur die schmiegsame Ortsvertrautheit kam ihnen zu Hilfe, sondern auch die Lagerfeuer der Kompanien, die der Jüsbaschi am Rande der Steineichenschlucht hatte anzünden lassen. Diese Feuer wurden auf kahlen oder felsigen Stellen unterhalten, weil sonst, obgleich die große Schlucht selbst dumpfig und feucht war, durch die Trockenheit des Waldwuchses leicht ein Brand hätte entstehen können. Trotz der Lagerfeuer aber gelang es den Komitatschiführern, die ganze ellipsenförmige Schlucht einzukreisen. In den Baumkronen saßen die erstarrten Armeniersöhne, hinter den dichten Arbutusbüschen lagen sie versteckt, da und dort schmiegten sie sich auch ohne rechte Deckung zwischen knorrige Wurzeln. Mit unbewegten Augen beobachteten sie das Lager, das allmählich zur Ruhe kam. Sie hielten ihre Gewehre in Bereitschaft, obgleich es noch mehr als eine Stunde dauern konnte, bis der Feuerüberfall oben auf dem Berg ihnen das Zeichen gab. Bagradian hatte Tschausch Nurhan Elleon beauftragt, mit der anderen Gruppe, die aus hundertundfünfzig Kämpfern bestand, diesen Überfall auf den verlorenen Abschnitt auszuführen. Nurhan schob seine Leute aus den Steinschanzen vor und an den Hauptgraben mit den Flankensicherungen heran. Nicht nur die Finsternis, auch ein wohlwollend singender Wind deckte diese kriechende und huschende Bewegung derart vollständig, dass die Armenier die Gräben von beiden Seiten ein Stück überholen konnten und sie somit umfasst hielten. Ein besonderer Umstand begünstigte sie dabei. Die türkische Besatzung, eine der stark hergenommenen Kompanien, hatte unsinnigerweise ein paar Karbidlampen angezündet, die mit ihrem scharfen Licht die Soldaten grell erleuchteten, während es die Umgebung in tiefstes Dunkel tauchte. Die Armeniersöhne konnten auch hier in einer schier unendlichen Spanne und Ruhe das überdeutliche Ziel suchen. Es war, als ob niemand atme. Kein Glied rührte sich. Jedes Leben schien im stollenlosen Bergwerk dieser Nacht verschüttet zu sein." [86]

Wo der Saumpfad zwischen eingestürzten Mauern den Vorberg verlässt, um in die breite Rinne der Schlucht aufzusteigen, standen der Kaimakam und der Major am unteren Rande des Truppenlagers. Ein paar Soldaten mit Laternen und Fackeln warteten abseits, um ihnen zu leuchten. Der Jüsbaschi betrachtete seine sehr moderne Armbanduhr, die ein leuchtendes Zifferblatt besaß: »Höchste Zeit! ... Ich werde nämlich schon eine Stunde vor Sonnenaufgang wecken lassen.« 
Der Kaimakam schien um das körperliche Wohl des Majors sehr besorgt zu sein: »Wollen Sie nicht lieber die Nacht in unserem Quartier verbringen, Jüsbaschi? Sie haben einen schweren Tag hinter sich. Das Bett wird Ihnen wohltun.« »Nein, nein! Ich habe zum Schlafen keine Ruhe.« Der Kaimakam empfahl sich, ging, von den Laternenträgern gefolgt, zwei Schritte hinab, kehrte wieder zurück: »Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Jüsbaschi. Kann ich sicher sein, dass in den nächsten Stunden nichts Unerwartetes geschieht?« Der Major, der dem Kaimakam nicht entgegengegangen, sondern nur mit halbgewendetem Kopf stehengeblieben war, unterdrückte ein gehässiges Wort. Unerträglich waren diese Einmischungen des Zivilisten. Mit tadelnder Betonung erklärte er: »Ich habe selbstverständlich alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Obwohl meine armen Leute ihre Ruhe brauchen, sind sehr starke Postenketten ausgestellt. Sie hätten sich nicht zurückbemühen müssen, Kaimakam! Denn ich habe mich schon vorhin entschlossen, auch noch Patrouillen auszusenden, um die Umgebung unseres Nächtigungsplatzes abzusuchen ...« Es geschah nach diesen Worten des Jüsbaschi. Diese Patrouillen aber, zu Tod ermattete Unteroffiziere und Soldaten, stolperten halb bewusstlos an den starren Armeniersöhnen vorbei, deren Augen aus dem Eichenlaub katzenhaft glommen. Sie rückten nach kurzer Zeit wieder ein und meldeten dem diensthabenden Offizier, das Gelände ringsum sei frei und alles in bester Ordnung.  [87]

Gabriel Bagradian warf das brennende Zündhölzchen fort, mit dem er sich eine Zigarette angezündet hatte. Das Flämmchen leckte auf der Erde weiter und brannte eine kleine Grasmulde aus. Iskuhi, die sich nicht von Gabriels Seite rührte, zertrat das gierige Feuer. »Wie trocken ist alles«, sagte sie. Das Zündhölzchen entfachte in Gabriel den verwegenen Gedanken. Er stand eine Weile verloren da. Der Einfall war zweischneidig. Er konnte dem eigenen Volke ebensoviel Schaden bringen wie dem Feinde. Bagradian prüfte mit seinem Taschentuch als Fahne die Richtung des zeitweilig kräftigen Windes. Westwind, Meerwind, der die Zweige talabwärts schüttelte. Die Entscheidung konnte weder der Führerrat noch auch Gabriel allein treffen. Ter Haigasun, das Oberhaupt des Volkes, sollte ja oder nein sagen. Nach einer schweigenserfüllten Minute sagte Ter Haigasun: »Ja!« Unterdessen hatte schon die gesamte Kriegerschaft Altarplatz und Stadtmulde verlassen. Atemlos warteten die beiden Überfallsgruppen des Signals. Zwischen dem umlauerten Graben und den Steinschanzen lag noch eine Linie der restlichen Zehnerschaften, hinter den Steinschanzen die ganze Masse der Volksreserve. Dies aber war noch nicht alles. Es muss leider verraten werden, dass Stephan, der seiner Mutter längst wieder durchgebrannt war, sich trotz der unabwendbar nahen Katastrophe in einer äußerst gehobenen Stimmung befand. Das Schleichen und Flüstern im Finsteren, die dichte Nähe so vieler angstgeprägter Körper, das jähe Aufblitzen und Verlöschen wandernder Blendlaternen und hundert Abenteuerlichkeiten mehr wirkten auf Stephans gereizte Nerven wie die Bestätigung einer lustvollen Traumwelt. Dazu kam noch der ganz sonderbare Befehl, den die Jugendkohorte erhielt, und der Stolz, als letzte Brustwehr des Lagervolkes an dem vorläufig noch dunklen Plane teilnehmen zu dürfen. Man wird demnach verstehen, dass sich Stephans und seiner Kameraden Übermüdung in einen erwartungsvollen Rausch verwandelte. "Der ganz sonderbare Befehl aber bezog sich auf das Petroleum. Alle Petroleumfässer nämlich, die sich auf dem Damlajik befanden, darunter auch die beiden der Familie Bagradian, wurden ohne jede weitere Erklärung auf den Altarplatz gewälzt, und ebenso alles, was bei den erloschenen Feuerstellen an Ästen, Prügeln und Knütteln aufgestapelt war, eiligst herangetragen. Zuerst mussten die Buben, dann die alten Leute, die Frauen und Kinder bis hinab zu neun Jahren sich aus den Holzstößen einen möglichst starken und schlanken Stock holen. Die Lehrer und Samuel Awakian, welche diese Verteilung leiteten, konnten nur mühsam den Ausbruch von Streit und Geschrei verhindern. Sie schlugen mit den Fäusten zu und zischten: »Ruhe, ihr dummen Teufel!« Nicht anders verhielt es sich dann bei den Petroleumfässern. Die Äste mussten in die dicke Flüssigkeit bis zur Mitte getaucht und gequirlt werden. Es waren ihrer dreitausend mindestens. Dies kostete sehr lange Zeit. Noch immer drängten sich die Leute um die Fässer, als schon der lange Signalpfiff aufgellte und das Überfallsfeuer auf die von den Türken eroberten Gräben einblitzte. Hundertfach antwortete sogleich das hohle Gepolter aus der Schlucht, und ein unaufhörlicher schlaftrunkener Schreckensschrei mischte sich darein, der kaum mehr menschlich heiser war." [88]

Gabriel Bagradian stand auf einer kleinen Felserhöhung zwischen der Linie und den Steinschanzen. Während des jäh aufknatternden Kampftumults, der sich von jedem andern Angriffslärm bisher vollkommen unterschied, hatte der Befehlshaber in einer Art traumgespannter Versunkenheit kein Wort zu den Leuten gesprochen, die hinter ihm warteten. "Einige Minuten vergingen. Die nahen Schüsse krachten dünner. Gabriel konnte es kaum fassen, dass dieser erste Akt des Überfalls so schnell gelungen sein sollte. Doch Tschausch Nurhan gab schon das verabredete Zeichen: Einige leidenschaftliche Licht-Achter mit der Blendlaterne. Der Graben war wieder in den Händen der Verteidiger, die ihn, bei der Verfolgung des Feindes, bergabwärts überrannten. Ein Teil der türkischen Infanteristen verirrte sich in der Finsternis und fiel den nachdrängenden Zehnerschaften in die Hand. Ein andrer Teil lief, stolperte, stürzte der brüllenden Schlucht entgegen und wurde von den Verfolgern durch Bajonettstiche und Kolbenhiebe niedergeworfen. Gabriel Bagradian schickte Awakian zurück zur Reserve: »Fertig und vor!« Er wartete, bis das Gescharre und Geflüster der Menge seinem Standort sich näherte, dann lief er vor und stellte sich an die Spitze. Langsam drangen sie über den Bergrand, durch das dichte Unterholz, an Gefallenen vorbei gegen die tobende Waldschlucht hinab." Dort ging es wie bei einer Treibjagd zu. Zwar versuchten die Tapfersten unter den Offizieren, Onbaschis und Soldaten sich immer wieder den Reisigbränden an der Lagergrenze zu nähern und sie zu zerstören, doch sie zerstörten damit nur ihr eigenes Leben. Der geschlossene Kreis des Komitatschifeuers jagte alles in die Mitte der Schluchtsohle zusammen. "Offiziere schrien widersinnige Befehle durcheinander. Keiner hörte auf sie. Infanteristen und Saptiehs suchten brüllend ihre Gewehre, doch wenn sie diese fanden, konnten sie mit ihnen nichts anfangen. Jeder Schuss hätte nur den Kameraden und Bruder getötet. Viele warfen die Waffen fort, denn sie hinderten sie beim Springen und Rennen in dieser dornig-tückischen Weglosigkeit. Selbst das innere Leben des Armenierberges schien an der grausamen Vernichtung teilzunehmen. Das Dickicht wucherte gehässig hoch und höher. Die Bäume blähten sich listig auf. Peitschende Gerten und Schlingpflanzen ringelten sich um die Söhne des Propheten und brachten sie zu Fall. Wer gefallen war, blieb liegen. Der Todesgleichmut seiner Rasse überkam ihn, und er wühlte seinen Kopf in das stachlige Nest. Der Jüsbaschi hatte mit unerschrockener Energie und flachen Säbelhieben einen Haufen der völlig verwirrten Infanteristen zusammengetrieben. Als die Offiziere, Chargen und alten Soldaten in den schwachen Atemzügen der Lagerfeuer ihren Führer erkannten, stießen sie hinzu. Ein Kern des Widerstands oder besser eines neuen Angriffs begann sich zu bilden. Der Major, mit dem Säbel auf die Höhe weisend, röhrte: »Vorwärts!« und »Mir nach!« Seltsam erregt sah er seine Armbanduhr phosphoreszieren. Plötzlich fielen ihm die Worte ein, die er zum Kaimakam gesprochen hatte: »Ich will nicht weiterleben, wenn das armenische Lager nicht bis zum Abend liquidiert ist.« Und wirklich, er wollte nicht weiterleben in diesem Augenblick. »Mir nach!« keuchte er immer wieder. Er fühlte die Willenskraft in sich, als einzelner Mann die Katastrophe in einen Durchbruch zu verwandeln. Sein Beispiel wirkte. Und auch der Wunsch, der Hölle dieses Waldes zu entkommen, riss die Soldaten voran. Sie krochen aus den Verstecken ihrer Apathie und folgten schreiend dem Kommandanten. Unversehrt erreichten sie den oberen Ausgang der Schlucht. Mit jagendem Herzen, völlig entkräftet und ohne Wirklichkeitsbewusstsein mehr schwankten sie den Berghang empor, in das Licht der Blendlaternen und das Feuer der Zehnerschaften hinein, das sie empfing. Wie leblose Körper wurden sie hinabgeworfen. Der Jüsbaschi merkte vorerst seine Wunde gar nicht. Er staunte nur darüber, sich plötzlich ganz verlassen zu finden. Dann wurde ihm der rechte Arm schwer. Als er Blut und Schmerz fühlte, war er zufrieden, ja fast glücklich. Nun erschien ihm seine Schande und sein Schaden weit geringer. Er schleppte sich still und mit geschlossenen Augen zurück. Irgendwo zusammenfallen, hoffte er, und nichts mehr wissen." Als der Kampflärm vom wiedereroberten Graben sich abwärts verzog, war damit auch das Signal für die Stadtmulde gegeben. Ein Feuerzeug flammte auf. Eine der petroleumgetränkten Fackeln begann knisternd zu brennen, und innerhalb der nächsten Minuten entzündeten sich an der ersten Tausende von anderen Fackeln. Die meisten Lagerbewohner waren dem Beispiel Haiks, Stephans und der übrigen Knaben gefolgt, die, in jeder Hand einen dieser Brände, sich jetzt in langer Front in Bewegung setzten. "Eine solche Lichtprozession hatte diese Erde noch nicht gesehn. Jedermann, der die prasselnde Fackel vor sich hertrug, erschauerte unter der unbegreiflichen Heiligkeit, die sich in seinem Innern verbreitete. Dieses Licht war nicht mehr wie die einzelne Flamme eine Verschärfung der unendlichen Nacht, sondern als Lichtfeuer eines ganzen Volkes legte es in die Finsternis des Raumes eine glorreiche Bresche. Feierlich langsam drangen die langen Reihen und Haufen vor, als sei ihr Ziel kein Kampfort, sondern eine Stätte des Gebetes." Unten in den Dörfern, in Yoghonoluk, Bitias, in Habibli, Azir, in Wakef und Kheder Beg, ja selbst weit im Norden in Kebussije, dem Immendorf, schlief keiner von den "Nutznießern der Landabnahme". Als das wilde Knattern des Überfalls die Ortschaften erreichte, hatten die wehrhaften Männer sogleich nach den Flinten gegriffen, sich aufgemacht und hielten nun den Vorberg besetzt, ohne sich freilich in die Nähe der Schlucht zu wagen. Die Frauen aber standen in den Gärten und auf den Hausdächern, um mit ängstlicher Gier das Wutgebell der Schüsse zu belauschen. Da sahen sie auf einmal, dass die Sonne um ein Uhr nachts hinter dem Damlajik aufging. Scharf trat die schwarze Kammlinie hervor, hinter der es rosenhaft zart erglomm. "Diese himmlische Erscheinung, dieses Zeichen und Wunder sondergleichen warf die glaubensbereiten Weiber nieder wie die Ankunft des Jüngsten Gerichts. Und als dann, ein wenig später, der Bergrand selbst zu glosen und zu lodern begann, da war's für eine natürliche Erklärung zu spät." Jesus Christus und nicht Mohammed der Prophet der Ungläubigen, "hatte die Sonne seiner Macht hinter dem Berge aufgehen lassen, und die armenischen Dschinns des Musa Dagh schützten im Bunde mit den Kirchenheiligen Petrus, Paulus, Thomas und vielen anderen ihr Volk. Die alte Theorie von den Übermächten, die den Armeniersöhnen beistanden, fand in dieser Stunde die stärkste Bestätigung. Doch nicht nur die unbelehrten Weiber waren von ihr erfüllt. Auch die Mollahs, die im Glockenturm und auf dem Rundgang der Kirchenkuppel von Yoghonoluk dieses Wunder beobachteten, verließen fluchtartig das moscheegewordene Weihtum »Zu den wachsenden Engelmächten«. [89]

Weniger wunderbar, doch noch weit furchtbarer wirkte die unaufhaltsame Fackelmauer auf die türkischen Soldaten, die sich noch auf den Berghängen befanden. "Der Eindruck einer unfasslichen Überzahl ging von ihr aus, als habe sich die gesamte armenische Nation zu dieser Stunde und an diesem Ort vereinigt, alle Verschickungstransporte des Reiches, um das ungeheure Grauen an einem Häuflein" Prophetensöhnen mit Kugeln und Feuerbränden zu rächen. Die kleinen türkischen Besatzungen, die vor den Verteidigungsabschnitten lagerten, rasten den Berg hinunter. "Kein Offizier konnte sie aufhalten. Was in dem Bann der Steineichenschlucht noch lebte, hatte sich, der Kugeln nicht mehr achthabend, durchs Dickicht geschlagen und den Vorberg erreicht. Die Armeniersöhne waren nicht stark genug, den Eingang der Schlucht völlig abzuriegeln. Einige ehrenwerte tapfere Offiziere und Soldaten, die ihren Jüsbaschi vermissten, hatten sich noch einmal zurückgewagt und den Verwundeten, der bewusstlos am Waldrand lag, geborgen und knapp vor der Gefangennahme gerettet. Sie trugen ihn in die Villa Bagradian, das Hauptquartier. Während dieses schmerzhaften Weges erwachte der Major. Einige schwere Atemzüge. Er wusste, dass alles verloren war, dass die Christen seine Heeresmacht vollständig aufgerieben hatten, dass es für ihn keine Rehabilitierung und Rückkehr gab. Aufrichtig fluchte er dem Geschoss, das nur seinen rechten Arm zerschmettert und keine gründlichere Arbeit geleistet hatte. Er wünschte sich eines nur, wieder bewusstlos zu werden. Dieser Wunsch aber blieb ihm nicht nur versagt, sondern die klarste und kälteste Beurteilung des Geschehenen arbeitete in ihm unerbittlich." [90]

Die Prozession des Feuers hatte keinen Feind mehr vor der Brust. Langsam näherten sich die brennenden Reihen der Steineichenschlucht und ihren Nachbarwäldern. "Auf halber Höhe des Berges etwa ließ Ter Haigasun die langen Linien halten und gab den Befehl (der von einem Ende zum anderen lief), die lodernden Fackelstümpfe ins Unterholz zu werfen und eilig zurückzukehren. Die Flammenstöcke versanken im auf qualmenden Wildwuchs. Nach wenigen Minuten schon gab es allenthalben einen endlos fortknatternden Knall, als ob der ganze Damlajik explodieren wollte. An vielen Stellen schoss die Lohe des Waldbrands hoch. Wehe, wenn sich der Wind in den nächsten Stunden und Tagen wendete! Die Stadtmulde, die ja dem Bergrand zunächst lag, wäre den wehenden Funken und Feuerzungen ausgesetzt gewesen. Ein Glück, dass Gabriel Bagradian vor den Abschnitten ein ausgeholztes Glacis geschaffen hatte! Der Waldbrand breitete sich mit derartiger Geschwindigkeit, ja Gleichzeitigkeit über der sommertrockenen Brust des Damlajik aus, dass es nicht irdisches Feuer und irdischen Feuers Nahrung zu sein schien, was da in tobenden Flammen stand. Den Komitatschis und Zehnerschaften tiefer unten blieb kaum Zeit, die Beute des Überfalls sicherzustellen, mehr als zweihundert Mausergewehre, Munition in Hülle und Fülle, zwei Kochkisten, fünf Lastesel mit Proviant, Zeltbahnen, Decken, Laternen und reiches Material sonst." Als die wirkliche Sonne aufging, lag über dem Damlajik ein steinerner Schlaf. Die Kämpfer schliefen, wo sie hingefallen waren. Die wenigsten nur hatten die Kraft gehabt, sich bis zu ihren Decken zu schleppen. Die Knaben schliefen in Knäueln auf der nackten Erde. In den Hütten der Stadtmulde hatten sich die Frauen auf die Matten hingeworfen, zerrauft und ungewaschen, wie sie waren, ohne sich um ihre kleinen Kinder zu kümmern, die hungrig greinten. Bagradian schlief, und die Führer schliefen alle. Selbst Ter Haigasun hatte nicht mehr die Kraft besessen, die Dankmesse zu vollenden. Gegen Schluss der heiligen Handlung war er, von unabwendbarer Erschöpfung überwältigt, wie ein Trunkener zusammengesunken. Die Muchtars schliefen, ohne unter den Schafherden das Schlachtvieh auszuwählen. Die Metzger schliefen und die Melkerinnen. Keiner ging an sein Tagewerk. Die Feuerstellen auf dem Küchenplatz wurden nicht angeheizt, Wasser wurde von den Quellen nicht zugetragen. Niemand sorgte für die vielen Verwundeten, die noch in den Stellungen schmachteten oder sich im Laufe der Stunden zum Lazarettschuppen geschleppt hatten. "Was sich in dem kühlen Wort »Verwundeter« so bildlos summarisch ausnimmt, dort lag es im weiten Umkreis in seiner ganzen schauerlichen Wirklichkeit: Gesichter ohne Nasen und Augen, Kinnladen wie blutiger Brei, von Dumdumgeschossen zermörserte Leiber, ächzende Menschen mit Bauchschüssen, die vor Durst vergingen. Und all diesen Elenden konnte nicht Bedros Hekim, sondern nur der Tod helfen. Doch ehe er sich über diesen oder jenen gnädig beugte, half auch ihnen eine narkotische Fieberbenommenheit über die langsamen Stunden hinweg." [91]

Im Tal unten schliefen die Kompaniesoldaten, die Saptiehs, die Tschettehs, soweit sie dem Gemetzel entkommen waren. Die Offiziere der Truppen schliefen in den Zimmern der Villa Bagradian. Das erste Opfer des gestrigen Tages, den Kolagasi aus Aleppo, hatte man vor vielen Stunden schon mit einem Sanitätswagen nach Antakje gebracht. Jetzt schlief ein neuer Verwundeter, der Jüsbaschi, in Stephans Bett. Auch den Kaimakam in Juliettens Zimmer hatte der Schlaf niedergeworfen. Er war mit einem Bericht an den Wali von Aleppo beschäftigt gewesen, als er sich nicht länger mehr aufrecht halten konnte. Hinter der Blende dieses Schlafes jedoch arbeitete sein Bewusstsein und sein Gewissen mit nackterer Grausamkeit weiter als in dem eitlen Faltenwurf des Wachseins. "Er hatte soeben den schwersten Misserfolg seiner Laufbahn erlebt. In jedem Misserfolg aber liegt ein Element der Gnade, weil er die ganze Lächerlichkeit menschlicher Wert-Anmaßungen grinsend entlarvt. Der Kaimakam, hoher Beamter, angesehenes Ittihad-Mitglied, hochmütiger Erz-Osmane, von der Überlegenheit seiner Wehr- und Herrenrasse restlos durchdrungen, was hatte er erfahren müssen? Die Schwachen waren die Starken, und die Starken waren in Wahrheit ohne Wert; ja sie waren wertlos selbst in jenen heroischen Belangen, derentwegen sie die Schwachen verachteten. Die Schlaferkenntnisse des Kaimakams aber reichten noch tiefer. Bisher hatte er nicht ein einziges Mal daran gezweifelt, dass sich Enver und Talaat im vollen Recht befanden, ja mehr noch, dass sie der armenischen Millet gegenüber als geniale Staatsmänner handelten. Nun aber stieg ein wütender Zweifel an Enver Pascha und Talaat Bey im Bewusstsein des Kaimakams auf, denn der Misserfolg ist auch der strengste Vater der Wahrheit. Hatten Menschen das Recht, einen weisen Plan auszuarbeiten, mittels dessen ein andres Volk ausgerottet werden sollte? Gab es überhaupt einen zureichenden Nützlichkeitsgrund für einen solchen Plan, wie der Kaimakam hundertmal behauptet hatte? Wer entscheidet, ob ein Volk besser oder schlechter sei als das andre? Menschen können das gewiss nicht entscheiden. Und Gott hatte heute auf dem Damlajik eine sehr eindeutige Entscheidung gefällt. Der Kaimakam sah sich in gewissen Situationen, die ihn um seiner selbst willen nicht wenig rührten. Er schrieb an Seine Exzellenz, den Wali von Aleppo, ein Abschiedsgesuch und zerstörte freiwillig den ganzen Aufbau seines Lebens. Er bot den Armeniern in Person Gabriel Bagradians, der sich in einen Bademantel hüllte, Frieden und Freundschaft an. Er trat im Zentralausschuss von Ittihad für sofortige Rückbeförderung der armenischen Transporte ein und setzte eine allgemeine Steuer durch, um das Unrecht gutzumachen. Auf dieser ethischen Höhe jedoch vermochte sich seine Seele nur während des tiefsten Tiefschlafes zu halten. Je dünner die Substanz seines Schlafs wurde, je mehr sich sein Zustand dem Taggewissen näherte, um so verschlagener wichen seine Gedanken solch kühnen Entschlüssen aus. Zuletzt hatten sie in geglättetem Schlummer einen recht gängigen Ausweg ersonnen: Es war völlig überflüssig, schuldbewusste Rapporte an die Zentralbehörden loszulassen. Der Kaimakam schlief bis Mittag." [92]

Gabriel kam von einer kurzen Visitierung der Zehnerschaften. Eingedenk der gefährlichen Erschlaffung und Streitsucht, die sich auszubreiten drohte, hatte er für diesen Nachmittag bereits wieder Gefechtsexerzieren anbefohlen. "Durch die zweihundert erbeuteten Mausergewehre war nun das ganze erste Treffen vollgültig bewaffnet. In die Lücken, die der schwere Kampf gerissen hatte, wurden die besten Männer der Reserve eingeteilt. Schon hörte man die stotternde Trompete Tschausch Nurhan Elleons, der mit der Ausbildung dieser Neulinge soeben begann. Iskuhi war Gabriel auf halbem Wege entgegengekommen. Seit jener ersten jähen Seelendurchdringung suchte sie mit kindhafter Offenheit seine Nähe. Jetzt gingen sie das Stück bis zum Altarplatz fast schweigend nebeneinander. Wenn sie neben ihm war, dann erfüllte ihn immer jene seltsam ruhige Sicherheit. Er hatte immer das Gefühl, die junge Iskuhi sei die vertrauteste Bekanntschaft seines Lebens, die in holder Wärme weit über die Grenzen bewusster Erinnerung hinausreichte. Auch auf den Versammlungsort wich sie nicht von seiner Seite, obgleich sie die einzige Frau war, die ohne jeden Grund bei der ratschlagenden Gruppe der Führer stand." [93]
 

10. Hilferuf an den Kommandanten irgendeines englischen, amerikanischen, französischen, russischen, italienischen Kriegsschiffes; "Horden muselmanischer Halbwüchsiger"; Frauen in der Türkei

Etwa zwanzig junge Leute warteten als Freiwillige auf die Entscheidung des Führerrats. Fünf Halbwüchsige waren darunter. Man hatte die ältesten der Jugendkohorte zur Meldung zugelassen. Was die Schwimmer betrifft, so war der Entscheid eine Selbstverständlichkeit, die niemand in Zweifel zog. "In Wakef, jener südlichsten Ortschaft des armenischen Sprengels, die am Rande der Orontesebene und damit schon an der Küste lag, gab es zwei berühmte Schwimmer und Taucher, einen neunzehn- und einen zwanzigjährigen Jüngling. Ter Haigasun überreichte ihnen die Ledergürtel mit dem eingenähten Hilferuf an den Kommandanten irgendeines englischen, amerikanischen, französischen, russischen, italienischen Kriegsschiffes. Sie sollten nach Sonnenuntergang vom Nordsattel aufbrechen, nachdem sie von den Ihrigen Abschied genommen hätten." Die Frage des Aleppoläufers brauchte zu ihrer Lösung schon einige Minuten länger. Man war übereingekommen, dass es besser sei, nur einen einzigen Menschen dieser gefahrüberladenen Aufgabe auszusetzen. "Pastor Aram Tomasian meinte klärlich, dass ein erwachsener Armenier weit weniger Möglichkeiten habe, die Hauptstadt des Wilajets lebendig zu erreichen, als ein Knabe, der sich schon durch seine Kleidung von den muselmanischen Knaben kaum unterscheide und auch sonst überall leichter durchzuschlüpfen verstehe. Diese vernünftige Begründung wurde anerkannt und allgemein fiel sogleich ein einziger Name: »Haik«. Dieser düster entschlossene Bursche mit steinharten Gliedern und märchenhafter Gelenkigkeit war der Richtige, er oder keiner. Auch besaß unter den Bauern des ganzen Lagers niemand diese blinde Vertrautheit mit der Erde, diese Rundaugen eines großen Vogels, diese Nase eines Dachses, dieses Gehör einer Ratte und diese Schmiegsamkeit einer Otter. Wenn einem der todesgefährliche Aleppolauf gelang, so nur Haik." [94]

Es geschah zum Unheil, dass die Landnahme durch Türken und Araber dem vagabundierenden Doppelleben Satos ein Ende setzte. Als sie sich das letztemal hinabgewagt hatte, wäre es ihr beinahe an den Kragen gegangen, denn auch unten im Tale hatten sich "Horden muselmanischer Halbwüchsiger" gebildet, die beim Anblick dieses scheuen Wildes sofort zur Jagd riefen. Jetzt aber verlegte ihr der große Bergbrand die gewohnten Dämmerpfade und Schlupflöcher. Sato blieb leider nichts übrig, als sich mit der Hochfläche des Damlajik und mit einigen Schrunden und Rinnen seiner Steilseite zu begnügen. Doch das ausgeleierte Gelände des Lagerkreises, all diese vertretenen Steige, Pfade, Hohlwege, die langweiligen Kuppen und Wellen von der Südbastion über die Stadtmulde bis zum Nordsattel, wie hätten sie die verkörperte Unrast befriedigen können, die Sato in Person war? Dazu stand sie mit der Dorfjugend schlechter denn je. Ter Haigasun hatte vor einigen Tagen trotz des Widerstrebens der Lehrer angeordnet, dass wieder Schule gehalten werden müsse. Doch jetzt gelang es nicht einmal dem schärfsten aller Schultyrannen, Hrand Oskanian, die gewohnte Totenstille während des Unterrichts durchzusetzen, wenn Sato unter den Kindern saß. [95]

Die Häupter des Führerrates berieten über die Lebensmittelvorräte: "Ter Haigasun, Bagradian Effendi, Pastor Aram, dahinter Lehrer Oskanian mit dem Muchtar Thomas Kebussjan und dem Dorfältesten von Bitias. Die Gewählten hatten eine kurze, aber sehr ernste Beratung abgehalten und schienen äußerst bedrückt. Sie hatten auch allen Grund zur Beängstigung. Die Lebensmittel, das heißt die Herden, verringerten sich nicht in vorgesehener Weise, sondern nach den unbekannten Gesetzen einer wilden Progression, die sich steigerte, je mehr der Bestand abnahm. Man drosselte immer wieder die Tagesration, ohne den Verfall, der mit dem schlechten Futter zusammenhing, aufhalten zu können. So sehr Aram Tomasian auch dahinter war, die Zurüstungen für den Fischfang kamen zu keinem Ende. Die Ernährungslage sah böse aus. Auch die ansteckende Fieberkrankheit nahm besorgniserregende Formen an. Allein am gestrigen Tage waren im Epidemiewäldchen vier Kranke gestorben. Bedros Hekim konnte sich auf seinen schwachen und alterskrummen Beinen kaum mehr schleppen. Im und um den Lazarettschuppen lagen mehr als fünfzig Verwundete und mindestens ebenso viele in den Laubhütten, alle ohne zureichende Verbände, ohne rechte Arznei, Gott und sich selbst überlassen. Das Bedenklichste jedoch war die brenzlige Verdrossenheit, die sich als unerwartete Folge des Sieges der Menschen bemächtigt hatte. Sie wurde durch die grauenhafte Hitze des Waldbrandes, durch den Rauchschnupfen, durch die schwere Übermüdung, durch die kärgliche und abwechslungslose Fleischkost wohl gefördert, hatte aber ihre tiefste Ursache in der allgemeinen Unerträglichkeit dieses Lebens. In den letzten zwei Tagen war es, abgesehen von dem Vorfall mit Sarkis Kilikian, zu zahlreichen Raufhändeln, darunter sogar zu Messerstechereien gekommen. All diese Gründe zusammen bewogen die Verantwortlichen heute, ihr Augenmerk der Meerseite des Damlajik schärfer zuzuwenden als bisher. Man weiß, dass auf der Schüsselterrasse, die sich ganz außerhalb der Ereignisse befand, die große Fahne »Christen in Not« flatterte. Zwei Späher der Jugendkohorte übten dort das Amt, die See nach Schiffen abzusuchen. Es schien immerhin möglich, dass irgendwelche unzuverlässige Burschen ein oder sogar mehrere Fahrzeuge übersehen hatten, denn bisher war noch nicht einmal ein Fischkutter gemeldet worden, und das im August, zu einer Zeit, wo sonst die Bucht von Suedja von derartigen Barken wimmelt. Ließ Gott wirklich das Meer völlig aussterben, nur damit den Armeniern des Musa Dagh die allerleiseste Lebenshoffnung entzogen werde? Der Führerrat hatte beschlossen, den Wachdienst der Seeseite zu verstärken und neu zu ordnen. Den Posten auf der Schüsselterrasse hatten nunmehr erwachsene Männer zu beziehen. Ferner sollte auf einem weiter südlich gelegenen kapartigen Punkt eine zweite Beobachtungsstation errichtet werden. Um den geeignetsten dieser Punkte persönlich ausfindig zu machen, waren die Gewählten aufgebrochen." [96]

Kein Sakrament halten diese Christen so hoch wie das der Ehe und blicken deshalb mit Verachtung auf den "Weiber-Mischmasch des Islams" herab. Über türkische Männer und ihre Frauen im Harem schreibt Lord Byron ganz treffend folgendes: "Sie halten sie wie Hunde (im Vertraun / Gesagt) und kaufen sie, wie wir ein Pferd; / Zwar viele sind's, doch sieht man nichts davon", verschleiert werden sie, was heute sogar in Europa erlaubt ist: "Sie bleiben stets verschleiert und bewacht / Und sehen kaum die männlichen Verwandten"; auch die Einfältigkeit der Türken zeigt sich an den Frauen: "Da Türken nicht gesprächig sind, so kannten / Die Fraun von je kein anderes Vergnügen, / Als Bäder, Liebe, Putz und Kinderkriegen / Sie wissen nichts von Lesen oder Schreiben, / Von Kritisiren oder Versemachen; / Journale, Predigten, Romane bleiben / Wie Geist und Witz für sie stets fremde Sachen, – / Die Bildung würde sie zum Aufruhr treiben!". Lord Byron schlägt daher vor, da sie ausser den ein oder anderen lügenhaften Koranvers, weder Literatur noch wahre Philosophie kennen, sie zu christianisieren: "Die armen kleinen Türkenfraun genießen / Nichts von so lehrreich liebenswürd'gen Leuten; / Sie würden als ein Wunder sie begrüßen, / Als hörten Glocken in Moscheen sie läuten. / Ich glaub', es wär' der Mühe wert, wir ließen – / Der beste Plan schlägt freilich fehl zu Zeiten – / Als Missionar solch einen Herrn hinreisen, / Im Christlichsprechen sie zu unterweisen."   [97]

"Denn alle Türken halten viel auf Fraun,
Obgleich man nicht viel Gutes davon hört.
Sie halten sie wie Hunde (im Vertraun
Gesagt) und kaufen sie, wie wir ein Pferd;
Zwar viele sind's, doch sieht man nichts davon,
Gesetzlich vier, und sonst à discretion.

Sie bleiben stets verschleiert und bewacht
Und sehen kaum die männlichen Verwandten;
So viel wird auch von ihnen nicht gelacht,
Wie's wohl bei Fraun geschieht in andern Landen;
Auch glaub' ich, dass dies Leben blass sie macht.
Da Türken nicht gesprächig sind, so kannten
Die Fraun von je kein anderes Vergnügen,
Als Bäder, Liebe, Putz und Kinderkriegen.

Sie wissen nichts von Lesen oder Schreiben,
Von Kritisiren oder Versemachen;
Journale, Predigten, Romane bleiben
Wie Geist und Witz für sie stets fremde Sachen, –
Die Bildung würde sie zum Aufruhr treiben!
Nein, keinen Blaustrumpf kennt man; 's ist zum Lachen,
Kein Botherby wird jemals ihnen dienen
»Mit Liedern, die soeben erst erschienen«.

Dergleichen sieht man viele; Andre wieder,
Die Welt besitzen und die Menschen kennen,
Scott, Rogers, Moore und alle bessern Brüder,
Die nicht die Feder blos handhaben können;
Doch jene Ritter von dem Gansgefieder,
Die ohne Bildung gern sich geistreich nennen,
Die lassen wir den Damen um den Teetisch,
Sie machen die Gesellschaft dort ästhetisch.

Die armen kleinen Türkenfraun genießen
Nichts von so lehrreich liebenswürd'gen Leuten;
Sie würden als ein Wunder sie begrüßen,
Als hörten Glocken in Moscheen sie läuten.
Ich glaub', es wär' der Mühe wert, wir ließen –
Der beste Plan schlägt freilich fehl zu Zeiten –
Als Missionar solch einen Herrn hinreisen,
Im Christlichsprechen sie zu unterweisen.

Sie kennen nicht die Gase der Chemie
Und keine metaphysischen Theorien;
Kein Lesecirkel liefert je für sie
Erbauungsschriften oder Poesien;
Auch wissen sie nichts von Geographie,
Besuchen niemals Bildergalerien,
Studiren nicht die Sterne nächtelang
Und keine Mathematik, Gott sei Dank!" - Lord Byron
 

11. Christenverfolgung in der Türkei schlimmer als unter Nero und Diokletian; Bajazid, Mahmud II, Derwisch-Orden bzw. Sufi-Orden

»An den armenischen Leichenfeldern wird die Türkei zugrunde gehn.« - Franz Werfel
Ähnlich wie heute der türkische Präsident und sein Aussenminister von Deutschland nur ermahnt werden, den Angriffskrieg zu stoppen, so hatten damals deutsche Politiker die Türkei ermahnt, die Ausrottung der Armenier zu stoppen. Dazu Franz Werfel: "Lepsius macht eine knappe nervöse Handbewegung, mit der er ausdrückt, dass die Sache zu ernst und die Zeit zu kurz sei, um mit höflichen Palavers verloren zu werden: »Ich weiß sehr gut, Herr Geheimrat, dass alles Erdenkliche geschieht. Die täglichen Interventionen und Demarchen der Botschaft sind mir wohlbekannt. Aber wir haben es ja nicht mit Staatsmännern zu tun, die in der Ehrfurcht vor den diplomatischen Spielregeln aufgewachsen sind, sondern mit Leuten wie Enver und Talaat. Für diese Leute ist alles Erdenkliche viel zuwenig und nicht einmal das Unausdenkliche genug. Die Ausrottung der Armenier ist das Palladium ihrer nationalen Politik. Ich habe mich in einem langen Gespräch mit Enver Pascha selbst davon überzeugen können. Ein ganzes Trommelfeuer von deutschen Demarchen wirkt auf diese Leute bestenfalls als Belästigung ihrer scheinheiligen Höflichkeit.... Wir müssen uns vor allem klarmachen, was in der Türkei geschieht und schon geschehen ist: Eine Christenverfolgung von solchem Ausmaß, dass sie sich mit den berühmten Verfolgungen unter Nero und Diokletian nicht im entferntesten vergleichen lässt. Und außerdem das allergrößte Verbrechen der bisherigen Weltgeschichte, was schon einiges heißen will, wie Sie mir zugeben werden ...Der deutsche Christ ist nicht mehr gewillt, diesem Verbrechen am Christentum tatenlos zuzusehen. Sein Gewissen erträgt es nicht, durch Lauheit länger mitschuldig zu sein. Die Siegeshoffnung des Reiches steht und fällt mit der Freudigkeit der deutschen Christen. Ich für meine Person schäme mich bis zum Ekel, dass die feindliche Presse spaltenlang über die Deportation berichtet, während das deutsche Volk in den deutschen Zeitungen mit den lügnerischen Kommuniques Envers abgespeist wird und sonst kein Wort erfährt. Verdienen wir es nicht, die Wahrheit über das Schicksal unserer Glaubensgenossen zu hören? Diesem unwürdigen Zustand muss ein Ende gemacht werden.« [98]

Und weiter sagt der Pastor: »Ich will weiter zu Ihnen offen sein, Herr Geheimrat ... Bis vor einigen Tagen war ich noch hoffnungsvoll und habe geglaubt, der Herr Reichskanzler werde mich in diesem Kampf durch drastischere Mittel unterstützen als bisher. Sie haben mich nun endgültig darüber belehrt, dass unsere Regierung der Pforte gegenüber gebundene Hände hat und mit den üblichen Demarchen und Interventionen ihr Auslangen finden muss. Gut! Mich aber bindet keinerlei Staatsräson. Und auf meinen Schultern allein liegt jetzt die armenische Sache in Deutschland. Ich bin nicht gewillt, Konzessionen zu machen und zurückzuweichen. In Gemeinschaft mit meinen Freunden werde ich die Aufklärung in das Volk hinaustragen. Denn nur wenn die Menschen die ganze Wahrheit wissen, kann ich das christliche Hilfswerk auf ein breites Fundament stellen ... Ich bitte daher, mir wenigstens bei dieser Tätigkeit nicht in den Arm zu fallen.« [99]

Johannes Lepsius wagt es, Monsignore Sawen, den armenischen Patriarchen, zu besuchen. "Der Pastor bekommt nun die Wahrheit in ihrem ganzen Grauen zu hören, so wie sie sich in den Wochen seiner Abwesenheit entwickelt hat. Der Patriarch berichtet ihm kurz und trocken, wie ohne Sprache gleichsam. Jeder Rettungsversuch ist nicht nur aussichtslos, sondern auch überflüssig, da die Aussiedlung nun völlig durchgeführt ist. Die Priesterschaft sei zum größten Teil, die politische Führerschaft zur Gänze ermordet. Das Volk bestehe nur mehr aus verhungernden Weibern und Kindern. Jede Unterstützung, die man von deutscher oder neutraler Seite diesen Armeniern zuwende, reize die Wut Envers und Talaats zu neuen Schreckenstaten auf" Ob Lepsius nicht bemerkt habe, dass dieses Haus, das Patriarchat, von Spitzeln und Konfidenten umlagert sei. Jedes Wort, das in diesem Zimmer falle, gelange morgen unausweichlich zur Kenntnis Talaat Beys. Mit entsetztem Augenzwinkern bittet Monsignore Sawen den Gast, das Ohr an seinen Mund zu neigen. "Auf diese Weise erfährt Lepsius von der Armeniererhebung auf dem Musa Dagh, von den Niederlagen des türkischen Militärs und von der bisherigen Uneinnehmbarkeit des Berges. Die Flüsterstimme des Patriarchen zittert: »Ist es nicht schrecklich? Das Militär soll mehrere hundert Tote haben.« Johannes Lepsius findet das gar nicht schrecklich. Seine blauen Augen leuchten knabenhaft hinter seinem scharfen Zwicker: »Schrecklich? Nein, herrlich! Gäbe es noch drei solche Musa Dagh, die Sache würde anders aussehen. Ach, Monsignore, am liebsten wäre ich auf diesem Musa Dagh!« [100]

Werfel beschreibt auch einen islamischen Derwisch-Orden: "In die östliche Wand, Mekka zugekehrt, ist eine Thronnische mit einer erhöhten Matte eingebaut. Auf den Stufen zu beiden Seiten dieses Hochsitzes hocken einige Männer. Der Arzt bezeichnet sie als »Kalifen«, als Stellvertreter und Beauftragte des Scheichs, die seinem Herzen besonders nahestehen. Alle tragen den weißen Turban, selbst ein Infanteriehauptmann, der sich merkwürdigerweise unter diesen Gestalten befindet. Lepsius unterscheidet ferner einen kleinen spindeldürren Alten, der eine nervöse Krankheit haben muss, da sein spitzbärtiges Gesicht dann und wann von Zuckungen befallen wird. Einen auffallend schönen Mann mit weichem, braunem Bart, der in eine hemdartige Kutte gekleidet ist, nennt Nezimi »den Sohn des Scheichs«. Neben diesem jünglinghaften Mann, durch dessen Materie es silbern zu schimmern scheint, hockt auf gekreuzten Beinen ein fünfjähriger Knabe, der Sohn des Sohnes, ebenso weiß gewandet wie sein Vater. Lepsius aber richtet sein Augenmerk vor allem auf einen Menschen, der sich durch sein Aussehen und seine Haltung als mächtigste Persönlichkeit unter den Anwesenden offenbart. So stellt sich der Pastor die großen Kalifen vor, Bajazid, Mahmud den Zweiten, vielleicht den Propheten selbst. Ein durch Fanatismus verzehrtes Gesicht, dessen blauschwarzer Bart beinahe bis unter die Augenhöhlen vordringt. Der starre Blick, der an nichts hängenbleibt, kennt keine Gnade, weder für den Feind noch auch für den Freund. »Das ist der Türbedar von Brussa«, hört Lepsius und bekommt die Aufklärung, dass man mit diesem Titel ein sehr hohes symbolisches Amt bezeichne", nämlich den Wächter über die Grabstätten der Sultane und (Schein)-Heiligen. Der Mann sei überdies ein großer Gelehrter, vor allem in den "koranischen Wissenschaften". Von der wahren Philosophie hat er allerdings keine Ahnung. Auch der kleine alte Herr, der so still ihm gegenübersitze, ja, ganz recht, jener mit den weißen Händen, die den Bernsteinkranz drehen, bekleide ein hohes symbolisches Amt: »Verwalter der Stammtafel des Propheten.« [101]

Er bemerkt den Eintritt des Scheichs Achmed erst in dem Augenblick, da sich dieser auf seinen Sitz niederlässt. "Nezimi Bey hat recht gehabt. Äußerlich sieht man diesem geistlichen Ordenshaupt, das wohl über Hunderttausende treue Seelen gebietet, nicht viel von seiner Bedeutung und seinen Kräften an. Er ist ein korpulenter Weißbart, dessen Züge von überlegener Freundlichkeit sprechen und eine praktische Beurteilung der Erdendinge nicht verhehlen. Alles ist aufgesprungen und hat sich geradezu mit Gier auf den alten Scheich gestürzt, um seine Hand zu küssen. Erst als sich die andern mit diesem Ehrfurchts- und Liebesbeweis gesättigt haben, neigt sich der Türbedar als letzter über die weiche dicke Rechte Achmeds." [102]

Die Zikr-Ekstase, deren Zeuge er nun wird, lässt Johannes Lepsius nicht nur kalt, sondern erfüllt ihn sogar mit einem dunkeln, schwer beschreiblichen Unbehagen. "Die Zeremonie beginnt damit, dass sich der schöne Sohn des Scheichs mit zehn anderen jungen Leuten, die gleich ihm weiße hemdartige Kutten tragen, an die westliche Wand des Saales in eine Reihe stellt. Den rechten Flügel dieser Reihe bildet das kleine Kind, dessen Gesichtchen von altklugem Ernste strahlt. Irgendwoher dringt eine einförmig näselnde Schalmeienmusik. Vor einem goldgeschnitzten Koranständer steht ein Mann mit geschlossenen Augen, der in halblauten unangenehmen Falsettönen eine Sure psalmodiert. Der alte Scheich Achmed gibt ein kaum sichtbares Zeichen mit der Hand. Die Schalmei und Litanei verstummt. Der Sohn wirft den Kopf lauschend zurück wie einer, der einen leisen Regen mit seinem Gesicht auffangen will. Aus seiner Kehle aber steigen Laute auf, zittrig erstickt, als sei des Glückes zuviel, die Silben des unfassbaren Verses aussprechen zu dürfen, in denen die ganze Kraft des geoffenbarten Buches gesammelt ist: »La-ilah-ila-'llah.« »Es ist kein Gott außer Gott.« Nun haben auch die anderen Männer den Kopf zurückgeworfen, und die zweimal drei Silben des Bekenntnisses vereinigen sich zu einem wundersamen stöhnenden Summen. Damit ist wie bei einem Musikstück das Thema angeschlagen, das nun entwickelt wird. Die Gestalt des Sohnes gerät zunächst in eine leichte eckige Schwingung. Während das »La-ilah-ila-'llah« einen entscheidenden Tonfall annimmt, neigt er seinen Oberkörper in die vier Richtungen des Weltraumes, vorwärts, rückwärts, nach rechts, nach links. Diese viertaktige Schwingung geht auf die andern über, indem sie sich allmählich steigert. Es herrscht aber durchaus keine Symmetrie der Bewegung wie etwa beim Exerzieren oder beim Ballett. Im Gegenteil! Jeder überlässt sich seinem eigenen Gesetz." Jedes Ich dieser Gemeinschaft scheint in der leidenschaftlichen Anrufung Allahs mit sich allein zu sein. Dadurch aber entsteht eine vielfältigere und höhere Symmetrie, als sie der mechanische Gleichtakt je bewirken kann, "die Symmetrie eines sturmgeschüttelten Waldes, die Symmetrie einer erregten Meeresbrandung... Nach zwölf Minuten etwa sind die Körperschwingungen der Derwische fast rechtwinklig und die Rufungen zu einem ungegliedert heiseren Gebrülle geworden. Wieder ein knappes Zeichen des alten Scheichs. Die Zeremonie bricht jäh ab. In die Herzen der Teilnehmer und der Zuschauer aber scheint eine überschwengliche Freude, eine innerlichste Glücksbefriedigung eingezogen zu sein. Die Gesichter verklärt ein erschöpftes Lächeln. Die Männer umarmen einander. Johannes Lepsius muss an die altchristliche Agape denken. Aber wie? Diese Liebesfeier dort unten kommt ja nicht aus dem Geiste, sondern aus wilden Verrenkungen des Körpers. Er versteht sie nicht. Inzwischen sind ein paar neue Menschen durch eine kleine Tür in den Saal getreten. Sie tragen Wasserkrüge, Schüsseln mit Speisen, ja sogar Kleidungsstücke vor Scheich Achmed, der über diese Dinge mehrmals hinhaucht. Nun haben sie Heilkraft gewonnen. Nach einer Pause wird dann der Zikr von neuem und auf einer gesteigerten Stufe aufgenommen. Die heilige Vierzahl herrscht. Es finden daher vier Ekstasen statt, jedesmal durch eine Pause unterbrochen. Die Gewalt und das Tempo der letzten ist von solcher beinahe unerträglichen Wildheit, dass Johannes Lepsius zeitweilig die Augen schließt, weil ihm seekrank zumute ist. Als dieser letzte Zikr seinem Höhepunkt entgegengeht, springt plötzlich der spindeldürre Greis mit den Gesichtszuckungen von den Stufen in den Raum hinab und beginnt sich wie ein toller Kreisel um sich selbst zu drehen, bis er in einem epileptischen Krampf zusammenbricht. Der Pastor wendet sich nach dem Arzt um, der hinter ihm sitzt. Wird Nezimi nicht hinabeilen, um dem Epileptiker zu helfen? Doch der elegante Mann, der an der Sorbonne studiert hat, scheint selbst nicht mehr bei Sinnen zu sein. Sein Oberkörper kreist. Die Augen sind ertrunken. Und zwischen den Lippen unter dem englischen Schnurrbärtchen lallt er nun auch das lang zurückgedrängte »La-ilah-ila-'llah« hervor. Das Unbehagen des Pastors erreicht seinen Tiefpunkt." Er fühlt einen Widerwillen gegen das, was ihn so "barbarisch" anmutet. [103]

Die Derwische stellen sich als noch fanatischer heraus als die türkische Regierung und verursache schlechte Träume: Er hat es vorher gar nicht so deutlich gewusst, wie überlebensgroß diese Persönlichkeiten waren, denen er heute begegnete: "Scheich Achmed, sein Sohn, der Türbedar. Er verliert sich in lange Disputationen mit ihnen, die ihm endlich den Schlaf bringen. Doch der Schlaf dauert nicht lange. Mitten in der Nacht weckt ihn ein dumpfes Dröhnen. Die Fensterscheiben klirren so eigenartig. Lepsius kennt dieses Klirren. Die Schiffsgeschütze der englisch-französischen Flotte hämmern um Einlass. Er setzt sich im Bett auf. Seine Hand tastet nach dem Lichtschalter. Sie findet ihn nicht. Es ist wie ein schrecklicher Stich im Herzen. Hat Nezimi nicht von ihm gefordert, er solle seine kleinen Erlebnisse genau beobachten? Sie könnten eine besondere Bedeutung haben. Das Attentat auf Enver und Talaat! Es war keine leere Täuschung, sondern ein Gesicht, das mit Scheich Achmeds Kraft zusammenhing. Johannes Lepsius möchte seine Augen vor dem gottverboten starrenden Abgrund schließen, der vor ihm klafft. Tiefe Furcht erfüllt seinen Geist. Hat er einen Blick in die Zukunft getan oder ist er nur einem dunklen mörderischen Wunschgedanken erlegen? Das Geschützfeuer murrt. Die Scheiben klirren. Unsinn, Unsinn, will er sich einreden. Doch seine fiebernde Seele ahnt, dass der Herr im Himmel die Gerechtigkeit wiederhergestellt hat, noch ehe sie gebrochen war." [104]
 

12. Auf der Passstraße, die den Hafen Alexandrette mit der Ebene von Aleppo und dadurch das Mittelmeer mit ganz Asien verbindet, arbeiten Armenier und machen Onbaschis Jagd auf armenische Familien 

Während die Schwimmer, das Kap Ras el Chansir abschneidend, in ruhiger Sicherheit auf den Küstenort Arsus zuwanderten, marschierten die Knaben die ganze Nacht das mühsam unendliche Auf und Nieder des Höhenzuges entlang. "Die Aufgabe Haiks lautete, auf dem gefahrlosen Gebirgsrücken so lange zu verbleiben, bis das südliche Ende des Tales von Beilan erreicht sei. Habe er dann bei Kyrk-Chan die Ebene gewonnen, so möge er sich immer in der Nähe der großen Fahrstraße halten, die über Hammam nach Aleppo führt. In den abgeernteten Maisfeldern und auf der verbrannten Steppe werde er während der mondhellen Augustnächte gut vorwärtskommen und im Gefahrfalle Deckung genug finden. Angesichts der großen Stadt aber müsse er sich auf die Heerstraße wagen und auf einen der Bauernwagen springen, die mit Maiskolben oder Süßholz beladen sind. Mit Gottes Hilfe werde er so an den Militärposten der Stadtgrenze vorbeischlüpfen. Was aber auch immer geschehe, der Brief an Mr. Jackson dürfe bei ihm nicht gefunden werden. Haik setzte seinen Weggenossen von dieser Aufgabe genau in Kenntnis und malte grausam die Gefahren und Schwierigkeiten aus, die in der Ebene ihrer warteten. In den menschenlosen Bergen sei alles noch ein Kinderspiel. Nach einstündiger Wanderung etwa senkte sich der Hirtenpfad, den Haik immer unter den Füßen behielt, ohne ihn zu sehen, ins Tal hinab."  [105]

Den Weg mussten sie sich durch die mediterane Wildnis bahnen: "Es war spät am Nachmittag. Zwischen den Buchen- und Eichenwipfeln offenbarte sich ein goldtrunkener Himmel, der von schwebenden Raubvögeln erfüllt war. Die Knaben hatten einen Weg von mehr als sechs Stunden zurückgelegt. Das Wort Weg bedeutete übrigens eine freundliche Übertreibung. Da sich weit und breit kein Hirtensteig mehr zeigte, waren sie einfach in den Wasserrinnen vorwärtsgedrungen, die ja ins Tal führen mussten. Vorwärtsgedrungen ist die richtige Bezeichnung, denn das dichte widerständige Unterholz, Schlingpflanzen und Sträuchermauern, hart und elastisch wie Gummi, doch mit drahtstarren Stacheln bewehrt, hemmten jeden Schritt. Es war kaum zu glauben, wie viele Terrassen und felsige Abhänge überwunden werden mussten. Das Gebirge schien immer eine neue Ausrede zu haben, um sich nicht seinem Ende zu ergeben." Jetzt saßen die beiden auf einer kahlen Anhöhe, und unter ihnen zog die kalkweiße Paßstraße von Beilan dahin. Sie machte einen funkelnagelneuen Eindruck. "Überall wiesen frische Schotterhaufen auf menschliche Arbeit hin. Und wirklich, an dieser Passstraße, die den Hafen Alexandrette mit der Ebene von Aleppo und dadurch das Mittelmeer mit ganz Asien verbindet, zeigte sich die unbeschränkte Macht und Energie Dschemal Paschas, des Diktators von Syrien. Der unerbittliche General hatte befohlen, dass aus diesem grundlosen, brüchigen Wege binnen einem Monat eine makellos glatte untermauerte Prachtstraße zu entstehen habe; und sie war entstanden, so dass die Türken über die ungehobene Tatkraft, die in ihnen steckte, selbst in Staunen gerieten." Kein Mensch, kein Gefährt, kein Esel, kein Pferd kam in Sicht, hie und da nur flitzte ein Hase oder ein Eichhörnchen über das weiße Band. In verwegener Unvorsichtigkeit liefen sie den Abhang hinunter. "Als sie die glatte Bahn unter den Füßen spürten, da erfüllte sie eine ähnliche Körperwollust, wie es der gestillte Durst ist. Neuer Ehrgeiz, neue Kraft stieg in Stephan auf. Er hielt mit Haik Schritt. Rechts und links begannen steilere Höhen aufzusteigen. Die Straße wurde zum Hohlweg, zum Engpass. Dies erhöhte merkwürdigerweise das Sicherheitsgefühl und damit den Leichtsinn. Dann traten die Berge ein wenig auseinander, das Straßengefälle neigte sich stark abwärts. Noch eine Biegung, und die Ebene musste offen liegen. Von der Strömung des Weges unwiderstehlich mitgerissen, liefen sie jetzt ins Verderben. Denn als sie das Straßenknie überschritten hatten, lag zwar nicht die Ebene vor ihnen, aber ein türkisches Postenhaus, von dem die Halbmondfahne wehte. Vor dem Hause lungerten vier abscheuliche Saptiehs. An den Straßenrändern aber arbeitete mit Spaten, Krampen und Steinhammer eine Abteilung von Inschaat Taburi. Die erschöpften Sinne der Wanderer hatten den Arbeitslärm und die traurig gaumigen Gesänge der Armierungssoldaten nicht gehört. Der Schreck und die Erstarrung waren so groß, dass sich selbst Haik beinahe eine halbe Minute nicht von der Stelle rührte. Dann aber packte er Stephan an der Hand und riss ihn mit sich. Sie stürmten hinter der Biegung in das Gehölz hinein. Unglücklicherweise gab es gerade hier keine Felsblöcke und keine Sträucher, sondern nur schmale junge Buchenstämme, die keine Deckung boten. Sanft stieg der Berg an. Wohin? Vor Haiks innerem Auge beugte sich der eine der Saptiehs vor, legte die Hand über die Augen, spähte scharf, stieß einen Gurgelruf aus und nahm mit der ganzen Mannschaft die Verfolgung auf. Und es war kein Schrecktraum nur. Stimmen! Das Laub raschelte unter den Schritten der Türken. Stephan schloss die Augen und preßte sich eng an Haik. Dieser umfasste ihn mit dem linken Arm. In der Rechten hielt er das aufgeklappte Dolchmesser. Todesbereitschaft. Doch was so scharf heranflüsterte, das waren keine türkischen Worte: »Jungens, Jungens! Wo seid ihr? Fürchtet euch nicht!« Geisterhaft kamen die armenischen Laute. Als Stephan die Augen aufriss, sah er zwischen den Stämmen einen zerlumpten Armierungssoldaten atemlos auftauchen. Ein struppiger Totenkopf mit riesigen Augen. Bis auf diese jammernden Augen glich er beinahe Sarkis Kilikian. Haik fasste sich und steckte das Messer ein. Die Stimme des Straßenarbeiters zitterte vor Aufregung: »Bist du nicht der Sohn der großen Schuschik, die auf dem Wege nach Yoghonoluk ihr Haus hat? Erkennst du mich nicht?« Haik ging ungläubig auf das elende Gerippe zu, dem die Fetzen um die Glieder schlotterten, und das zu alldem noch barfuß war. Sein Blick glitt aufmerksam an dem Menschen herab: »Vahan Melikentz aus Azir«, sagte er zögernd, als greife er aufs Geratewohl einen Namen heraus. Der Arbeitssoldat nickte lebhaft, und Tränen rannen ihm in den Stoppelbart, so sehr erschütterte ihn die Begegnung mit den jugendlichen Landsleuten. Haik hatte den Namen nur erraten. Was hatte dieser zerlumpte mit dem eigentlichen Melikentz zu schaffen, dem stattlich prahlerischen Raupenzüchter, dem er täglich begegnet war? Melikentz aber hob verzweifelt die Hände: »Seid ihr wahnsinnig? Was habt ihr hier zu suchen? Dankt es Christus, dem Erlöser, dass euch der Onbaschi nicht gesehen hat. Gestern haben sie dort unten an der Biegung fünf Armenier erschossen, eine Familie, die nach Alexandrette wollte.« [106]

Haik, wieder völlig Herr seiner selbst, setzte dem ehemaligen Raupenzüchter mit gemessener Würde die Mission auseinander, die er vom Führerrat auf dem Musa Dagh empfangen hatte. Melikentz entsetzte sich: »Die Straße ist bis Hammam voll Inschaat Taburi. Und in Hammam sind gestern zwei Kompanien angekommen, die gegen den Damlajik geschickt werden sollen. Ihr könnt nur in der Nacht an den Sümpfen von Ak Denis vorbeigehen. Aber da werdet ihr hineinfallen.« »Wir werden nicht hineinfallen, Melikentz«, erklärte Haik mit lakonischer Zuversicht, und dann forderte er den Landsmann auf, ihm den kürzesten Weg in die Ebene zu zeigen. Vahan Melikentz jammerte: »Wenn sie mich vermissen, wenn ich zu spät einrücke, bekomme ich die Bastonade dritten Grades. Vielleicht erschießen sie mich auch ... Mögen sie mich erschießen! Ihr wisst nicht, Jungens, wie sehr ich darauf spucke. Oh, wäre ich doch mit den Eurigen auf den Musa Dagh gegangen und nicht mit Nokhudian, dem Pastor! Die Eurigen waren gescheit. Christus helfe ihnen! Uns hat er nicht geholfen.« Vahan Melikentz riskierte wahrhaftig den Tod, um die Jungen auf den Weg zu bringen. Es war übrigens nur eine kurze und ziemlich bequeme Waldstrecke, die sie zu überwinden hatten. Der arme Raupenzüchter redete unausgesetzt, als wollte er eine ganze Ernte verlorener Worte nachholen oder kurz vor seinem Ende noch verschwenden. Er schien weniger Interesse für die Vorgänge auf dem Musa Dagh zu hegen, als den Drang zu empfinden, sein eigenes Schicksal darzustellen. Haik und Stephan erfuhren auf diese Weise einiges davon, was sich mit der Nokhudiangruppe zugetragen hatte. In Antakje waren alle kräftigen Männer ausgesondert und nach Hammam zum Straßenbau geschickt worden. Die Frauen, Kinder, Alten und Kranken mussten euphratwärts wandern. Pastor Nokhudian konnte beim Kaimakam nicht das geringste erreichen. Mit den armenischen Inschaat Taburi aber hatte es eine ganz besondere Bewandtnis. Jede Abteilung bekam ein bestimmtes Straßenstück zugewiesen, das dann und dann fertig sein musste. Meldete der Onbaschi die Vollendung dieses Pensums, so wurde die Abteilung zusammengetrommelt, in die nächste Waldung geführt und dort von einer eigenen, in dieser Kunst schon höchst routinierten Truppe mit Schnellfeuer umgelegt. »Unser Straßenstück«, berechnete Melikentz nüchtern, »reicht bis nach Top Boghazi, das sind noch vierzigtausend Schritt. Alles in allem macht das sechs oder sieben Tage, wenn wir geschickt sind. Dann kommen wir an die Reihe. Wenn sie mich also gleich heute erschießen, verlier ich nur sechs, höchstens sieben Tage.« [107]

Eine rostrote Abenddämmerung war schon eingebrochen, als sie auf der letzten niedrigsten Stufe des Gebirges standen. "Vor ihnen dehnte sich die Ebene bis zum Horizont. Sie sahen zu ihren Füßen einen großen See, auf dessen milchig stummer Fläche der schal gefärbte Abend lag. Es war der See von Antiochia, den man auch von gewissen Späherpunkten des Damlajik in der Ferne sehen konnte. Hier aber erschien Ak Denis, das weiße Meer, zum Greifen nah. Die nördliche Küste des Sees war von einer breiten Schilfkrause eingesäumt, in der ein klunkendes und stöhnendes Leben herrschte. Reiher taumelten mit ungeschicktem Flügelschlag aus dem Röhricht, silberne und purpurne; sie kreisten hoch über der Fläche, ihre zierlich abgebogenen Beine gleichsam im Kielwasser des Fluges nachziehend. Dann senkten sie sich wieder langsam zu ihren Brutplätzen hinab. Ein Keil von Wildenten ratterte mit torpedohafter Geschwindigkeit durch die molkige Flut, um auf einer Schilfinsel zu landen. Bis zu den Ohren der Knaben drang der Streit der Rohrspatzen und das menschliche, ja beinahe politische Räsonieren von zehntausend aufgeblähten Riesenfröschen. Der Röhrichtkragen des Ak Denis verlor sich nur allmählich in der Ebene. Weit hinaus waren immer wieder dicke Büschel zu sehen, doch auch Tümpel, blinde Augen, in denen das Weiße zitterte. Im Gegensatz zu der leeren Steppe wirkte das um den See geballte Leben beinahe übertrieben. Er glich einer märchenhaften Tierleiche, an der die buntesten Totenvögel zehrten. Während Stephan nur den See ins Auge faßte, hatte Haiks scharfer Blick sofort die Nomadenzelte entdeckt, die gegen Osten hin verstreut waren, sowie ein paar Pferde, die im rauchigen Nichts kopfhängerisch weideten. Er streckte zielbewußt den Arm aus: »Dort ist unser Weg. Zwischen der Straße und den Sümpfen. Wenn der Mond herauskommt, gehen wir. Gib deine Flasche her! Ich werde Wasser bringen. Hier ist das Wasser noch gut. Wir müssen viel trinken. Inzwischen kannst du schon schlafen.« [108]

Wider allen Erwartens zeigte es sich aber, dass der schluchtenreiche, widerborstige Musa Dagh ein weit bequemeres Marschterrain geboten hatte als dieser weite Plan, der sich El Amk, die Einsenkung, nennt. Der heimtückisch schwingende, mit grünbraunem Grind bedeckte Boden war schon sehr feindselige, "gar nicht mehr christliche Erde." Es gehörte Haiks ganze Sinnenschärfe und fast unmenschliche Naturvertrautheit dazu, diesen Weg zu wagen und überdies noch bei Nacht. "El Amk war ja nichts andres als ein Göl, ein Sumpf von etwa zehn Kilometer Länge, dessen Rand haargenau eingehalten werden musste. Nicht viele Hirten, Bauern und Nomaden gab es, die den Mut zu dieser Abkürzung hatten, um das lange Straßenstück bis zur Kara-Su-Brücke zu ersparen. Eine andere Möglichkeit aber gab es für die Knaben nicht, da Vahan Melikentz ja von Militär, Saptiehs und Inschaat Taburi berichtet hatte, die über die ganze Straße verteilt seien. Haik hatte seine Schuhe abgestreift, um den Boden mit nackten Sohlen »besser schmecken« zu können. Stephan folgte seinem Beispiel. ...Für einen Augenblick verlor er das Bewusstsein der Gefahr aus dem Sinn. Der gräßliche Schrei bannte Haik fest. Sofort wusste er, was geschehen war. Schattenhaft kämpfte Stephans Gestalt. Bis zu den Knien war der Bagradiansohn schon eingesunken. Haik zischte: »Ruhe! Schrei doch nicht!« Doch das unfassbare Entsetzen zwang diese Schreie immer wieder hervor, deren sich Stephan nicht erwehren konnte. Er glaubte zwischen die walfischartigen Kiefer eines Ungeheuers geraten zu sein, das ihn langsam einsaugte und einschmatzte. Schon schob sich die wulstig zähe Masse über seine Knie. Trotz allem aber war in den Sekunden, in denen er sich wehrte, ein seltsam wohliges Gefühl. Haik kommandierte: »Einen Fuß zuerst! Rechts! Rechter Fuß!« Kleine Angstlaute ausstoßend, machte Stephan untaugliche Bewegungen. Seine Beine hatten keine Kraft mehr. Er hörte jetzt einen neuen scharfen Befehl: »Auf den Bauch legen!« Gehorsam beugte er sich vornüber, so dass er das trockene Land mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Als Haik sah, dass Stephan die Energie fehlte, sich herauszuarbeiten, schob er sich selbst auf dem Bauch zu der Sumpfstelle hin. Der Stock jedoch, den der Eingesunkene ergriff, genügte auch nicht, um ihm Kraft genug zu geben. Da löste Haik das Gürteltuch, das er um den Kopf geschlungen hatte, und warf es Stephan hin, damit er es mit einem Knoten um seine Brust befestige. Eisern hielt er es auf der andern Seite fest. Es diente als eine Art Rettungsseil. Nach endlosen Versuchen konnte Stephan schließlich das rechte Bein, das nicht allzuweit eingesaugt war, freibekommen. Eine gute halbe Stunde war vergangen, als Haik ihn wie einen Ertrunkenen auf die feste Erde zog. Eine weitere halbe Stunde verging, ehe sich Stephan so weit erholt hatte, um, von Haik nunmehr an der Hand geführt, auf dem tückischen Boden weitertaumeln zu können. Er war bis zur Brust hinauf mit Schlamm bedeckt, der an der Luft rasch trocknete und unter seiner festen Kruste die Haut der Arme und Beine zusammenzog. Ein günstiger Umstand war es noch, dass Stephan seine Schuhe in den Rucksack gesteckt und diesen während des Kampfes mit dem Sumpf weit von sich aufs Trockene geschleudert hatte. Mit festem Griff führte Haik den Halbbewusstlosen. Er schalt ihn nicht wegen seiner Unvorsichtigkeit, sondern wiederholte mehrmals wie eine Beschwörung: »Wir müssen bei der Brücke sein, ehe es hell wird. Vielleicht stehn Saptiehs dort ...« Bald kletterten sie über den Damm auf die Straße, die wie ein breiter Lichtstreif die Nachtwelt erleuchtete. "Das Postenhäuschen an der Brücke war leer. Wie vom Teufel gejagt, rannten die Jungen an dieser allergrößten Gefahr vorbei, die nun zum Glück keine war." [109]
 

13. Regierung Abdul Hamids und turkmenische Wanderstämme 

Etwa eine Stunde jenseits der Brücke läuft die Straße auf einem langen hochgebauten Steindamm über den letzten großen Sumpf von El Amk. "Der Damm heißt Dschisir Murad Pascha und eröffnet recht eigentlich das große Steppenland, das viele hundert Meilen über Aleppo und den Euphrat hinaus sich bis nach Mesopotamien erstreckt. Nicht weit aber von diesem Damm erhebt sich an der nördlichen Straßenseite die reizendste Hügellandschaft wie eine letzte grüne Herzlichkeit vor Tod und Erstarrung. Am Fuße dieser Hügelwelt liegt ein großes Turkmenendorf, Ain el beda, klare Quelle. Allein schon lange, bevor sich die Siedlungen zu diesem Dorfe zusammenschließen, begegnet die Straße einzelnen Häusern aus Holz und Stein, auffallend blanken Bauerngehöften. Hier hatte vor fünfzig Jahren die Regierung Abdul Hamids einen der turkmenischen Wanderstämme sesshaft gemacht. Niemand gibt einen besseren und strengeren Bauern ab als solch ein bekehrter Nomade. Dies bewiesen die festgebauten und wohlgedeckten Behausungen dieser sanften Gegend. Das erste Gehöft lag dicht an der Straße. Eine Stunde nach Sonnenaufgang trat der Besitzer aus der Haustür, prüfte Wind, Wetter, Weltrichtungen und breitete seinen kleinen Teppich aus, um, gen Mekka gewandt, das früheste der fünf täglichen Gebete zu verrichten." [110]

Einige türkische Bauern halfen den Armeniern obwohl auf das Verbrechen des Mitleids mit Armeniern laut den neuen Gesetzen Bastonade, Gefängnis, und in schweren Fällen der Tod stand. "Hunderte von gutherzigen Türken rings im Land, denen das unmenschliche Elend der Deportierten das Herz zerbrochen hatte, wussten ein Lied davon zu singen. Der Bauer unterzog die beiden Landstreicher einer eingehenden Betrachtung. Die Tausende von Armenieraugen, die dort auf der Straße zu ihm emporgebettelt hatten, erwachten in seiner Erinnerung. Das vergleichende Ergebnis war ziemlich eindeutig, insbesondere was den Kranken anbetraf.... Der Hausvater ließ nun einen kurzen Ruf erschallen, und alsbald traten zwei Weiber, eine Alte und eine Junge, aus der Tür, die angesichts der Fremden eilfertig ihren Schleier herabließen. Sie bekamen einige barsche Befehle und verschwanden wieder mit geschäftigen Schritten. Der Turkmene führte Haik und Stephan ins Haus. Neben der raucherfüllten Hauptstube, in der man kaum atmen konnte, lag eine kleine leere Kammer, eine Art Verlies, das nur durch eine Scharte Licht empfing. Die Jungen stolperten über eine Stufe in dieses finstre Loch. Indessen hatten die Weiber die Matten und Decken gebracht. Sie bereiteten auf dem Lehmboden der Kammer zwei Lagerstätten. Als sie aber Stephans Glieder sahen, die noch immer in den erstarrten Schlammkrusten wie in Hülsen staken, holten sie ein Schaff mit heißem Wasser sowie eine unheimliche Bürste und begannen mit mütterlich resoluter Kraft die Arme und Beine des Armenierknaben abzureiben. Bei diesem anstrengenden Werk lüftete die Ältere sogar den Schleier, da es sich hier ja nur um halbwüchsige Kinder handelte. Unter der kräftigen Handhabung der Bäuerinnen geschah es, dass sich nicht nur von Stephans Körper alles Erstarrte löste, sondern auch von seinem Gemüt. Wie kochende Flut wallte in ihm das unterdrückte Heimweh auf. Er presste die Lippen zusammen, während seine Augen verräterisch zwinkerten. Von diesem kindlichen Schmerz ergriffen, sparten die turkmenischen Weiber nicht mit fremdartig-melodischem Zuspruch. Nachher brachte das alte Bauernweib eine Schüssel mit Graupen in Ziegenmilch, Fladenbrot dazu und zwei hölzerne Löffel. Während die Jungen aßen, kam die ganze vielköpfige Familie des Turkmenen zum Vorschein, um sich teils im Verlies, teils im Türausschnitt mit ermunternden Nötigungen am Werke ihrer eigenen Gastfreundschaft zu erfreuen. Doch trotz der gastfreundlichen Wirte und der warmen Speise konnte Stephan kaum fünf Löffel hinunterwürgen, so eng und geschwollen war seine Gurgel. Haik aber vertilgte die ganze Schüssel mit der ernsten Nachdenklichkeit eines essenden Schwerarbeiters. Von der neugierigen Familie allein gelassen, schlief Stephan sofort ein, während der besonnene Haik noch rasch den Marschplan für den nächsten Wegabschnitt überlegte. Er hoffte, dass auch Stephan am Abend wieder bei Kräften sein werde, so dass man bei Mondaufgang aufbrechen konnte. In der Nacht ließ sich die Strecke bis Hammam ohne Schwierigkeiten zurücklegen. War die Straße frei, um so besser, war sie nicht frei, so musste man sich ein wenig abseits am Fuße des Hügelgeländes halten. Diese Hügel boten ohne Zweifel den besten Unterschlupf für den nächsten Tag, wenn man über Hammam hinaus den Punkt erreicht hatte, wo das große Bogenstück der Straße in der Sehne abgeschnitten werden sollte. Trotz allen Zwischenfällen war Haik mit dem bisher Geleisteten zufrieden. Die größten Gefahren lagen noch vor ihnen, aber die größten Strapazen waren überwunden. Leider täuschte sich Haik über Stephans Kräfte. Ein Wimmern und Stöhnen riß ihn aus dem tiefen Ermüdungsschlaf, dem er sich hier in der sicheren Kammer ohne Vorbehalt überlassen hatte. Stephan hockte, unter Schmerzen sich krümmend, auf seiner Matte. Fürchterliche Koliken zerschnitten seinen Leib, die Folgen des Abenteuers in den Sümpfen von El Amk. Auch zeigte es sich erst jetzt, dass seine Haut über und über mit Moskitostichen besät war. Nun konnte man an Ruhe nicht mehr denken. Die Hausleute benahmen sich weiter freundlich mitleidsvoll. Die Weiber hitzten runde Steine, die sie dem Jungen auf den Bauch legten, und bereiteten einen vielleicht heilsamen, doch um so widerlicheren Tee, den Stephan nicht bei sich behalten konnte. Erst gegen Abend ließ das Übel nach, das den Ärmsten unzählige Male gezwungen hatte, hinter das Haus zu wanken. Stephan war zum Schatten geworden, doch auch Haik, um den schwerverdienten Schlaf gekommen, sah grün und hinfällig aus." Der Bauer hatte ihnen erlaubt, ihr Nachtlager auf dem Hausdach aufzuschlagen. Seit Wochen schon in freier Luft lebend, konnten sie es in dem dumpfigen Loch voll Rauch, Ungeziefer und ranzigem Fettgeruch nicht aushalten. Nun saßen sie auf ihren Matten zwischen Pyramiden von Maiskolben, hochgeschichteten Schilfbündeln und Haufen von Süßholzwurzeln. Stephan blickte, fieberfröstelnd in seine Decke gewickelt, unablässig nach Westen. Zu dieser vorabendlichen Stunde bauten sich die Küstengebirge dort drüben höher auf, als sie waren, in vielen einander überwachsenden Schichten und in den reichsten Tinten, vom tiefen Saphirblau bis zum silberhauchigen Grau. Und so unglaubwürdig nahe waren die Berge. Hatten Haik und Stephan wirklich zwei volle Nächte und einen halben Tag durchwandern müssen, um diesen Katzensprung zurückzulegen? Dort der letzte Berg im Süden, der scharf abbrach, das musste der Damlajik sein. Wie ein Wild auf der Flucht vor den Jägern war er mitten im gestreckten Lauf erstarrt. Sein langer Rücken senkte sich gegen Norden. Den Kopf duckte er zwischen den vorgelagerten Höhen. Seine Pranken aber schlugen wild nach hinten aus, wo die breite Oronteslücke das Meer ahnen ließ. Stephan sah nur den Damlajik. Er glaubte die Südbastion zu unterscheiden, die Kuppen, die Scharte der Steineichenschlucht, den Nordsattel, wo er vor unendlicher Zeit Abschied genommen hatte, ohne Abschied zu nehmen. Warum eigentlich? Er konnte sich gar nicht mehr erinnern. Der Damlajik schien heftig zu atmen, näher zu schweben, auf die Straße nach Aleppo, auf das Bauernhaus der turkmenischen Hügel, auf Stephan Bagradian zu." [111]

Haik duckte sich plötzlich und winkte Stephan heftig, desgleichen zu tun. Von der nahen Straße, die den ganzen Tag nicht sonderlich belebt gewesen war, drang ein merkwürdiges Gescharre mit lallenden Jammerlauten herauf. "Ein paar Saptiehs trieben einen kleinen Armeniertransport gegen Hammam. Transport war freilich eine allzu großartige Bezeichnung" für dieses Scheuchen alter Leute und kleiner Kinder, die man in irgendwelchen gottverlassenen Dörfern aufgestöbert hatte. "Die Saptiehs, die noch vor Mitternacht in Hammam sein wollten, fluchten und hieben auf den armseligen Spuk ein, so dass er unglaublich rasch hinter der nächsten Straßenbiegung verschwand. Dieser bedeutsame Zwischenfall schien Haiks Meinung endgültig befestigt zu haben: »Ja! Es ist das allerbeste, wenn du zurückgehst. Aber wie? Durch die Sümpfe kannst du allein nicht kommen ...« Und wirklich, eine höhere Macht schien jetzt zu Stephans Gunsten eingreifen zu wollen. Der turkmenische Hausvater erkletterte über die angelehnte Leiter sein Dach und begann die Schilfbündel und das Süßholz hinabzuwerfen. Haik sprang sogleich auf und half ihm diensteifrig bei dieser Arbeit. Als sie mit ihr fertig waren, schien der Bauer einen überraschenden Einfall zu haben und blinzelte Stephan an: »Wollt ihr mit, ihr Burschen? Morgen früh fahre ich nach Antakje zum Markt. Weil ihr aus Antakje seid, will ich euch nach Hause bringen. Noch am Abend werden wir dort sein ...« Und mit stolzem Selbstbewusstsein wies er auf den großen Stall hinter dem Hause: »Ich fahre nicht mit dem Ochsenwagen, damit ihr es wisst, sondern mit dem Pferdchen und einem wirklichen Räderwagen.« So konnte der kranke Stefan zurückgebracht werden. Obgleich Stephans Lebensdocht tief herabgeschraubt war, erwies sich die Entspannung jetzt als doch so groß, dass er sogleich in einen schweren Schlaf verfiel. Der Turkmene trieb sein armes Roß noch einmal an, um mit seinem Schützling so schnell wie möglich im Dorf Mengulje zu sein, von wo freilich Stephan noch immer gute zehn Meilen zu laufen hatte, um die Abzweigung ins Dörfertal zu erreichen. "Stephan erwachte unter dem scharfen Licht von Karbidlampen und Blendlaternen, die über sein Gesicht hin und her fuhren. Uniformgesichter beugten sich zu ihm herab, Schnurrbarte, Lammfellmützen. Der Wagen war mitten in das Lager einer der Kompanien geraten, die der Wali dem Kaimakam von Antiochia aus der Stadt Killis zu Hilfe gesandt hatte. Die Zelte der Soldaten waren zu beiden Seiten der Straße aufgeschlagen. Nur die Offiziere hatten in Mengulje Quartier genommen. Der Turkmene stand ruhig neben dem Wagen. Vielleicht um seine Bestürzung zu verbergen, begann er das Pferdchen abzuklopfen. Einer der Onbaschis nahm ihn ins Gebet: »Wohin willst du? Wer ist dieses Bürschlein da? Dein Junge?« Der Bauer schüttelte versonnen den Kopf: »Nein, nein! Das ist nicht mein Junge.« Er suchte Zeit zu gewinnen, um auf einen guten Gedanken zu kommen. Der Onbaschi brüllte ihn an, er möge das Maul auftun. Glücklicherweise kannte der Alte von den verschiedenen Wochenmärkten her die Ortschaften dieser Gegend genau. Nun seufzte er, den Kopf hin und her wiegend: »Nach Seris fahren wir, nach Seris, das am Fuße der Berge liegt ...« Er sang diese Worte fast wie ein unschuldiges Lied. Der Onbaschi leuchtete Stephan scharf an. Die Stimme des Turkmenen aber wurde weinerlich: »Ja, sieh es nur an, das Kind! Nach Hause muss ich es bringen, zu den Seinen, nach Seris ...« Inzwischen hatte sich eine große Menge von Unteroffizieren und Soldaten um den Wagen versammelt. Der Alte aber schien plötzlich in eine große Erregung zu verfallen: »O geht nicht zu nahe, geht nicht zu nahe, hütet euch ...« Der Onbaschi erschrak tatsächlich vor dieser Warnung und starrte den Bauern an, der mit dem Finger auf Stephans Gesicht zeigte: »Du siehst ja, dass dieses Kind fiebert und nicht bei Sinnen ist. Tretet weg, ihr da, damit die Krankheit euch nicht ergreift. Der Hekim hat den Jungen aus Antakje fortgeschickt ...« Und nun stieß der würdige Turkmene dem Onbaschi das furchtbare Wort geradezu ins Herz: »Fleckfieber!« Nicht einmal die Worte »Pest« und »Cholera« verbreiteten zu dieser Zeit in Syrien ein solches Grauen wie das Wort »Fleckfieber«. Die Soldaten prallten sofort zurück, und selbst der grimmige Onbaschi trat drei Schritte hinter sich. Der treffliche Mann aus Ain el beda hingegen zog nun seine Dokumente aus der Tasche und hielt sie dem Unteroffizier, die Überprüfung heischend, aufdringlich unter die Nase. Dieser verzichtete mit einem Fluch auf sein Amt. Binnen zehn Sekunden lag die Straße frei vor dem Wagen. Der Turkmene, durch den gelungenen Streich außer sich vor Stolz und Vergnügen, überließ das geschundene Rößlein sich selbst und lief kichernd neben Stephan einher." [112]

Neue Truppen, neue Saptiehs, neue Freischaren trafen fast täglich in den Dörfern ein. Alle Vorkehrungen zu einer straffen Belagerung des Damlajiks wurden getroffen. In Stellvertretung des Kaimakams hatte der sommersprossige Müdir in der Villa Bagradian seinen Regierungssitz aufgeschlagen. "Auch der verwundete Jüsbaschi befand sich seit zwei Tagen bereits auf dem Wege der Besserung. Der Müdir hatte in allen Dörfern der Umgebung einen Befehl anschlagen lassen, laut dessen jeglicher Muselman verpflichtet war, jedes armenische Wesen, das ihm vor Augen komme, kurzerhand zu verhaften, und sei es auch ein Bettler, ein Blinder, ein Siecher, ein Irrer, ein Krüppel, ein Greis oder Kind. Dieser sinnreiche Befehl verfolgte den Zweck, alle Spionentätigkeit zugunsten des Berglagers im Tale unmöglich zu machen. Der Anschlag klebte noch keine zwei Tage an den Kirchenmauern, und schon war das Friedhofvolk, das ursprünglich, alle sieben Dörfer zusammengerechnet, aus ungefähr siebzig Köpfen bestand, auf weniger als vierzig zusammengeschmolzen. Der Rest sah sich demnach gezwungen, wollte er noch einige Zeit das Leben fristen, ein ganz und gar unzugängliches Versteck aufzusuchen. Dieses Versteck war, Christus sei Dank, vorhanden. Nur die Tapfersten und Stärksten wie die ahasverische Nunik verließen es zwischen Mitternacht und Morgen, um auf ihren alten Lebensorten nach dem Rechten zu sehen und für Nahrung zu sorgen, das heißt, unter allerhöchster Lebensgefahr ein paar Lämmer, Zicklein und Hühner zu stehlen. An diesem Versteck aber führte Stephans Heimweg vorbei. Eine Meile etwa vor dem Dorfe Ain Jerab drängten sich die Ruinen des alten Antiochia zu einer ganzen Stadt zusammen. Alles überragen die Pilaster und gebrochenen Riesenbogen der römischen Wasserleitung. Die bisher recht bequeme Straße verengt sich hier zu einem ungenauen Saumpfad, der entlang des tief in die Felsen geschnittenen Flußbettes mitten durch die Steinwildnis des einstigen Menschenwerkes führt. Stellenweise bedecken Quadern, Säulenfragmente, abgebrochene Kapitale den Weg, so dass er kaum gangbar ist. Stephan strauchelte jeden Augenblick in seiner Fiebertrunkenheit zwischen den gefährlichen Trümmern, verwickelte sich in Schlingwuchs, stürzte, schlug sich die Knie wund, stand auf und taumelte weiter." [113]

Moslem-Bauern waren in der Regel weniger freundlich: »Bist du beschnitten oder unbeschnitten, Junge?« Stephan verstand nicht. Jetzt erst schmolz sein zutrauliches Lächeln zu einem angstvollen Frageblick. "Sein Schweigen erregte den Zorn der beiden Moslems. Harte eifernde Laute hagelten auf ihn nieder. Er wusste trotz ihrer Ausrufe und Gebärden immer weniger, was sie von ihm wollten. Da riss dem Schwarzbart die Geduld. Er packte den Knienden unter den Armen und zog ihn hoch. Der Graue aber entblößte ihn und untersuchte genau, was zu untersuchen war. Nun hatten sie die Bestätigung. Der verschlagene Armenierjunge, der sich stumm und taub stellte, war ein frecher Spion, den die Bergkämpfer ausgesandt hatten. Da war keine Zeit zu verlieren. Sie stießen den taumelnden Stephan vor sich her, den schmalen Talweg von Ain Jerab hinab bis zur großen Straße. Dort hielten sie ihn fest, bis der erste leere Ochsenkarren aus der Umgebung von Antakje des Weges nach Suedja kam. Der Fuhrmann musste sofort im Namen des öffentlichen Dienstes sein Ziel ändern. Die Schergen hoben ihren Gefangenen in das Gefährt. Der Schwarze hockte sich an seine Seite, während der Graue nebenherschritt und in erregten Worten den Inhaber des Karrens über die Gefahr aufklärte, die er soeben abzuwehren im Begriff sei. Nun aber, da Stephans Schicksal besiegelt war, nahm eine milde Himmelsmacht ihm die Gegenwart völlig von der Seele. Sein Kopf fiel in den Schoß des Schwarzbärtigen, seines tödlichen Feindes. Und sonderbar! Der Grimmige stieß sein Opfer nicht von sich. Er saß starr und rührte sich nicht, als wolle er dem Jungen nicht weh tun. Das glühende Gesicht in seinem Schoß, die offenen Augen, die ihn anschauten und doch nicht sahen, der fiebrische Atem, der die blutroten Lippen blähte, diese ganze kindlich hingegebene Nähe wühlte in dem winzigen Gemütsraum des Schwarzen eine wilde Bitterkeit auf. Die Welt war so und nicht anders. Man musste in ihr zuschlagen! Stephan aber wusste nichts mehr vom Musa Dagh. Er wusste nichts mehr von den Haubitzen, die er erobert, nichts mehr von den fünf schlaftrunkenen Menschen, die er durch fünf Meisterschüsse hingestreckt hatte... Dies alles war nicht ereignisreich, doch so ruhig schön, dass Stephan den Saptiehposten gar nicht bemerkte, der vor Wakef auftauchte. Einer der beiden Gendarmen setzte sich als Verstärkung zu dem Schwarzbart auf den Karren und hielt die Füße des Gefangenen fest. In Wakef aber schloss sich eine größere Abteilung von Saptiehs an. Je weiter man im Dörfertal vorwärtskam, um so größeres Aufsehen erregte die Eskorte. Eine beträchtliche Menge der neuen Haus- und Grundbesitzer folgte ihr, Männer, Weiber, Kinder. Lange vor Mittag noch erreichte der Zug den Kirchplatz von Yoghonoluk. Eine tausendköpfige Menschenmenge hatte sich zusammengerottet, darunter auch die vielen alten und neuen Soldaten, die jetzt in den Dörfern garnisonierten. Schnell wurde der rothaarige Müdir aus der Villa Bagradian zur Stelle geholt. Die Saptiehs stießen Stephan vom Karren. Er musste sich auf Befehl des Beamten völlig entkleiden, denn vielleicht verbarg er auf dem nackten Körper irgendeine Schrift. Der Bagradiansohn gehorchte lautlos und voll ruhiger Gelassenheit, was die Menge, als ein Zeichen tiefer Verstocktheit, heftig aufbrachte. Ehe er noch ganz nackt dastand, erhielt er von irgend jemand einen Hieb über den Hinterkopf. ...Da traf Stephan der erste Messerstich in den Rücken. ... Die erste, die den verstümmelten Leichnam nach Einbruch der Nacht entdeckte, war Nunik. Die Saptiehs hatten ihn, nackt wie er war, gleich nach der Massakrierung auf den Friedhof von Yoghonoluk geworfen. Nunik kam gerade zurecht, um ihn vor den wilden Hunden zu retten. ... Die Totenweiber gingen sofort an die Arbeit. Sie reinigten den zerfetzten Körper des schönen Knaben von Blut und Schmutz. Die großmütige Nunik tat für die Familie Bagradian ein übriges. Sie holte aus ihrem unaussprechlichen Vorratssack ein langes weißes Hemd hervor, in das sie Stephans Körper hüllte. Während dieser letzten Dienste sang einer der prophetenhäuptigen Blinden vor sich hin: »Das Blut des Lammes ist zu ihrem Haus geflossen.« [114]
 

14. Neue Befestigungen und Fischerei

Niemand durfte, auch in den Freistunden nicht, seinen Posten verlassen. Urlaube für die Stadtmulde wurden nur in den dringendsten Fällen erteilt. Die Reserve bekam harte Arbeit. Für den künftigen Riesenangriff der Türken sollten die Stellungen nicht nur verbessert, sondern zur Täuschung des Feindes teils verlegt, teils durch mächtige Steinschanzen uneinnehmbar gemacht werden. Gabriel, Awakian und Lehrer Schatakhian zeichneten stundenlang an den neuen Plänen, deren Ausbau unverzüglich in Angriff genommen wurde. In diesen Tagen war alles in unablässiger Bewegung. Was die Epidemie im Lager anbetrifft, so war es zum größeren Teil dem günstigen Wetter, zum kleineren Teil Bedros Hekim zu danken, dass sie ihre schleichende, doch begrenzte Form nicht überschritten hatte. Von hundertunddrei erkrankten Personen waren bisher vierundzwanzig gestorben. Der Führerrat hatte dem Arzt eine Sanitätskommission beigestellt, zu der auch Pastor Tomasian gehörte. Diese Behörde inspizierte täglich einmal die ganze Stadtmulde, Hütte für Hütte. Wurde irgendwo ein Bewohner mit den leisesten Anzeichen fiebrischen Unwohlseins angetroffen, musste er seine Decken und Kissen sogleich zusammenpacken und sich in das Epidemie-Wäldchen, das Infektionsspital des Lagers, begeben. Der Aufenthalt in diesem schattigen Gehölz war übrigens für die Kranken mild und angenehm. Ein Regen freilich hätte alles grausam verändert. Doch dem Unwetter des ersten Tages war, Gott sei es gedankt, bisher kein zweites nachgefolgt, was im Hinblick auf den syrischen August zwar eine Gunst, aber kein Wunder genannt werden darf. [115]

Für Pastor Aram brach ein Tag des Ärgernisses an. Er hatte sich, die Laterne an den Gürtel geschnallt, vor Morgen aufgemacht, um zu den Meeresklippen hinabzusteigen und die ersten Resultate der von ihm ins Werk gesetzten Fischerei zu besichtigen. Das Floß war nun fertig, und die jungen Leute hatten sich in dieser windlosen Nacht bereits hinausgewagt, um mit Schleppnetzen und kleinen Lichtern den üblichen Küstenfischfang zu betreiben. Tomasian war von seiner Idee besessen. Er sah in ihr nicht nur die Möglichkeit, den notwendigen Kostwechsel zu schaffen; sie erschien ihm darüber hinaus als einzige Rettung vor der nahenden Hungersnot. Sollte es bei hinreichendem Fleiße nicht gelingen, dem Meere täglich zwei- bis dreihundert Oka Fische zu entreißen? Wie sehr man auch mit dem Schlachtvieh jetzt schon knauserte, in sechs Wochen würde das letzte Schaf verschwunden sein – selbst bei höchst optimistischer Rechnung. Brachte er aber, Aram Tomasian, die Fischerei zum Blühen, so wuchs aus dem Meere neuer Mut und neue Widerstandskraft. Schon der Gedanke an die unerschöpfliche Lebensquelle würde Wunder wirken. "Unten bei den Klippen angelangt, erfuhr Aram zum Überfluss, dass seine große Idee bisher nur die dürftigste Verwirklichung gefunden hatte. Trotz der glatten See war das Floß während der kleinen Fahrt auseinandergefallen und drei der jugendlichen Fischer und Schiffer wären dabei fast ums Leben gekommen. In Hinblick auf solche Gefahr erschien die Ausbeute mehr als dürftig: zwei mäßige Körbe, angefüllt mit winzigen Silberfischlein und gestaltlosem Meergewürm. Der Inhalt genügte gerade für einen großen Suppentopf. Nachdem Tomasian seinen Spott über derartige Seeleute ergossen hatte, traf er neue Anordnungen. Man musste nicht gleich beim erstenmal allen Mut verlieren. Immerhin zeigte die Salzbleiche erfreulichere Resultate als der Fischfang. Ein gutes Maß Salz konnte in die Stadtmulde geschafft werden." - Hauptsache man führte kein Leben, "niedriger, grauenhafter als die primitivsten Moslems!" [116]

Der Sohn des Armenierführers wurde gefoltert wie viele andere Christen auch: "Obgleich Nunik vierzig Wunden gezählt hatte, Stiche, Hiebe, Quetschungen über den ganzen Körper, obgleich das Rückgrat gebrochen und die Kehle durch einen grauenvollen Schnitt durchtrennt war, zeigte das Gesicht des Toten keinerlei Entstellung. Hinter den für ewig versiegelten Lidern schien Stephan noch immer den ersehnten Vater aus jenem hohen Bahnhoftor treten zu sehen. Das Lächeln der Befriedigung, weil Papa ihn wieder in den Armen hielt, hatte der vierzigfache Mord aus seinen Zügen nicht vertilgen können. Er war gestorben, ohne dabeigewesen zu sein. Nur wie ein fernes Gerücht hatte ihn durch Gottes Gnade der bestialische Martertod berührt.... Mittlerweile waren Ter Haigasun und Bedros Hekim erschienen. Der Priester stand starr am Kopfende der Bahre, die Augen halb geschlossen, die Hände fröstelnd in den Kuttenärmeln verborgen. Die knochig nachdenklichen Finger des alten Arztes entblößten für einen Augenblick die Wunden des erstarrten Knabenkörpers. Dann glätteten sie aber mild und begütigend wieder die Hülle. Der Tag entfaltete sich. Aus den Hüttengassen und von den nächstgelegenen Stellungen strömte es rasch zusammen und umdrängte den Altar. Man hatte nach den drei Schlachttagen gar viele Tote gesehen und laut beklagt. Dieser Tote aber war mit jenen nicht zu vergleichen. Viele wussten, dass hier ein Opfer gefallen war, das mehr bedeutete." [117]
 

15. Überall, wo die Armenier gegen Enver und Talaat rebellierten, griff sofort eine rettende Macht mit unheimlicher Präzision ein und entschied die Sachlage zugunsten der Tapferen Christen

Am einunddreißigsten Tage des Musa Dagh fand Stephans Begräbnis statt. Am zweiunddreißigsten jedoch trat die große Katastrophe ein. "Bis zu diesem Tage hatte das Volk der sieben Gemeinden nicht unzufrieden sein dürfen. Während um dieselbe Zeit zwischen Aleppo und Deïr es Zor, in den Engpässen und Talbreiten des Euphrat, auf den Steppen und Wüstenrändern Mesopotamiens schon Hunderttausende Armenier faulten – die Hälfte aller Deportierten beinahe –, waren in der Stadtmulde, in den Stellungen, im Lazarettschuppen und Seuchenwald noch keine zweihundertachtzig Menschen gefallen und gestorben. Im Hinblick auf die blutigen Schlachten, auf Unterernährung, Seuche, Strapazen, Schlafmangel und Entbehrungen aller Art bewies dieser mäßige Prozentsatz des Todes nicht nur die ungemeine Widerstandskraft der Bergsöhne, sondern auch die Unterstützung des Himmels. Es war höchst merkwürdig, überall, wo die Armenier gegen Enver und Talaat rebellierten, griff sofort eine rettende Macht mit unheimlicher Präzision ein und entschied die Sachlage zugunsten der Tapferen. Die Leute des Musa Dagh freilich konnten nicht wie die ostanatolischen Aufständischen von Wan und Bitlis mit dem Einmarsch der Russen rechnen, die den Todfeind der Armenier, General Dschewjed Pascha, vor sich hertrieben. Das unendliche Land des Islams mit Berg und Steppe umbrandete sie noch erbarmungsloser als das Meer. Und dieses Meer in ihrem Rücken? Es blieb unfassbar tot, so nach wie vor. Kein Kind gab sich der Hoffnung mehr hin, ein Kriegsschiff werde die syrische Küste passieren. Und selbst, wenn wider alle Vernunft, durch ein unglaubwürdiges Wunder solch ein Kriegsschiff am Horizont erschiene, wer war noch dumm genug anzunehmen, die Schiffswache werde das lächerliche Schnupftuch bemerken, das auf der Schüsselterrasse von einer Stange herabhing? Nun war schon mehr als eine Woche vergangen, und die Schwimmer von Alexandrette kamen nicht heim. Man gab sie verloren. Nur einige unheilbare Romantiker versuchten in diesem langen Ausbleiben ein günstiges Zeichen zu sehen. Wie dies alles auch immer sein und werden mochte, noch lebte man. Sieben oder acht Verteidigungsabschnitte waren durch die glühende Brandwüste unangreifbar geworden, und die übrigen hatte Gabriel Bagradian auf das sinnreichste verstärkt und verändert. Die Türken schienen auch nicht die geringste Lust mehr zu haben, sich in ein Abenteuer einzulassen. In der Orontesebene und im Dörfertal wimmelte es von neuen Truppen und neuen Saptiehs, die den Tag totschlugen. Das feindliche Kommando hatte sich bisher nicht einmal zu einer nachlässigen Belagerung aufgerafft. Vielleicht wagte es nicht, eingedenk der Komitatschigefahr, den Berg im Umkreis zu besetzen, vielleicht erwartete es vorerst die nötige Artillerie. Auch mit der elenden Ernährung hatte sich das Lager bis zu einem gewissen Grade abgefunden. Furchtbar war die Entbehrung des Brotes. Die Weiber jedoch experimentierten mit Ersatzmitteln und Zutaten. Man aß nicht mehr das bloße Fleisch wie zu Beginn. Der magere zähe Happen reichte nicht aus, den Magen zu füllen. Man zerschnitt deshalb das Fleisch in kleine Stücke und kochte es, mit Lauch und gemüseartigen Pflanzen vermengt, in seiner Suppe, wodurch wenigstens große Portionen zustande kamen. Das erfinderische Leben wäre mit diesen Schwierigkeiten noch eine geraume Weile fertig geworden, hätte nicht jener schwere Unglücksschlag allem ein jähes Ende gesetzt." [118]

Wer trug die Schuld? Nun, diese Schuld konnte niemals ganz aufgeklärt werden. Die verantwortlichen Muchtars schoben sie einer auf den andern. Fest stand nur, dass einer der ersten und wichtigsten Beschlüsse des Führerrates in verbrecherischem Leichtsinn zum Unheil des ganzen Volkes übertreten worden war. Die Muchtars hatten den »neuen Brauch« nicht nur nicht verhindert, sondern sogar wohlwollend geduldet, sie mochten jetzt sagen, was sie wollten, und jammernd immer wieder auf die erschöpften Almen innerhalb der Verteidigungsgrenzen hinweisen sowie auf die Notwendigkeit, den Herden frisches Futter zu schaffen. Gewiss! Die neuen Weideplätze lagen nicht fernab vom Nordsattel, sie waren auf die denkbar günstigste Art in das Felsgebiet des Musa Dagh eingesprengt und für Fremde so gut wie unsichtbar und unzugänglich. Durfte man jedoch den Schäfern vertrauen, die sich wie überall in der Welt aus träumerischen Greisen und kleinen Jungen zusammensetzten? Diese verschlafene Gesellschaft, die sich der Schafnatur angeglichen hatte, glaubte noch immer, man lebe in tiefem Frieden. Die Muchtars waren mit einem Wort in der Ausübung ihrer Dienstpflichten höchst lässig geworden und gaben sich damit zufrieden, wenn die Schäfer allmorgendlich mit der vorgeschriebenen Stückzahl von Schlachtvieh (dessen Gewicht sich übrigens seit dem neuen Brauch zusehends verbesserte) bei den Fleischbänken erschienen. Als Mitglieder des Führerrates aber wollten sie nichts wissen. Um so gewissenloser und frevelhafter war mithin das zweite Versäumnis, das sie duldeten. Der Beschluss war sogar schriftlich ausgefertigt und von Ter Haigasun unterschrieben worden, solche Wichtigkeit hatte ihm der Senat beigemessen. Niemals sollten die Herden, dieser kostbarste Volksbesitz, ohne bewaffneten Schutz weiden, auch nicht innerhalb der Lageralmen, auf den beiden Hochkuppen oder auf den Wiesen der Meerseite. Um diesen Ratsbeschluss aber auch unter den geänderten Umständen zu verwirklichen, hätte man den neuen Brauch einbekennen müssen, was dessen Verhinderung gleichgekommen wäre. So unterblieb denn jegliche Maßnahme des Schutzes. Die Muchtars vertrauten auf Gott, auf die wohlverborgenen Weiden, auf die Trägheit der Türken und redeten im übrigen weder miteinander noch mit den anderen Führern über dieses ordnungswidrige Geheimnis hinter ihrem Rücken. Sie ermöglichten daher den Türken, die ihren guten Kundschaftern dankbar sein mussten, einen ebenso wohlfeilen wie einträglichen Erfolg. "Zwei Züge Infanterie und eine Abteilung Saptiehs bekamen den Befehl, nächtlicherweile auszurücken und den Musa Dagh jenseits des Passes bei Bitias in aller Stille zu ersteigen. Stille und Behutsamkeit musste man Offizier und Mannschaft wahrhaftig nicht einschärfen. Diesmal marschierte die Streitmacht trotz der mondlosen Nacht, wie es das taktische Lehrbuch vorschreibt, mit Vorpatrouille, Spitze, Seiten- und Nachhut, jeden Schritt ängstlich abwägend. Diese schreckhafte Vorsicht war das unbezahlbare Kapital, das sich Gabriel Bagradian und seine Zehnerschaften im Herzen der Türken erworben hatten. Die Halbkompanie pirschte sich mit abgeblendeten Laternen an die schlafenden Schäfer und Schafe heran. Bis zum letzten Augenblick vermutete der kommandierende Mülasim, es werde ohne Kampf nicht abgehen. Um so erstaunter aber waren die Soldaten, als sie nur ein paar Greise in weißen Pelzen vorfanden, die sich ohne Lärm und in aller Ruhe von ihnen erschlagen ließen. Die Herden wurden dann noch vor Sonnenaufgang in größter Eile, als sei die Beute in Gefahr, zu Tal getrieben. Damit war dem Volke des Damlajik der Lebensnerv durchschnitten. Unter den geraubten Tieren befanden sich alle Schafe, Hammel und Lämmer der Gemeinschaft, der größte Teil der Ziegen sowie sämtliche Esel bis auf jene, welche von den Verteidigern zur Zeit als Last- und Reittiere verwendet wurden. Rechnete man den ganzen Viehstand, der im Lager zurückgeblieben war, bis zum letzten Pfund Fleisch großmütig zusammen, so konnte man mit der äußersten Sparsamkeit noch drei oder vier Tage auskommen, dann aber stand das Volk unabwendbar vor dem nackten Hunger." [119] 

Was Wali und Kaimakam und Bimbaschi und Jüsbaschi nicht gelungen ist, wurde nun wahrscheinlich durch Verrat zustande gebracht. »Meine Meinung ist, es wäre besser, von der Schuld nicht mehr zu reden. Denn was hilft das? Geschehen ist geschehen! Ter Haigasun sagt selbst, dass wir Einigkeit zeigen müssen. Wir wollen nicht rückwärts, sondern vorwärts blicken und uns den Kopf zerbrechen, wie Ersatz zu schaffen ist.« Hätten die Türken von den neuen Weideplätzen ohne Verrat jemals etwas erfahren? Diese Weiden sind vollkommen abgeschlossen und zwischen den Felsen versteckt. Kein Ortsfremder konnte sie je entdecken. Gonzague Maris aber hat überall herumgeschnüffelt. Und das ist ja erst der Anfang. Nächstens werden die Türken mitten im Lager auftauchen. Die Regierung hat schon bei Kriegsbeginn in die armenischen Bezirke Spitzel entsandt, und zwar Christen, damit es nicht auffällt. [120] 

Der Südabschnitt stand, vereinsamt und weit abgelegen, in größter Sonnenferne gleichsam zum Altarplatz und mithin zum Geiste der Ordnung und Führung. "Das Volk zeigte eine deutliche Scheu vor diesem Abschnitt. Während zum Beispiel zwischen der Nordstellung und der Stadtmulde stets ein lebhafter Verkehr stattfand, verirrten sich in die Felsen der Südbastion nur selten ein paar Neugierige. Das ließ sich weder durch den langen Weg hinreichend erklären noch auch dadurch, dass den Deserteuren der Familienanhang fehlte. Hie und da schickte Bagradian eine Inspektion hinaus, die zur Zufriedenheit des Befehlshabers keine besonderen Beobachtungen zu vermelden hatte. Es war klar: die Deserteure mussten ja dankbar sein, in der Volksgemeinschaft Aufnahme gefunden zu haben und, anstatt ihr bisheriges Hundeleben zu führen, regelmäßiges Essen zu erhalten. Wie es freilich um ihre tatsächliche Anhänglichkeit und ihren Opfermut für diese Volksgemeinschaft stand, das wußte niemand, und niemand machte sich darüber Gedanken. Die Südbastion war eine Welt für sich. Ihre Besatzung führte ein Leben, dem niemand nachforschte. Sie übernahm es als Gegenleistung für regelmäßige Nahrung, den Abschnitt zu verteidigen, das war alles. Doch auch die Deserteure hatten sich, in Einhaltung dieses ungenannten Vertrages, bisher blutwenig um Stadtmulde, Altarplatz, Führerrat gekümmert und nur selten die Örtlichkeiten des allgemeinen Lebens betreten. Heute, an dem Morgen der schweren Katastrophe, geschah es vielleicht zum erstenmal, dass sie in einigen größeren Haufen ins Lager kamen. Sie verbanden aber mit ihrem Auftreten nicht den geringsten Zweck. Die Witterung, »etwas ist los«, hatte sie hergetrieben, der ewige Wunsch solcher Existenzen nach Verwirrung und Auflösung, nach dem Nichts, das zugleich das Neue ist." [121] 

Keiner der Ältesten hatte den rettenden Einfall, der Menge irgend etwas Unverhofftes in Aussicht zu stellen, um sie für diese Stunde wenigstens zu beruhigen. Noch an demselben Tage jedoch trat ein überraschendes Ereignis ein, das in dem quälenden Auf und Ab von Hoffnung und Verzweiflung den Mut wieder ein wenig belebte. Man hätte dieses Ereignis nicht ganz unzutreffend ein Wunder nennen können, wenn auch ein missglücktes.[122] 

»Gabriel Bagradian ... Türken ... Türken sind da ... Sechs oder sieben ... Sie haben eine weiße und grüne Fahne bei sich ... Parlamentäre ... Keine Soldaten ... Ein Alter ist der Führer ... Sie rufen herüber, dass sie nur mit Bagradian Effendi und sonst mit niemandem sprechen wollen ...« Mehr als eine Woche war seit der großen Niederlage der Türken schon verflossen. "Der verwundete Jüsbaschi war, den Arm in der Binde, wieder unter den Soldaten zu sehn. Im Umkreis des Musa Dagh lagen soviel reguläre Truppen und Saptiehs wie noch nie. Und doch, es geschah nichts. Auch sprach nicht das leiseste Anzeichen dafür, dass in der nächsten Zeit etwas geschehen werde. Die Männer auf dem Damlajik sahen das lässige Treiben unten im Tal und fanden keine Erklärung dafür, dass man sie trotz der drohend angewachsenen Truppenmacht so auffällig in Ruhe ließ. Den Grund konnten sie auch nicht wissen. Der Kaimakam von Antakje, oberster Leiter der »Liquidation«, war verreist. Dschemal Pascha hatte nämlich sämtliche Walis, Mutessarifs und Kaimakams der syrischen Vilajets in seinem Hauptquartier zu Jerusalem um sich versammelt. Es waren unerwartete Naturereignisse aufgetreten, die rasche Maßregeln erforderten, sollte nicht die Kriegführung, ja das ganze Leben Syriens, der wichtigsten Etappe, völlig gelähmt werden. Die Mittelmeerprovinzen des ottomanischen Reiches befanden sich in der schwersten Bedrängnis. Nur selten geschieht es, dass sich die göttliche Gerechtigkeit, die eine unverwickelte Prozessordnung nicht liebt, geschwind ertappen lässt. Im Gegensatz zu den Gepflogenheiten menschlicher Justiz folgt hier die Strafe der Schuld durchaus nicht auf dem Fuße. Die göttliche Gerechtigkeit ist in der kosmischen Folgerichtigkeit aufgelöst wie das Salz im Meere. In dieser Jahreszeit und in diesen Breiten aber schien sie sich mit einer bemerkenswerten Hast offenbaren zu wollen, als sei selbst ihre ewig unparteiische Ruhe angesichts der Vorgänge aus der richterlichen Objektivität geraten. Kurz, die Mühlen Gottes mahlten diesmal schnell. Zwei ägyptische Plagen, von allerlei Neben- und Unterplagen begleitet, drangen vom Norden und Osten her ins Land. Die östliche Plage, der Flecktyphus, der über Aleppo hinaus als geschlossene Seuche nach Antiochia, Alexandrette und in die Küstengebiete vorstieß, war ein schauerliches Beweisstück jener kosmischen Folgerichtigkeit. Die Krankheit unterschied sich in ihrer grausamen Schärfe von der sanfteren Epidemie auf dem Damlajik, die sich dank der frischen Luft, dem guten Wasser, der strengen Trennung und wegen andrer unbekannter Umstände noch in mäßigen Grenzen hielt. Die Sterblichkeitsziffer des mesopotamischen Fleckfiebers jedoch belief sich oft auf achtzig vom Hundert. Aufgebrochen war er aus der Pestwolke, die über den Steppen des Euphrat lag. Auf dieser höchst ungeweihten Erde, in dieser gottlosen Senkgrube des Todes, verwesten schon seit Mai und Juni Hunderttausende von Armenierleichen. Selbst die Tiere flohen vor dem Gestank. Nur die armen Soldaten mussten durch diese unaussprechliche Jauche der Menschheit hindurch: Kolonnen mazedonischer, anatolischer, arabischer Infanterie mit den endlosen Wagen- und Kamelreihen des Trains wurden in tagelangen Märschen hindurch und nach Bagdad getrieben. Dazwischen stampften die Hufe der Beduinenkavallerie. Doch auch diese Kinder der Wildnis konnten während des Durchzuges – sie holten das Letzte aus ihren Pferden – keine Speise bei sich behalten. Die toten Armenier aber sandten vom »Deportationsziel des Nichts« her ihren danksagenden Hauch westwärts über die wenigen Schuldigen und die vielen Unschuldigen. Talaat Bey hätte sich im Serail-Palais des Ministeriums wohl seinen weltklugen Kopf darüber zerbrechen können, wie merkwürdig es ausfällt, wenn man ein Volk ins Nichts schickt. Doch weder er noch Enver zerbrachen sich den Kopf, denn seitdem die Welt steht, ist die Gewalt stets mit stumpfer Unverfrorenheit der Seele verschwistert. Die zweite nördliche Plage war zwar weniger folgerichtig als die erste, doch in ihrer Auswirkung vielleicht noch gefährlicher. Auch schien sie tatsächlich die Wiederholung einer biblischen Strafe zu sein. Der Einbruch der Heuschrecken in die Ebene von Aleppo und damit in ganz Syrien geschah vom Taurus herab. Die Hänge, Schluchten und Schächte dieses riesigen Gebirges waren wohl die Geburtsstätte des zähen Nomadenvolkes, das sich unaufhaltsam über das Land ergoss. Große Heuschrecken, hart, ausgetrocknet, welklaubähnlich, hunnenhafte Insekten, als sei in ihren weiten Hindernissprüngen Ross und Reiter zusammengewachsen. Sie kamen in verschiedenen riesenhaften Heerhaufen, mit denen sie Hunderte von Quadratmeilen der Sandschaks bedeckten, so dass kaum ein Erdfleck durchzublicken vermochte. Die Marschordnung und konzentrische Richtung ihres Einbruchs ließen vermuten, dass hinter ihrem Wüten nicht nur der blinde Trieb stand, sondern Auftrag, Plan und Führung, die kollektive Idee alles Heuschreckentums gewissermaßen. Ein unheimlicher Anblick war's, wenn sich einer dieser Schwärme auf die alten Bäume eines Gartens niederließ, auf Ulmen, Platanen, Eiben, ja selbst auf hartblättrige Sykomoren. Dann dauerte es nur wenige Sekunden, und der Baum war wie in einen Möbelüberzug eingehüllt, wie in einen Wettermantel aus dunklem Loden. Alles Grüne schrumpfte vor den Augen des Beschauers augenblicklich zusammen, wie von unsichtbaren Flammen verzehrt. Sogar der Stamm steckte in hohen wurrlenden Gamaschen. Nichts ließ darauf schließen, dass die Einheit eines solchen Schwarmes aus Individuen bestand. Griff jemand einen Heuschreck aus der Masse heraus, so konnte er die erstaunlichen Fortbewegungs- und Fresswerkzeuge bewundern, in denen alles Leben dieser Erdenbürger vereinigt war. Sonst aber benahm sich der einzelne in der Hand eines Menschen ebenso feig und erbärmlich wie andre Insekten und suchte zu fliehen. Im Schwarm jedoch schien er sich zu fühlen und seine gierige Tätigkeit als den Dienst an einer großen Sache aufzufassen. Im August gab es östlich der syrischen Küstengebiete bis ins Euphrattal hinein keinen grünen Baum mehr. Das Schicksal der Bäume jedoch bereitete Dschemal Pascha wenig Beschwer. Die Ernte im nördlichen Syrien beginnt nie vor Mitte Juli und dauert mehrere Wochen lang, denn die Schnittzeit für Korn, Weizen, Gerste fällt nicht mit der Zeit für den Mais zusammen. Der türkische Bauer, der arabische Fellach gleichen dem Armenier nicht, der die Feldfrucht sogleich nach dem Schnitt heimführt, da ihn das Gefahrbewusstsein in seinem Blut dazu antreibt, den Wintervorrat so rasch wie möglich zu bergen. Der Moslem hingegen lässt die Garben tage-, ja wochenlang auf den Feldern liegen, da er vom Wetter nur sehr wenig zu fürchten hat. Als die Heuschrecken im Juli herabfluteten, fanden sie das Getreide teils im Hochstand, teils in lockeren Schnittschwaden auf den Feldern. Sie konnten also in wenigen Tagen die gesamte syrische Ernte auf ihre Weise einbringen, so dass um die Monatsmitte von den kahlgefressenen Äckern kein Halm mehr zu holen war. Mit dieser Ernte aber hatte Dschemal Pascha ungeduldig gerechnet, denn die alten Vorräte waren aufgezehrt, und er sollte nicht nur die gesamte Vierte Armee mit dem syrischen Getreide ernähren, sondern auch noch die Bevölkerung Palästinas und des Libanon sowie den schwankenden Araberstämmen im Ostjordanland durch große Zuwendungen schmeicheln. Die Heuschrecken aber machten den ganzen Verpflegungsplan des laufenden Kriegsjahrs zu Luft. Der Brotpreis schoss in die Höhe. Sofort erließ Dschemal eine Wucherverordnung, die aber keine andre Wirkung hatte, als dass die Bauern und Händler die Annahme von Papiergeld jetzt endgültig verweigerten. Trotz schärfster Gegenmaßnahmen sank das gesunkene türkische Pfund noch tief unter seinen geltenden Wert. In den ersten Augusttagen, da sich der Musa Dagh so glorreich verteidigte, fielen im Libanongebiet schon die ersten Opfer der Hungersnot. Dies war die Lage der Dinge, als in Dschemal Paschas Hauptquartier die Konferenz der syrischen Statthalter zusammentrat. In dieser hochmögenden Runde ging es übrigens kaum gelassener zu als in dem Führerrat des Musa Dagh. Die Walis und Mutessarifs konnten nämlich ebensowenig Eisenbahnzüge mit Getreide herbeizaubern wie die Muchtars Hammel und Schafe. Die Rede des Gewaltherrschers aber war kurz und unzugänglich. Bis zu diesem und jenem Tag hat das Vilajet Aleppo soundso viel Korn aufzubringen und an die Heeresintendantur abzuliefern, basta! Die Beamten wurden blass vor Wut, nicht nur wegen der Zumutungen, sondern mehr noch über den Ton des Paschas, den er sich ihnen gegenüber herausnahm. Nur einer war die Demut und Dienstwilligkeit selbst, freilich hatte er wegen der Schmach des Musa Dagh Grund genug dazu. Das bräunlich aufgedunsene Gesicht des Kaimakams von Antakje hing unablässig begeistert an Dschemals Lippen. Während alle anderen Statthalter jammerten und feilschten, versprach er das Unmögliche. Seine Kasah, die größte im Vilajet, sei von der Heuschreckenplage nicht übermäßig betroffen. Wenn auch nicht Korn und Weizen, so könne er doch Mais in jeder gewünschten Menge zur Verfügung stellen. Er habe in Vorahnung der Kriegsnot die staatlichen Magazine seines Bezirks seit Jahr und Tag mit Proviant gefüllt. Er bitte nur höflichst um die nötigen Transportmittel. Während einer der Verhandlungen kam es so weit, dass Dschemal Pascha den Kaimakam von Antakje als leuchtendes Beispiel hinstellte." [123] 

Der sommersprossige Müdir, der in der Villa Bagradian residierte, wurde an diesem Tag zweimal aus seinem Kefschlummer gerissen. "Das erstemal war's eine Depesche des Kaimakams, die ihn von dessen bevorstehender Ankunft in Kenntnis setzte. Als aber der Feldwebel der Saptiehs von neuem erschien, um ihn wegen eines bedenklichen Ereignisses aus der kühlen Villa in die unerträgliche Mittagshitze zu holen, da fluchte er auf den lästigen Kerl wild los und hätte ihn am liebsten geschlagen. Auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk jedoch beschleunigte er seinen Schritt, denn der Anblick war wirklich recht ungewöhnlich. Vor der Kirche stand eine nicht mit Pferden, sondern mit Eseln bespannte Yayli. Eigentlich aber war's gar keine Yayli, sondern irgendeine altertümliche Karosse mit großen Rädern. In dieser Karosse saß ein alter Herr, der seinem Wesen und seinen Kleidern nach vorzüglich hineinpasste. Ein dunkelblauer Seidenmantel reichte ihm bis zu den Füßen, die in weichen Ziegenlederschuhen staken. Um den Fez trug der Vornehme das Tarbuschtuch des Frommen geschlungen. Die zarten, fast altfrauenhaften Finger zählten unablässig die Kugeln eines Bernsteinkranzes ab. Der Müdir erkannte in dieser Erscheinung sofort einen patrizischen Alttürken, einen Parteigänger des gegnerischen Lagers, das trotz der Revolution seine Macht nicht völlig eingebüßt hatte. Jetzt erinnerte er sich, dieser Persönlichkeit in Antakje zwei- oder dreimal begegnet zu sein, wo sie von der Bevölkerung ehrfürchtig gegrüßt worden war. Die Yayli stand nicht allein da. Hinter ihr stampfte und scharrte ein Tross hochbepackter Esel. Außer den Treibern sah der Müdir noch zwei ältere Türken mit einem milden, fast verklärten Ausdruck und einen mageren Menschen, der am Wagenschlag lehnte und dessen Gesicht dicht verschleiert war. Der junge Mann aus Salonik legte die Hand an die Stirn, um das Alter höflich zu grüßen. Agha Rifaat Bereket winkte ihn herbei. Der traditionsfeindliche Anhänger Ittihads trat sachte an den Wagen heran und nahm Worte des Alten entgegen: »Wir sind auf dem Wege ins armenische Lager. Gib uns Führer mit, Müdir!« Der also von oben behandelte Bezirkshauptmann erstarrte: »Ins armenische Lager? Seid ihr geisteskrank?« Rifaat Bereket kümmerte sich um diese liebenswürdige Frage nicht. Auf dem Rücksitz der Kutsche lag eine ganz neue moderne Aktentasche aus gelbem Rindsleder, die wie ein tatkräftiger Gegensatz zu dem sonst so behäbigen Aufzug wirkte. Die feinen weißen Finger öffneten den Druckverschluss: »Ich habe eine Mission an die Armenier.« Der Agha reichte dem Rothaarigen seinen Teskeré, der darin zu forschen begann. Als er das Richtige nicht zu finden schien, gebot ihm Bereket ohne jede Ungeduld: »Lies die Schrift über dem Stempel.« Und wirklich, der Müdir gehorchte mit solcher Bereitwilligkeit, dass er den Text sogar laut zum besten gab: »Der Inhaber dieses Passes erhält zu allen armenischen Deportationslagern Zutritt, der ihm von keiner politischen und militärischen Behörde verweigert werden darf.«  [124] 

Sie saßen einander im Scheichzelt gegenüber. Der Agha hatte diese zeugenlose Unterredung mit Gabriel Bagradian gefordert. "Mit verbundenen Augen waren die Türken, wie es bei Parlamentären der Brauch ist, vom Nordsattel auf den Dreizeltplatz geführt worden. Nun hockten die Begleiter des Agha neben den Packeseln, von deren Rücken die Treiber die Säcke und Ballen abluden. Im Umkreis dieser Gruppe vermehrte sich die Menge von Minute zu Minute. Die Armenier aber kamen den Türken nicht nahe, aus einer tiefen Scheu, wie es schien. Jedes Herz klopfte zum Zerspringen. Was bedeutete die Gesandtschaft? Die Rettung? Das Leben? Agha Rifaat Bereket benahm sich, was bedächtige Würde und Zeitverschwendung anbelangt, nicht anders, als säße er im milden Tagdunkel seines Selamliks. Unaufhörlich wie die Zeit selbst rollten die Bernsteinkugeln des Gebetkranzes durch seine Finger: »Ich bin gekommen als der Freund deines Großvaters, als der Freund deines Vaters, als der Freund deines Bruders, Gabriel Bagradian, und ich bin gekommen als Freund der Ermeni millet. Du weißt, dass ich meine Arbeit dem Frieden zwischen unsern Völkern gewidmet habe, der nun zerstört ist, für immer ...« Er brach die litaneiartigen Worte ab. Dann hing sein bekümmerter Blick an dem Gesicht dieses einst so jugendlich gepflegten Europäers. Er hätte die wilden, zusammengeschobenen Züge im krausen Bart nie wiedererkannt. Er versenkte sich eine Weile lang in sich selbst, ehe er wieder anhob: »Schuld ist hier und dort ... Ich sage das nur, damit sich trotz aller Geschehnisse dein Urteil nicht verwirre und dein Herz nicht verhärte.« Gabriels Gesicht wurde noch kleiner und grauer: »Wer dort ist, wo ich bin, der weiß nichts mehr von Schuld. Mich kümmert keine Schuld mehr, kein Recht und keine Rache ...«  [125] 

Neben Rifaats gekreuzten Beinen lag die gelbe Aktentasche und auf ihr, schon vorbereitet, der Brief Pastor Harutiun Nokhudians an Ter Haigasun: »Du weißt, Bagradian, dass ich schon seit Monaten unterwegs bin, um für euch zu wirken. Die Ruhe meines Alters hab ich dahingegeben. Und ich werde auch noch bis nach Deïr es Zor mit Gottes Hilfe kommen. Mein erster Weg in Syrien aber war zu dir. Ihr habt Freunde im Ausland und im Innern. Ein deutscher Pastor hat viel Geld für euch gesammelt und ich stehe mit ihm in Verbindung. Fünfzig Sack Weizen habe ich aufgebracht. Es war nicht leicht. Sie haben sie nicht durchgelassen. Ich dachte mir's gleich. Dem Kaimakam aber wird es nicht gelingen, sie zu konfiszieren. Sie werden euren Brüdern in den Lagern zugute kommen ... Diese Säcke aber waren nicht der Grund, warum ich's auf mich genommen habe, den Musa Dagh zu ersteigen ...« Er händigte Gabriel den Brief Nokhudians aus: »Auf diesem Blatt erfahrt ihr, was ihr sonst nie erfahren hättet, das Schicksal eurer Landsleute. Zugleich aber möget ihr wissen, dass unser Volk nicht nur aus Ittihad, Talaat, Enver und ihren Knechten besteht. Denn viele haben wie ich ihre Wohnstätten verlassen und reisen nach Osten, um den Verhungernden zu helfen ...« Gewiß, der Agha Rifaat Bereket war ein wunderbarer Mann, würdig, dass Gabriel im Namen des Volkes vor ihm niedergekniet wäre. Doch all diese umständlich aufgezählten Wohltaten und Strapazen lösten nicht die Bitterkeit in seiner Seele. So groß die Opfer auch waren, der Hinweis auf sie machte ihn ungeduldig: »Den Verschickten werdet ihr vielleicht helfen, uns nicht ...« Der Alte blieb unwandelbar gemessen: »Dir könnte ich wohl helfen. Dies ist auch der wichtigste Grund, warum ich in deinem Zelt hier sitze.« Und nun floss im eintönigen Passschritt der Worte ein Rettungsplan von des Agha Lippen, der Gabriels Herz stillstehen ließ. Bagradian habe die fünf Männer der Begleitung draußen gewiss gesehen, so begann Rifaat Bereket. Die beiden Alten seien Mitglieder der frommen Bruderschaft, die derselben Aufgabe dienten wie er – die beiden Eseltreiber langjährige Diener seines Hauses in Antakje. Was aber den fünften Mann anbelangt, so habe es mit dem eine weit schwierigere Bewandtnis. Er trage den Tod von vielen Armeniern auf dem Gewissen, sei aber in Stambul vom Scheich der »Herzensdiebe« Achmed belehrt und bekehrt worden. Er habe ein Gelöbnis abgelegt, für die Tat seiner niedrigen Seelenkräfte Buße zu tun und an den Armeniern wiedergutzumachen, was sein Hass an ihnen verbrach. Dieser Mann sei also bereit, mit Gabriel Bagradian die Kleider zu tauschen und zu verschwinden. Auf dem Kirchplatz habe der Müdir die Pässe aller Männer genau vidiert und die Namen in einer Liste verzeichnet. Bei der Rückkehr werde gewiss niemand mehr die Teskerés noch einmal abverlangen. Sollte der Müdir aber wider alles Erwarten doch Schwierigkeiten machen, so habe der verschleierte Bagradian einfach den Pass seines Doppelgängers vorzuweisen. Auch der Mülasim und seine Soldaten – sie haben sechs Personen eskortiert und nehmen sechs wieder in Empfang – würden nicht den leisesten Verdacht fassen, dass eine dieser Personen vertauscht worden sei. Ihm, dem Agha, einem ehrenhaften Mann, gingen solche polizeiwidrigen Unregelmäßigkeiten gegen die Gesinnung, hier aber gelte es, den Letzten der Familie Bagradian in die sichere Hut seines Hauses zu Antakje zu bringen. Er tue dies für die Seelenruhe und das Andenken des verewigten Awetis, von dessen Freundschaft er unzählige Beweise empfangen habe, er als blutjunger Türke von dem alten Armenier. Gabriel erstickte. Das Segel des Lebens blähte sich so mächtig in seiner Brust, dass er vor den Zelteingang stürzte, um Luft zu bekommen. Er sah die Begleiter, wie sie schweigsam auf der Erde hockten. Er sah den Mann des Gelöbnisses, der längst seinen Schleier abgelegt hatte. Ein stumpfes, gewöhnliches Gesicht, dem man weder die Armeniermorde noch auch den Sühneentschluss anmerkte. Er sah den Kreis der Volksmenge, die von wilder Spannung geschüttelt schien. Er sah Iskuhi, die vor dem Krankenzelte stand. Und auch sie war fern und unwirklich wie alles andre... »Ich bin es gewesen, der den sieben Gemeinden die Idee eingegeben hat, auf den Musa Dagh zu gehn. Ich habe den ganzen Widerstand organisiert. Ich war der Führer in den Kämpfen gegen euer Militär, die es möglich gemacht haben, dass wir noch hier sind. Ich bin und werde der Verantwortliche, der Schuldige sein, wenn in ein paar Tagen die Euren alles Lebendige in diesem Lager, ja selbst die Kranken und Säuglinge zu Tode foltern werden. Was meinst du, Agha? Kann ich mich da einfach davonmachen?« Agha Rifaat Bereket sagte darauf nichts mehr. [126] 

Gabriel Bagradian ließ die Geschenke des Agha unverzüglich auf den Altarplatz bringen, damit der Führerrat die Verteilung vornehme. "In der Hauptsache handelte es sich um Zucker, Kaffee und ein wenig Tabak. Doch es war den Treibern gelungen, auch zwei Säcke mit Reis auf den Berg zu schmuggeln. Denkt man sich diese Gaben auf mehr als tausend Familien verteilt, so waren nur winzige Rationen zu erwarten. Gleichviel! Noch einmal heißen Kaffee in kleinen Schlucken genießen dürfen, dass alle Nerven zu leben und zu lächeln beginnen! Noch einmal den »Vater des Duftes« bis in die Tiefen des Zwerchfells einziehen, den Rauch langsam durch Nase und Mund ausstoßen und ihm gedankenlos nachstarren, ohne Sorgen und Morgen. Der tatsächliche Wert dieser Geschenke bedeutete weniger als die psychische Belebung und Aufmunterung, die sie gerade an diesem Tage des Herdenunglückes hervorriefen. Auch die beiden Packesel und zwei Reittiere wurden von den Türken zurückgelassen. Nur der alte Agha behielt das seine für den Ritt ins Tal. Den Weg zum Nordsattel legten der Wohltäter und seine fünf diesmal ohne verbundene Augen zurück. Voran ging der Mann des Gelöbnisses mit der grünen und weißen Fahne. Er schien weder erfreut noch verstimmt darüber zu sein, dass er um sein gutes Werk gekommen war. Als Ehrengeleit folgten den Fremdlingen außer Gabriel Bagradian noch Ter Haigasun, Bedros Hekim und zwei Muchtars. Hinterher wälzte sich eine behexte Volksmenge. Die Unterredung im Scheichzelt, von deren Inhalt niemand etwas wusste, wurde zum Quell phantastischer Erwartungen. Der Agha ging in einem Nebel von Segenswünschen, Hilferufen, Tränenbitten, Hoffnungsfragen. Er konnte kaum vorwärtskommen. Nie, auch in den Lagern der Verschickung nicht, hatte Rifaat Bereket ähnliche Gesichter gesehen wie hier auf dem Damlajik. Die fieberwilden Fratzen der Männer umlauerten ihn gierig. Die stockdürren Arme der Weiber, aus zerrissenen Ärmeln stechend, hielten ihm die kleinen Kinder bettelhaft dicht vors Gesicht. Fast alle diese Kinder trugen schwankende Wasserköpfe an dünnen Hälschen und in ihren Riesenaugen lag ein Wissen, das Menschenkindern verboten ist." Letztlich war die Hilfe des Moslem nur sehr gering und halbherzig. [127] 
 

16. Mangel an Vorräten; Alexandrette unter dem Halbmond; Vizekonsul; Generalpascha

Schon gab es, ehe der wirkliche Hunger noch eingesetzt hatte, Entkräftete genug, Weiber, Kinder, alte Leute, die einfach hinfielen und nicht wieder aufstanden. "Dieses langsame Aufgeriebenwerden entpuppte sich als die schlimmste Form des Untergangs. Der Priester war willens, den Prozess abzukürzen. Besser, noch ein paar Tage lang sich satt zu essen und dann dem Nichts gegenüberzustehn, als dieses Nichts um den Preis ewig brennender Eingeweide für eine lächerliche Spanne hinauszuschieben. In den ersten Septembertagen wurden also die zwei mageren Kühe des Hauses Bagradian sowie alle Ziegen, Böcke und Geißen geschlachtet, ohne Rücksicht auf die Milch, die ihrer Menge und ihrem Gehalt nach nichts mehr bedeutete. Dann kamen die Pack- und Reitesel an die Reihe, deren ledernes Fleisch freilich weder am Bratspieß noch auch im Kochtopf garzubekommen war. Immerhin, das Großvieh ergab, bis auf Knochen und Blut verwertet, mit Schwanz, Haut, Huf und Kutteln, mächtige Nahrungsberge, welche die Mägen zugleich füllten und peinigten. Dazu kam noch der Zucker und Kaffee Rifaat Berekets, ungefähr ein viertel Pfund auf jeden Haushalt. Der Sud aber wurde immer wieder von neuem aufgekocht, so dass die Kaffeekannen, dem evangelischen Ölkrüglein gleich, nicht leer wurden. Von diesem Trank ging wenn auch nicht Heiterkeit und Zuversicht, so doch eine angenehme Ergebung in die Minute aus. Als beinahe ebenso wichtig erwies sich der Tabak. Ter Haigasun hatte es mit großer Weisheit gegen die widerstrebenden Muchtars durchgesetzt, dass der Löwenanteil, vier ganze Ballen, an die Männer der Südbastion verteilt werde, an Tunichtgute und unsichere Kantonisten also. Sie durften nun im Rauche schwelgen wie nicht einmal in ihren besten Lebenszeiten. Dieses Wohlbehagen sollte es verhindern, dass sie auf unnütze Gedanken kämen. Auch Sarkis Kilikian lag, vom Tabakgenuss völlig ausgefüllt, auf dem Rücken und schien gegen die Weltordnung derzeit nichts einzuwenden haben. Lehrer Hrand Oskanian freilich war Nichtraucher." [128] 

Zu unerwarteter Zeit kehrten die Schwimmer aus Alexandrette zurück. "Am frühen Morgen tauchten die beiden jungen Leute bei der Nordstellung auf. Sie waren glücklich durch die weitgezogenen Patrouillenketten der Saptiehs und Soldaten geschlüpft, die alle Höhenzüge des Musa Dagh seit zwei Tagen umspannt hielten, von Kebussije bis zum Küstendorf Arsus im Norden hin. Der körperliche Zustand der Schwimmer widersprach der Dauer und den Strapazen ihres zehntägigen Abenteuers. Sie waren zwar mager wie Gerippe, aber wie sehnig federnde Gerippe, sonnen- und salzluftfarben. Am sonderbarsten erwies sich ihre Tracht. Der eine trug einen angeschabten, ehemals eleganten Herrenschlafrock aus brauner Wolle, der andre eine weiße Flanellhose und dazu das Wrack eines Smokings aus der mythischen Urzeit dieser Kleidungsart. Beide schleppten je einen schweren Sack mit hartem Militärzwieback auf dem Rücken, das Zeichen eines heroischen Volksdienstes, wenn man an die fünfunddreißig englischen Meilen Gebirgsstrecke zwischen Damlajik und Alexandrette denkt. Erfüllte die Heimkehr der Schwimmer die schnell zusammenströmenden Menschen mit Jubel, so war der Bericht der Boten danach angetan, den allerletzten Hoffnungsschimmer erlöschen zu lassen. Sechs Tage lang hatten sie sich in Alexandrette aufgehalten, ohne dass sich im Außenhafen auch nur die Spur eines Kriegsschiffes gezeigt hätte. An der Reede lagen eine Menge alter türkischer Schepperkasten, Kohlenschuten, Fischerschaluppen und ein vom Krieg überraschter russischer Handelsdampfer. Die riesige Bucht aber, die den rechten Winkel zwischen Kleinasien und Asien bildet, lag leer, so leer wie die Küste im Rücken des Musa Dagh. Seit vielen Monaten hatte niemand in Alexandrette, nicht einmal in der undeutlichsten Ferne auch nur die Ahnung eines Kriegsschiffes zu Gesicht bekommen. Verständlicherweise waren die Jünglinge viel weniger von der Vergeblichkeit als von dem bunten Eifer ihres Unternehmens und der überstandenen Gefahr erfüllt. Sie erzählten im ungeordneten Durcheinander. Eifersüchtig nahm einer dem andern das Wort vom Munde. Sehr ausführlich schilderten sie Tag um Tag ihrer Expedition. Wenn einer eine Kleinigkeit vergaß, wurde der andre ungeduldig. Die Menge aber, ihrer eigenen Lage vergessend, konnte von all diesen Einzelheiten nicht genug bekommen. Manches deutete darauf hin, dass die Schwimmer während ihres langen Ausbleibens auch eine Zeit stattlichen Wohlergehens erlebt haben mussten, wie es auf dem Damlajik nicht mehr vorstellbar war. [129] 

"Jagt hinaus die Türkenrotte" (Victor Hugo), wie die Griechen die Türken aus ihrem Land zum Teufel gejagt hatten, so hätten es sich die Armenier auch gewünscht, doch den Armeniern kamen keine europäischen Kriegsschiffe zu Hilfe wie den Griechen (Seeschlacht bei Navarino, bei der die türkische Flotte versenkt wurde); zu sehen waren immer nur Piratenschiffe, also Schiffe mit roter Halbmondflagge: "Am ersten Tag nach ihrer Nachtwanderung hatten sie, immer auf der Gebirgshöhe, das Ras el Chansir abgeschnitten und waren unbehelligt auf die Küstenstraße gelangt, die von Arsus in die Hafenstadt führt. Einen ganzen Tag verbrachten sie dann auf einem Hügel in der nächsten Umgebung von Alexandrette, wo sie hinter der sicheren Deckung von dichtem Myrtengebüsch unablässig den äußeren Hafen belauerten. In der vierten Nachmittagsstunde etwa zeigte sich etwas schmales Graues, das aus weiter Ferne her in einer scharfen Kielschaumlinie der Küste zustrebte. Jede Vorsicht vergessend, flogen sie in weiten Sprüngen zur Küste hinab, stürzten sich ins Wasser und schwammen, an der hölzernen Landungsbrücke vorbei, in den offenen Hafen hinaus. Sie näherten sich, wie es ihr Auftrag erheischte, dem vermeintlichen englischen oder französischen Torpedoboot, das vor ihren Blicken rasch aufwuchs, in großem Bogen, erkannten aber sehr bald zu ihrem Entsetzen die Halbmondflagge am Heck. Doch auch an Bord hatte man die Schwimmer gesichtet. Schallende Zurufe! Als keine Antwort kam, wurden ihnen von der Besatzung der Inspektionsbarkasse des türkischen Hafenkommandanten, als welche sich ihr Irrtum entpuppte, ein Dutzend Gewehrschüsse nachgepfeffert. Sie tauchten und schwammen eine meisterhaft lange Strecke unter Wasser. Später verbargen sie sich zwischen den zyklopischen Felsen, auf denen die Landungsbrücke errichtet ist. Glücklicherweise war es schon Abend und der Hafen ausgestorben, dennoch konnten sie auf den morschen Planken der Brücke hoch über sich den schallenden Patrouillenschritt des Wachtpostens vernehmen. Da saßen sie nun, vollkommen nackt und nass. Ihre Kleider, ihr Proviant waren dahin. Zum Überfluss begann jetzt noch ein nahes Blinkfeuer jede halbe Minute einmal über ihre Leiber scharf hinzutasten. Sie verkrochen sich, so gut sie konnten. In tiefer Nacht erst wagten sie es, mit Vermeidung der langen Hafenstraße, ans Land zu gehn. Es blieb ihnen keine andre Wahl, als entweder feige auf den Hügeln zu verschmachten, oder sich mutig in die Stadt zu wagen. Es ergab sich vorerst ein Mittelweg. Auf einer parkartigen Anhöhe, die gepflegten Schutz vor der Malaria bot, lagen mehrere große Herrschaftsvillen. Die Schwimmer waren, nach allem, was sie über Alexandrette gehört hatten, überzeugt davon, dass mindestens eine dieser Villen armenischer Besitz sein müsse. Gleich an dem ersten Gartentor gab ihnen das Namensschild, das sie im Mondschein entzifferten, recht. Das Haus aber war verschlossen, ohne Licht, die Laden vernagelt, tot. Die Boten ließen sich nicht abschrecken. Sie waren bereit, einzubrechen, um einen Unterschlupf zu finden. An der Gartenmauer lehnten ein Grabscheit und eine Hacke. Nun begannen sie mit verzweifelten Schlägen auf das Tor loszuarbeiten, ohne zu bedenken, dass ihr Gedonner auch den Todfeind wecken konnte. Doch schon nach wenigen Sekunden rasselte innen das Schloss. Es wurde geöffnet. Ein zitterndes Licht und ein zitternder Mann: »Wer?« – »Armenier! Gebt uns zu essen und versteckt uns, Jesus Christus!« – »Ich kann niemanden verstecken. Sie inspizieren täglich, von oben bis unten, die Saptiehs. Unsere Aufenthaltsbewilligung gilt immer nur für eine Woche. Und jede Woche kostet hundert Pfund. Wenn sie euch bei uns finden, so werden wir auch verschickt.« – »Wir kommen aus dem Meer. Wir sind nackt.« Der Lichtpunkt der Taschenlampe zitterte über die frierenden Körper: »Barmherziger Gott! Herein kann ich euch nicht lassen. Es wäre unser aller Verderben. Aber wartet hier!« Die Minuten zogen sich endlos. Dann wurden den Schwimmern durch den Torspalt zwei Hemden und zwei Decken gereicht. Auch Brot und kaltes Fleisch bekamen sie in großer Menge und dazu jeder noch zwei Pfund. Der schlotternde Volksgenosse aber flüsterte: »Im Namen des Erlösers, bleibt hier länger nicht stehn! Schon hat man euch vielleicht bemerkt. Geht zum deutschen Vizekonsul! Er ist der einzige, der euch helfen kann. Herr Hoffmann heißt er. Ich schicke eine alte Frau mit euch, eine Türkin. Folgt ihr! Aber nicht zu nahe! Und redet nicht!« [130] 

Das Haus des Herrn Hoffmann lag glücklicherweise in demselben Parkviertel. "Der deutsche Vizekonsul erwies sich als ein sehr gütiger Mann, der für die Armenier seines Amtsbereiches mehr zu tun bestrebt war, als er durfte und als in seinen Kräften stand. Er gehörte zu den Mitarbeitern des Generalkonsuls Rößler in Aleppo, der sich von allem Anfang an der Verschickten mit Unerschrockenheit angenommen hatte und der einen Riesenkampf der Menschlichkeit gegen Ittihad, die Staatsräson und gegen die Verleumdung seiner eigenen Ehre auszufechten hatte. Hoffmann nahm die Schwimmer bereitwillig auf, sorgte für sie, gab ihnen ein Zimmer, herrliche Betten und dreimal täglich märchenhafte Mahlzeiten. Er versprach ihnen, sie dürften dieses wunderbare Asyl so lange bewohnen, bis der normale Zustand wieder eintrete. Doch schon am dritten Tage ihres Schlaraffenlebens teilten die Armeniersöhne Herrn Hoffmann mit, dass sie nun die Zeit für gekommen hielten, zu den Ihren auf dem Musa Dagh schleunig zurückzukehren. Zur selben Stunde, da sie ihren gütigen Gastvater von diesem Entschluss in Kenntnis setzten, wollte es eine besondere Fügung, dass Generalkonsul Rößler in Alexandrette eintraf, und zwar mit dem ersten Zug der zwischen Toprak-Kaleh und der Hafenstadt neueröffneten Zweiglinie der Bagdadbahn. Rößler riet den beiden Jünglingen auf das dringendste, Gott für ihre Rettung zu danken und den sicheren Zufluchtsort keinesfalls zu verlassen. Der Gedanke an Entsatz bringende Kriegsschiffe sei nichts als der Wahn von Leuten, die durch ihr Elend verrückt geworden seien. Zum ersten gebe es im nordöstlichen Mittelmeer überhaupt keine französischen Kreuzer. Im Hafen von Zypern sei zwar eine englische Flotte stationiert, diese aber habe den Suezkanal und Ägypten zu bewachen und verirre sich niemals nach dem Norden. Wozu auch? Eine Möglichkeit, an der syrischen Küste Truppen zu landen, bestehe nicht. Zum zweiten aber bedeute die Aufnahme von flüchtigen Armeniern in einem Konsular-Haus einen preisenswerten Glücksfall, der sich klarerweise nur sehr selten ereignen könne. Wirklich helfen freilich könne weder er, Rößler, noch auch sein amerikanischer Kollege in Aleppo, der verehrte Mr. Jackson. Dabei erwähnte der Generalkonsul mit großer Befriedigung, dass es Jackson vor wenigen Tagen gelungen war, einen Armenierjungen zu bergen, der ebenfalls dem Armenierlager auf dem Musa Dagh entkommen sein sollte. Die Schwimmer freuten sich herzlich über Haiks Glück, dankten für die wohlwollenden Ratschläge Herrn Rößlers und Herrn Hoffmanns, erklärten aber dennoch, sie wollten so bald wie möglich den gefahrvollen Weg in ihr Elend zurückwandern. Auf neuerliche Mahnungen, ja Beschwörungen erwiderten sie mit der wortkargen Verlegenheit, in die junge kräftige Männer eine derartige Gefühlsäußerung versetzt: »Wir haben Vater und Mutter oben ... und auch unsre Mädchen ... Das könnten wir nicht aushalten ... Wenn dort das Unglück geschieht und wir sind hier ... am Leben ... und in diesem schönen Haus ...« Am zweiten Tag des neuen Monats ließ Vizekonsul Hoffmann die Schwimmer ziehen, nachdem alle Bekehrungsversuche fehlgeschlagen waren. Da er durch sie von der Brotentbehrung auf dem Damlajik wusste, erwarb er auf einem nicht ganz rechtmäßigen Umweg von der kaiserlich ottomanischen Militärintendantur zwei Säcke mit Dauerzwieback, die er den Heimkehrern mitgab. Seine schönste Tat aber war es, dass er die Konsular-Yayli anspannen ließ. Die Schwimmer mussten sich links und rechts von ihm in den Wagenfond setzen. Neben dem Kutscher in seiner hohen Pelzmütze prangte der uniformierte Khawass und schwenkte langsam, aber unablässig eine kleine deutsche Reichsfahne. Stolz fuhren sie an dem Saptiehposten vorbei, der die Zufahrten der Hafenstadt scharf überwachte. Die Gendarmen nahmen stramm Stellung und salutierten ehrfürchtig dem Vertreter des Deutschen Reiches, der Fahne und ihren zweifelhaften Schützlingen. Herr Hoffmann brachte sie auch noch an dem zweiten Posten bei Arsus vorbei. Dort stiegen die Schwimmer aus und nahmen, ihre Tränen nicht verbergend, von ihrem warmherzigen Gönner Abschied. Dieser Bericht währte länger als eine Stunde, durch Zwischenrufe, Seitenfragen, Abschweifungen und das Einander-ins-Wort-Fallen der Erzähler gedehnt. Es war für alle eine höchst wohltuende Stunde, obgleich der eigentliche Inhalt und Zweck des Berichtes hätte niederschmetternd wirken müssen. Der Botengang war vergeblich gewesen. Die Hoffnung auf Entsatz vom Meere her hatte sich als tollhäuslerische Phantasieausgeburt entlarvt. Und doch zitterte ein sanfter Lichtblick über den Menschen, die sich um die Helden in einem weiten dichten Kreis gelagert hatten. Die Schwimmer saßen auf der Erde, und die Ihrigen waren, um ihren Anspruch kenntlich zu machen, ganz nahe an sie gerückt. Die Väter hörten mit sachgemäßer Miene zu, die zum Ausdruck brachte: Recht gut! Ungefähr so und vielleicht noch ein wenig klüger hätten wir uns auch verhalten." [131] 

Am sechsunddreißigsten Tag des Lagers und am vierten des Septembermonats hatte man des Morgens an jede Familie die vorschriftsmäßige Portion Eselfleisch ausgegeben. "Niemand aber wusste, ob es nicht das letztemal sei. Zugleich meldeten alle Beobachtungsstände, dass die Dörfer und die ganze Talsohle so belebt seien wie noch nie. Doch nicht nur neues Militär und neue Saptiehs bewegten sich dort, sondern eine Menge von neugierigem Gesindel habe sich wieder aus den muselmanischen Ortschaften zusammengerottet. Die Ursache dieser Neugier entpuppte sich schnell. Als Samuel Awakian, mit Gabriels Feldstecher ausgerüstet, die große Kuppe erstieg, um die Lage aufzuklären, stürzten ihm die Beobachter erregt entgegen. Etwas ganz und gar Neuartiges hat sich ereignet. Die meisten der Dorfbewohner sahen ein solches Ding zum erstenmal. Es hielt gerade auf der großen Straße von Antakje nach Suedja am Ortseingang des Fleckens Jedidje, wo es von einer kleinen Abteilung Kavallerie erwartet wurde. Awakian erkannte in seinem Fernglas ein kleines graues Militärautomobil, das die Bergengen bei Ain el Jerab mit Todesverachtung überwunden haben musste. Drei Offiziere kletterten aus dem Wagen und bestiegen die für sie bereitgehaltenen Pferde. Die kleine Reiterschar bog sogleich ins Dörfertal ein. Voran trabten die Offiziere, hinterher die Kavalleristen, in einigen Minuten schon mussten sie Wakef erreichen. Der mittlere Offizier war den zwei anderen stets um eine halbe Pferdelänge voraus. Während diese die üblichen Astrachanmützen trugen, hatte er eine feldgraue Kappe auf dem Kopf. Deutlich sah Awakian die roten Generalstreifen an seinen Reithosen. Die Kavalkade durchtrabte ohne Aufenthalt die Dörfer. Kaum eine Stunde brauchte sie, um Yoghonoluk zu erreichen. Auf dem Kirchplatz wurden der General und seine Begleitoffiziere von einigen Herren schon erwartet. Ohne Zweifel war es der Kaimakam von Antakje, der mit dem Müdir und anderen Beamten den Generalpascha samt seinem Gefolge in die Villa Bagradian führte. Das große Ereignis wurde sofort dem Befehlshaber gemeldet. Samuel Awakian ließ auf eigene Verantwortung den großen Alarm verkünden. Gabriel billigte diese Maßregel nachher. Er verstärkte sie sogar, indem er anordnete, dass von Stund an das Lager für alle Zeit unter Alarm stehe, gleichgültig, ob sich irgend etwas ereigne oder nicht. Awakian aber verriet er seine Überzeugung, dass die Türken noch lange nicht fertig seien und dass sich weder heute noch morgen, wahrscheinlich auch in den nächsten Tagen nichts ereignen werde. Die Tatsachen schienen ihm recht zu geben. Nach zweistündigem Aufenthalt in der Villa bestiegen die fremden Offiziere ihre Pferde und verritten in noch schärferem Trab als bei der Ankunft nach Jedidje. Sie hatten kaum einen halben Tag auf dem Kriegsschauplatz geweilt, als der kleine, verzweifelt ratternde Kraftwagen sie wieder nach Antakje entführte. Der Kaimakam begleitete die Herren in seine Hauptstadt zurück." [132] 

Die Steineichenschlucht war noch immer ein einziger Ofen voll glühender Kohlen. "Diese Heizung spürte man in der Stadtmulde nach wie vor, wo sie zumeist gegen Abend die Gemüter aufstachelte. Gleichviel, die schwächste Stelle der Linie war nun vor Angriffen geschützt, für immer. Und nicht in diesem größten Einschnitt des Damlajik, sondern auch weit umher auf den Hängen, Buckeln, Vorhügeln gloste es unter den zusammengebrochenen Strünken weiter. Hier hatte eine gnädige Hand alles zugunsten der Armenier gelenkt. Bagradian löste die Besatzungen der überflüssig gewordenen Abschnitte endgültig auf und schuf dafür eine starke Postenkette, die den Bergrand vor Überraschungen und türkischen Kundschaftern zu sichern hatte. Den vorhandenen Möglichkeiten und Anzeichen nach zu schließen, beruhte die Absicht der Türken auf einem von zehnfacher Übermacht geführten Generalstoß im Norden, der, von Artillerie wahrscheinlich unterstützt, die verbrauchten Armeniersöhne aufreiben sollte. Unablässig schallten die Axthiebe. Trotz dieser eindeutigen Zurüstungen aber war Bagradian vorsichtig genug, eine Spähergruppe auch in den südlichen Raum vorzuschicken. Diese mutigen Burschen wagten sich am Abend bis nach Suedja hinein. Sie meldeten, dass nur ganz wenig Militär und fast gar keine Saptiehs in der Orontes-Ebene lägen. Alle Truppen seien im Dörfertal zusammengezogen. Die Felsbastion und ein neuer Steinschlag schien den Türken trotz ihres Generals noch immer einen heillosen Respekt einzuflößen... Am nächsten Tag visitierte Gabriel Bagradian die Südbastion, wie er sich's vorgenommen hatte. Vorher aber machte er bei der Haubitzenstellung halt. Die Geschützrohre waren nach entgegengesetzten Seiten gerichtet, das eine auf die Nordhöhen, das andre nach Suedja. Gabriel hatte noch in den Tagen vor Stephans Tod die Elemente nach seiner Karte ermittelt. Es war immerhin möglich, den Anmarsch des Feindes zu stören und aufzuhalten. In den Geschossverschlägen fanden sich noch vier Schrapnells und fünfzehn Granaten. Die Geschütze hatten eine Wache und Bedienung von acht Mann, die durch Nurhan Elleon in den einfachsten Handhabungen wie Vorführen, Sporenwerfen, Geschosszubringen, Schnurabziehen und so weiter notdürftig ausgebildet worden waren. Tschausch Nurhan, Awakian und einige Abschnittsführer begleiteten Gabriel auf seinem Inspektionsgang. Die ersten Eindrücke, die diese Männer im Gebiet der Südbastion empfingen, waren weiter nicht verdächtig. Sarkis Kilikian hatte es sich nach seiner Haftentlassung sogar angelegen sein lassen, die Maschinerie der Sturmwidder noch weiter zu verbessern. Die mächtigen Stoßschilde waren durch strahlenförmig über den Rand greifende Ruder vergrößert. Der Anprall der Schilde konnte nun eine weit umfangreichere Fläche der lockeren Mauern erfassen. Auch waren die Platten selbst verdoppelt und durch reichlichen Eisenbeschlag und starke Klammern gesichert. Wenn man dem gedrungenen Anblick trauen durfte, so waren diese Katapulte imstande, Blöcke von Zentnergewicht bis in die Ruinen von Seleucia zu schleudern. Kilikian schien sich für nichts andres als für dieses düstere Spielzeug zu interessieren. Es war ein kindhafter Zug, dieser Anfall von verbohrtem Eifer, mit dem er immer wieder an den Mauerbrechern herumarbeitete.... In den Stellungen der Südbastion fanden die Visitierenden keine grobe Fahrlässigkeit. Der Dienst war nach den Gesetzen der Zehnerschaftsordnung eingeteilt, die Posten waren besetzt, die vorgeschobenen Feldwachen lagen am Rande der großen Steinhalde. Auch der Zustand der Gewehre ließ nichts zu wünschen übrig. Und doch hatte die Haltung dieser Mannschaft, trotz aller oberflächlichen Ordnung, etwas Unbestimmtes, Träges, Verdächtiges, das Tschausch Nurhans Unwillen herausforderte. Die Besatzung bestand aus elf Zehnerschaften, etwa fünfundachtzig Männer zählten zu den Deserteuren. Nicht alle unter diesen waren zweifelhafte Gesellen, im Gegenteil, die Mehrzahl setzte sich aus recht harmlosen Ausreißern zusammen, die vor drohender Misshandlung, Bastonade oder Straßenarbeit durchgegangen waren. [133] 

Familienmütter mussten sich in den nächsten Tagen selbst nach Nahrung umschauen. Sie mussten jetzt versuchen, aus allerhand Pflanzen, aus Arbutuskirschen, Eicheln, Feigenkaktus, Wildbeeren, Wurzeln und Blättern eine Brühe herzustellen. Eine kleine Weile später ergoss sich dann die ganze Schar strahlenförmig über das Plateau des Berges, verteilte sich zwischen den Felsen der Steilseite und wagte sich sogar in die grünen Lücken der Talseite, die der große Brand übersprungen hatte. Die Kinder liefen mit, darunter auch Drei- und Vierjährige, die den Müttern immer wieder zwischen die Beine gerieten und die Arbeit hemmten. Ja, hätte man wie früher über den Nordsattel hinausgehen können, dann wäre noch Hoffnung vorhanden gewesen, irgendwelche nahrhaften Überraschungen anzutreffen. Das Revier innerhalb der Verteidigungsgrenzen aber war ausgesogen und abgenagt wie der Beuteknochen eines wilden Hundes. Ein Teil der Frauen durchstreifte zum hundertstenmal die Arbutus- und Heidelbeerplätze, um das Überbleibsel früherer Pirschgänge aus dem Gedörn zu raufen. Andre versuchten auf den Felswänden jene seltenen Stellen zu erklettern, wo der Feigenkaktus wuchs, dessen große fleischige Früchte als höchste Kostbarkeit galten. [134] 

Gabriel Bagradian zur Strategie der Verteidigung: »Die Verfassung der Zehnerschaften ist nicht viel schlechter als vor dem letzten Kampf. Erstaunlich genug, doch es ist so, und Tschausch Nurhan wird es bestätigen. Die Verteidigungswerke sind aber viel stärker und besser als damals. Die Angriffsmöglichkeiten der Türken haben sich sehr verringert. Im großen und ganzen bleibt ihnen nur der Norden übrig, und alle Vorbereitungen beweisen das auch. Die Bastion werden sie trotz ihres Generals nicht anzugreifen wagen, das ist so gut wie sicher. Mit der Besatzung dort kann man, wie wir alle wissen, keine besondere Ehre aufstecken. Ich beabsichtige aber, Tschausch Nurhan für ein oder zwei Tage hinzuschicken, damit er Ordnung mache. Der Angriff der Türken im Norden wird furchtbarer sein als alle früheren zusammengenommen. Es handelt sich darum, ob und wieviel Artillerie sie haben. Wir konnten es bisher noch nicht erkunden. Davon hängt alles ab. Das heißt, wenn wir nicht ein neues Mittel ergreifen ... doch davon werde ich später sprechen ...« Ter Haigasun, der nach seiner Art mit gesenktem Haupt und in fröstelnder Haltung zugehört hatte, konnte die große Frage nicht unterdrücken: »Gut, aber was dann?« , von einem brennenden Durst nach dem Ende und der Befreiung erfüllt, erhob seine Stimme viel zu hallend für den dumpfen Raum: »Bedenken wir doch! In dieser Stunde stehen Millionen Männer der ganzen Welt im Schützengraben, wie wir. Sie erwarten den Kampf oder sie kämpfen, bluten, sterben, wie wir. Dies ist der einzige Gedanke, der mich beruhigt und tröstet. Wenn ich daran denke, dann bin ich nicht schlechter, nicht ehrloser als einer von diesen Millionen. Und so wie ich, wir alle! Wenn wir kämpfen, sind wir nicht mehr Kot, der irgendwo am Euphrat verfault. Wenn wir kämpfen, haben wir Ehre und Würde. Deshalb dürfen wir nichts andres vor uns sehn und nichts andres wollen als den Kampf.« ... Gabriel Bagradian improvisierte in gewissem Sinne ähnlich wie der Pastor. Auch er hatte diesen Einfall, den er jetzt mit aller Schärfe entwickelte, nachts unter anderen Einfällen hin und her gewendet, ohne ihn noch ganz ernst zu nehmen. Aber dies ist nun einmal so: Wird eine Idee oder eine Absicht in Worte gefaßt, so gewinnt sie damit schon die erste Stufe der Wirklichkeit und ein eigenes Schwergewicht. Er wandte sich an Nurhan Elleon, an Schatakhian und all diejenigen, von denen er Unterstützung erwartete: »Es gibt ein altes Mittel, das alle Belagerten seit je anwenden ... Die Türken haben ihr Lager auf den Musa Dagh verlegt. Wenn sie auch sechs oder acht Kompanien haben sollten und Gott weiß wieviel Saptiehs, so brauchen sie doch einen großen Teil dieser Truppen, um den Berg abzuriegeln. Ihr müsst euch nur ausrechnen, wie groß die Strecke von Kebussije etwa bis Arsus ist. Es ist klar, dass sie uns aushungern wollen und dass sie deshalb mit ihrem großen Angriff noch ein paar Tage warten werden. Das beweist auch die Abreise ihres Generals, der den Angriff leiten soll. Wie wichtig sind wir ihnen! ... Ich nehme an, dass dieser General mit seinen Offizieren, dem Kaimakam und vielleicht noch andren hohen Persönlichkeiten sehr bald zurückkehren und in meinem Hause wohnen wird ... Also, ich will einen Ausfall versuchen, verstehst du, Ter Haigasun? Folgendermaßen! Wir werden aus den besten Zehnerschaften eine Überfallgruppe zusammenstellen. Ob es vier- oder fünfhundert Mann sein sollen, das weiß ich noch nicht. Bis heute abend werde ich die ganze Unternehmung genau ausgedacht und berechnet haben. Zwischen den Brandstellen gibt es Wege genug, um ins Tal zu kommen. Sie müssen genau ausgekundschaftet werden. Meines Wissens aber hat das Militär unten nur Patrouillen aufgestellt, die in der Nacht das Tal und die Vorberge abstreifen. Man muss da eine Streifungspause erwischen, was nicht schwer ist. Um zwei oder drei Uhr Mitternacht überfallen wir ... wie? ... nein, nicht Yoghonoluk, so weit kommen wir gar nicht ... wir überfallen mit unserer ganzen Übermacht mein Haus. Die Zahl der Schutzmannschaft dort wird natürlich vorher ausgeforscht werden. Außer den Offiziersdienern rechne ich allerhöchstens mit einem Zug Infanterie oder Saptiehs. Die Torwachen werden niedergemacht, Garten und Stallungen schnell besetzt. Alles Nähere gehört übrigens nicht hierher. Es ist meine und Tschausch Nurhans Sache. Mit Gottes Hilfe werden wir den General, den Kaimakam, den Müdir, den Jüsbaschi und die anderen Offiziere gefangennehmen. Wenn uns die volle Überrumpelung glückt, so können wir binnen zwei Stunden die mächtigen Herrschaften sowie eine Menge Tragtiere und vielleicht sogar Mehl und Proviant in der Stadtmulde haben.« [135] 

Nun war er da, der vierzigste Tag auf dem Musa Dagh, der achte des Septembermonats und der dritte des uneingeschränkten Hungers. "Im Gegensatz zu dem Lagervolk besaßen die Männer in den Stellungen draußen noch Leben und Tatkraft genug. Auch sie waren alles eher als satt. Das ausgeteilte Fleisch und die Konserven des Hauses Bagradian reichten nicht hin, um den Hunger auch nur in bescheidenem Maße zu stillen. Die Entbehrung aber erregte die Verteidiger in eigentümlicher Weise, sie erzeugte ein trunkenes Verlangen nach Kampf, nach Entscheidung. Die neue Ordnung der Dinge hatte den Vorteil, dass Gabriel Bagradian den nächtlichen Handstreich vorbereiten konnte, ohne sich darum zu kümmern, ob sich das Volk entschließen werde, den Damlajik zu verlassen. Seiner Leute war er sicher. Und heute nacht wollte er den großen Schlag führen. Der Vorstoß ins Tal war aufs peinlichste durchdisponiert. Nichts hatte er vergessen. Jeder Mann und jede Minute waren eingeteilt und ausgenützt. Gabriels gelehrter Hang zum Theoretischen überließ nichts dem Glück. Immer neue Widerstände erfand er, immer wieder setzte er eine Möglichkeit gegen die andre. Die Rückzugslinie der eigentlichen Überrumpelungsgruppe war durch ein fein ausgeklügeltes System von Komitatschis gesichert, die ihre Posten schon drei Stunden vor der Unternehmung beziehen sollten. Doch nicht genug damit! Gabriel Bagradian entschloss sich, die Türken auf den Nordhöhen den ganzen Tag über durch Scheinangriffe und jähe Feuerüberfälle in Unruhe zu versetzen, damit sie so viel Truppen wie möglich vom Tal abziehen müssten. Unerwarteterweise kamen die Türken seinen taktischen Wünschen entgegen. Ihre Vorbereitungen ließen unschwer darauf schließen, dass sich binnen vierundzwanzig Stunden alles entschieden haben musste. Auf den Höhen jenseits des Sattels herrschte das Leben des Stellungskrieges vor einer Offensive. Die Armeniersöhne konnten drüben zwischen Bäumen und Strauchwerk ängstlich vorzögernde Reihen von Infanteristen beobachten, die auf ihren Schultern dicke entlaubte Baumstämme schleppten, welche sie auf den Höhenrand hinpoltern ließen. Ohne Zweifel sollten diese glatten mächtigen Stämme als bewegliche Deckungen dienen, wenn die Schwarmlinien zum Angriff vorkrochen. Bagradian und Tschausch Nurhan gingen im vordersten Graben von Mann zu Mann, die Gewehraufsätze auf die richtigen Entfernungen hin prüfend. Wenn sich auf der Gegenseite einer der Türken zu weit zwischen den Bäumen vorwagte, gaben sie vereinzelte Schussbefehle. Auf diese Weise fielen bis zur Mittagsstunde einige Feinde. Die tödliche Kugel wurde jedesmal mit einem wilden regellosen Feuer beantwortet, das über die Köpfe der Verteidiger hinwegfuhr oder in den Steinhaufen des Schanzwerks steckenblieb. Die Kämpfer sahen mit wildem Stolz, dass die neuen Sicherungen so stark waren, dass sie nur durch Artillerie zusammengeschossen werden könnten. Für das Vorhandensein dieser Artillerie sprach aber noch immer kein Anzeichen. Die seltsame Trunkenheit des Hungers erzeugte bei den Armeniersöhnen Tollheitsausbrüche. Sie wollten mit allen Mitteln die Türken zu einem Angriff herauslocken. Sie kletterten aus den Gräben, sie tanzten auf der Deckung, manche wagten sich weit ins Hindernisfeld vor; Tschausch Nurhan und die Unterkommandanten hatten alle Mühe, die Ungebärdigen vor verrückten Wagnissen zurückzuhalten. Die Türken ließen sich nicht herausfordern. Dem Anschein nach waren sie durch die lebenstolle Wildheit derer, die man ihnen als Halb- und Ganzverhungerte geschildert hatte, aufs äußerste betreten. Und als dann gar ein Teil der im Gefelse postierten Zehnerschaften auf eigene Faust vorbrach, eine Türkenpatrouille zusammenschoss und ungehindert wieder zurückkehrte, da hatten die Regierungstruppen neuerdings den klaren Beweis dafür, dass es bei der verfluchten Rasse nicht mit rechten Dingen zuging." [136] 
 

18. Brigadegeneral der ottomanischen Armee ("Ziegenmilchpascha"); Vierundzwanzig-Zentimeter-Geschütze des französischen Kreuzers vor der Küste 

Generalmajor Ali Risa Bey war einer der jüngsten Brigadegenerale der ottomanischen Armee, noch nicht vierzig alt. Er hatte sich schon in Libyen und im Balkankrieg als Frontoffizier ausgezeichnet und gehörte jetzt zum engsten Mitarbeiterstab Dschemals. Ali Risa war jedoch äußerlich und innerlich das gerade Gegenteil seines Chefs, des malerischen Diktators von Syrien. Er vertrat gewissermaßen den allermodernsten und westlichsten Kriegertypus, den es gab. Man musste ihn nur sehen, wie er zur Stunde im Selamlik der Villa Bagradian auf und ab ging, während die Offiziersversammlung um ihn kleinlaut und erstorben seinen schlanken Schritten folgte. Der ganze Unterschied wurde klar, wenn man den jungen General etwa mit dem verwundeten Jüsbaschi verglich, der, den Arm noch immer in der Schlinge, in vorschriftsmäßiger Haltung auf eine Anrede seines Vorgesetzten wartete. Der Major mit seinen zigarettengebräunten Fingern und den abgelebten Zügen hatte, an Ali Risa gemessen, etwas Trübes, um nicht zu sagen Schmutziges. Jetzt stieß der General unmutig die Fenster des Salons auf, um die dichten, von den Offizieren erzeugten Rauchwolken zu verjagen. Er rauchte nicht, er trank nicht, er liebte weder Weib noch Mann, die Sage ging, dass er sich seines schwachen Magens wegen ausschließlich von roher Ziegenmilch nähre, ein durchsichtiger Asket des Krieges. In diesem Augenblick trat ein Onbaschi ein und überreichte ihm einen Dienstzettel. Der General warf einen Blick auf die Meldung und zog seine dünnen blassen Lippen ein: »Wir haben im Norden durch einen Ausfall der Armenier Verluste gehabt ... Ich werde den Kompaniekommandanten gründlichst zur Verantwortung ziehn ... Die Herren hier mögen es sich alle zu Gemüte führen ... Ich habe Seiner Exzellenz versprochen, dass bei der ganzen Aktion nicht ein einziger Mann auf unsrer Seite geopfert werden soll ... Wir heben ein Lager von Verbrechern auf, alles andre wäre eine unabsehbare Schmach ... Schändlich genug, dass es so weit gekommen ist.« Seit zwei Tagen schon erwartete man ungeduldig die Ankunft der Gebirgskanonen, die in Aleppo ausgeladen worden waren. Da dieser Transport aber nicht über Antakje, sondern über Beilan und das schwierige Gebirge ging, so verzögerte er sich endlos. Der General war daher gezwungen gewesen, den Hauptschlag von heute auf morgen zu verschieben. »Jüsbaschi! Ich gebe Ihnen heute Gelegenheit, Ihre schwere Schlappe gutzumachen ... Das wird aber nur dann der Fall sein, wenn Sie keine Verluste erleiden werden. Sie sind mir für jeden Verwundeten Rechenschaft schuldig. Ich bitte, sich danach zu richten ... Ist also die Situation mit den Deserteuren vollkommen aufgeklärt?« Der Jüsbaschi machte eine nachdrückliche Bewegung mit dem verletzten Arm, als weise er darauf hin, dass er mehr als seine Pflicht erfüllt habe: »Ich selbst, Herr General, bin gestern dicht vor den Seitenstellungen über Habaste gewesen. Sie waren ganz leer. Das Pack hält die Deckungen nicht mehr besetzt. Es war eine Stunde vor Sonnenuntergang ...« »Gut! Und Ihre vier Kompanien?« »Ich glaube, dass der unsichtbare Aufmarsch in der Nacht vollkommen gelungen ist. Nicht eine Laterne hat gebrannt. Die Truppen haben sich gestern während des ganzen Tages nicht aus Habaste gerührt. Jetzt liegen sie unter den Felsen in einer völlig versteckten Stellung. Auch die drei Maschinengewehre meiner Gruppe.« [137] 

Die Türken und die gesamte ottomanische Armee kämpfte nicht unter dem Kreuz, sondern unter dem Zwang eines Dämon, dem islamische Götzen Allah, quasi "ein Teufel von Gott": »Was für ein Teufel von Gott müsste das sein, der seinem frommen Armeniervolk dieses Jahr zubereitet hat ...« [138] 

Da es noch keine Funkgeräte und Handies gab, wurden Telefonleitungen verlegt: "Dem jungen Offizier war das Kunststück gelungen. Er hatte eine Feldtelefonleitung gelegt, natürlich nicht bis in die Villa Bagradian, so viel Draht war wahrscheinlich bei der ganzen Vierten Armee nicht vorhanden, sondern nur vom Dorf Habaste bis etwa vierhundert Fuß unterhalb der Südbastion. Bei den Schwierigkeiten des felsigen Geländes und der mangelhaften Ausbildung der Truppe eine ansehnliche Leistung. General Ali Risa Bey hatte sich am Nachmittag, für die Beobachteraugen des Damlajik als Zivilist verkleidet, höchstpersönlich nach Habaste begeben. Die Sonne war gerade untergegangen, als der plumpe Telefondraht auf dem Tischchen vor ihm zu summen begann. Es dauerte sehr lange, und man musste noch vielerlei technische Probleme lösen, ehe sich auf der anderen Seite die Stimme des Jüsbaschi klärte. Dann aber war's eine helle Stimme, die trotz der unzulänglichen Stromleitung stolze Genugtuung nicht verkennen ließ: »Herr General, ich melde gehorsamst, der Berg ist in unserem Besitz.« Ali Risa Bey, mit dem klaren Gesicht des Nichtrauchers und Nichttrinkers, lehnte sich, die Muschel am Ohr, auf seinem Klappstuhl leicht zurück: »Wieso der Berg, Jüsbaschi? Sie meinen das Südende des Berges.« »Jawohl, Effendi, das Südende des Berges.«... »Die dritte Kompanie und zwei Maschinengewehrabteilungen halten die nächste Kuppe besetzt, etwa fünfhundert Schritt von meinem Hauptstandort.« »Wir haben hier unten Maschinengewehrfeuer gehört. Was hat das zu bedeuten?« »Nur eine kleine Demonstration ...« 
»Diese Demonstration war höchst überflüssig und schädlich ... Die Truppen sollen bleiben, wo sie sind, und sich gut sichern.« Die Stimme am andern Ende klang jetzt ganz heimtückisch: »Die Truppen bleiben, wo sie sind. Ich werde um eine schriftliche Ausfertigung dieses Befehles bitten, Effendi! ... Und morgen?« »Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang beginnt sich die Artillerie im Norden einzuschießen. Richten Sie Ihre Uhr genau nach der meinen, Jüsbaschi! ... So! ... Ich werde knapp nach Sonnenaufgang bei Ihnen oben sein und die Sache vom Süden aus führen. Basta!« Der Jüsbaschi oben auf dem Berg warf, zähnebleckend, die Hörmuschel hin: »Zum Kehraus kommt er, dieser Ziegenmilchpascha. Und dann wird er der Sieger des Musa Dagh sein!« [139] 

Die Türken haben wahrscheinlich die Südbastion besetzt. "Sie führen Maschinengewehre mit sich. Das Lager brennt zusammen. Was hat zu geschehn? Eine neue Verteidigungslinie, die ihnen den Weg abschneidet, so gut es geht! Vor allem aber, das Lagervolk muss von der Bergfläche fort, hinunter ans Meer. Dann zu den Haubitzen! Awakian näherte sich ihm. Er schrie ihn an: »Was suchen Sie noch hier? Schnell zu Nurhan! Er hat sich nicht fortzurühren. Alle Zehnerschaften, die ich für den Überfall aufgestellt habe, sofort zu mir! Auch die Hälfte der Ordonnanzen und Späher. Wir müssen sofort eine neue Linie bilden, mit Kopfdeckungen wenigstens.« Awakian zögerte, wollte noch Fragen stellen, doch Gabriel stieß ihn von sich und trat mitten unter das erstarrte Volk: »Warum verzweifelt ihr, Brüder und Schwestern? Kein Grund dazu! Wir haben noch immer siebenhundert Kämpfer und Gewehre und die beiden Geschütze. Ihr könnt ruhig sein! Es ist besser für die Verteidigung, wenn die Gemeinden sich in dieser Nacht unten an der Küste lagern. Die Männer der Reserve aber bleiben hier!« Nun hatten sich auch die Muchtars wieder gefasst. Ter Haigasun erteilte ihnen den Befehl, ihre einzelnen Dörfer zu sammeln und geschlossen den Steilpfad hinabzuführen. Er selbst werde vorangehn, um die besten Lagerplätze ausfindig zu machen. ... Gabriel Bagradian überließ die Auflösung des Lagers Ter Haigasun. Keine Sekunde durfte mehr versäumt werden, denn wer weiß, wie weit sich die Türken trotz der Nacht vorwagten. Die Haubitzen waren in Gefahr. Auch das Lumpenpack der Deserteure bildete ein großes Fragezeichen. Vorwärts! Jetzt galt es nicht, die Lage genau zu durchdenken, sondern einfach zu handeln, blind und entschlossen. Gabriel packte alles zusammen, was sich an Bewaffneten und Halbbewaffneten, an Jungen und Alten um ihn versammelt hatte. Selbst die kleineren Buben mussten mit. Windstille war eingetreten. Der scharfe Holzqualm drückte auf die Menschen nieder. Der Gestank von verbrannten Stoffen mischte sich drein. Man konnte kaum atmen, die Augen tränten. Gabriel gab den Aufbruchbefehl. Er und Schatakhian, der sich mittlerweile eingefunden hatte, schritten der breit entwickelten Schützenlinie voran. Hinter ihnen trabten die müden Männer, hundertfünfzig an Zahl, darunter ein Drittel Sechzigjährige. Und diese elende verhungerte Gesellschaft sollte vier kriegsmäßige Kompanien mit Maschinengewehren, unter dem Kommando von einem Major, vier Hauptleuten, acht Oberleutnants, sechzehn Leutnants siegreich zurückwerfen? Es war gut, dass Bagradian die Stärke des Feindes nicht kannte. Doch wäre sie ihm auch bekannt gewesen, er hätte nicht anders handeln können. Sein Kopf wurde immer größer und empfindlicher. Die Beine hingegen hatten jedes Gefühl verloren. Es war ihm, als ging er neben sich selbst.... Samuel Awakian war mit den Mannschaften der Überfallsgruppe längst zu Gabriel gestoßen. Eine Stunde kostete es, und dann dehnten sich ein paar schüttere Schwarmlinien in zwei Reihen quer über die Kuppe und die faltenreiche Bergfläche bis in die Buschwerkzone und die Felsen hinein. Auch die tapferen Männer der Nordstellung waren ans Ende ihrer Kräfte gelangt. Was konnte man da von den alten Leuten der Reserve fordern? Hingeworfen wie morsches Holz lag jeder auf der Stelle, wohin man ihn befohlen hatte, ohne zu wachen, ohne zu schlafen. Der Befehl, aus Steinen und Erde eine Deckung für den Kopf aufzuschichten, wurde kaum mehr befolgt. Nachdem Gabriel von Mann zu Mann die ganze hoffnungslos lange Front abgeschritten war und vor dieser Front noch eine lose Postenkette aufgestellt hatte, begab er sich zu den Haubitzen. Er hatte jeden Punkt des Damlajik im Kopf, jede Distanz und jede Ortsbeschaffenheit. Er konnte daher die Schusselemente für den Raum der Südbastion in seinem Notizbuch genau bestimmen.... Die letzten Stunden vor dem Morgen dehnten sich unerträglich. Mit zusammengebissenen Zähnen durchlauerte Bagradian die zergehende Finsternis. Im ersten Zwielicht stellte er das Geschütz auf die Südbastion ein. Der dicke Morgennebel dieses windstillen Tages zerriss lange nicht. Ganz plötzlich war eine rote zornige Sonne da. Gabriel kniete, wie es sich gehört, rechts von der ersten Haubitze und zog inbrünstig die Zündschnur ab. Der furchtbare Knall, das wilde Zurückfahren der Lafette, Feuer und Dampf, das Verheulen in der Luft, die kristallharten Sekunden bis zum Einschlag der Granate im Ziel, dies alles war wie Erlösung. Mit dem Haubitzschuss entlud sich zugleich die unermessliche Spannung in der Seele des Feuerwerkers. Aus welchem Grunde begann der umsichtige Feldherr des Damlajik seine unersetzlichen Granaten zu verpulvern, noch ehe der türkische Angriff ins Rollen gekommen war? Wollte er den Feind wecken oder schrecken? Wollte er den Eigenen Mut machen? Hoffte er, mit diesem Feuer unter den türkischen Kompanien derartige Verheerungen anzurichten, dass sie nicht mehr vorzuschwärmen wagen würden? Nichts von alledem! Gabriel Bagradian löste den ersten Schuss aus keinem taktischen Grunde, sondern nur, weil er das Warten nicht länger ertrug. Es war sein Schmerz- und Trotzruf, halb ein Hilfe- und halb ein tragischer Jubelschrei, weil die Nacht zu Ende war. Doch nicht nur er, all die entkräfteten und krummgefrorenen Männer der Schützenlinie empfanden gleich ihm. Sie horchten mit verzerrten Gesichtern auf die Antwort, die nun kommen musste. Die vorgeschobenen Posten erklommen die nächste Höhe, um einen weiteren Ausblick zu haben. Doch so weit sie die Faltungen der Hochfläche übersehen konnten, lag der Damlajik tot vor ihnen. Noch schienen die Türken ihre Grundstellung nicht verlassen zu haben, auch im Norden nicht. Aber die Antwort kam. Einige Zeit verging, ehe sie erfolgte, und Bagradian konnte in dieser Frist noch zwei Schüsse lösen. Dann krachte der tiefe, ungeheure Donnerschlag. Niemand verstand ihn. Hoch oben erhob sich ein Eisenrauschen, das die Gebirge vom Amanus bis zum El Akra zu erfüllen schien. Der Einschlag polterte fernab. Es musste in der Orontesebene sein. Der große Donner aber hatte sich von der See her erhoben." [140] 

Es löste ein Vierundzwanzig-Zentimeter-Geschütz des »Guichen« den gewaltigen Schuss gegen Suedja, der den Türken Halt befahl. "Dem General, dem Kaimakam, dem Jüsbaschi schmetterte dieses Halt in die Seele. Die Herren hatten sich vor einigen Minuten auf dem Standort des Majors zusammengefunden, auch der dicke leberkranke Kaimakam, für den das Frühaufstehn und die Bergbesteigung ein außerordentliches Opfer bedeutete. Die vier Kompaniekommandanten umgaben den Jüsbaschi, um persönlich den Vorrückungsbefehl entgegenzunehmen. Die Kundschafter hatten während der Nacht vorzüglich gearbeitet. Die neuen Zufluchtsstätten des Lagervolkes an der Steilküste waren einwandfrei aufgeklärt. Auch wusste man, dass zwei schüttere, schlechtgedeckte Schützenlinien den Damlajik gegen Süden abriegelten. Auf Befehl Ali Risas sollten deshalb nur zwei Kompanien mit Maschinengewehren gegen diese schwachen Linien eingesetzt werden, und zwar zur selben Zeit, sobald im Norden die Gebirgsartillerie die armenischen Gräben einzutrommeln begann. Der Kaimakam und der Jüsbaschi waren überzeugt, dass in einer Stunde ungefähr der Widerstand gebrochen sein werde. Dann sollten sich die Nord- und Südgruppe vereinigen, um gemeinsam das Lager am Meer auszuheben. Ein Entkommen gab es nicht mehr. Die erste Granate aus den Haubitzen Gabriel Bagradians schlug in die Steinhalde unterhalb des Felsturms, die zweite wich noch weiter ab, die dritte aber ging ziemlich in der Nähe der Offiziersgruppe nieder. Sprengstücke und Steinsplitter durchsangen die Luft. Zwei Infanteristen lagen wimmernd auf der Erde. Der Jüsbaschi zündete sich gemächlich eine Zigarette an: »Wir haben Verluste, Herr General ...« Das junge durchsichtige Gesicht Ali Risas war tiefrot geworden. Seine Lippen wurden noch schmäler als sonst: »Ich befehle Ihnen, Jüsbaschi, dass dieser Bagradian nicht getötet, sondern mir persönlich vorgeführt wird.« Kaum hatte er diese Worte zu Ende gesprochen, erhob sich der haltgebietende Donner. Die Herren stürzten zu den westlichen Sicherungsschanzen, von denen man das Meer weit übersehn konnte. Blaugrau und fest saß der »Guichen« mit seinen vier Schloten wie eingefroren auf der bleiernen Flut. Eine schwarze Qualmwolke lag über den Schloten. Der Mündungsdampf des Geschützes hatte sich schon verzogen. Der Kommandant schien nur einen Schreckschuss gegen die Orontesebene abgegeben zu haben. Als erster fand der Kaimakam seine Stimme wieder. Sie bebte vor Erregung: »Damit wir uns verstehn, General! Sie befehligen die militärische Assistenz. Die Entscheidung liegt aber bei mir.« Ali Risa betrachtete, ohne zu antworten, den »Guichen« durch sein Fernglas. Der Kaimakam aber, der sich sonst in großen Augenblicken meist abwartend verschlafen benahm, verlor diesmal seine Ruhe: »Ich fordere Sie auf, General, die Operationen sofort beginnen zu lassen. Dieses Schiff dort kann uns nicht abhalten ...« Ali Risa ließ das Glas sinken und wandte sich zu seinem Adjutanten: 
»Telefonieren Sie nach Habaste. Mein Befehl soll relaisartig mit allergrößter Schnelligkeit in die Geschützstellungen im Norden weitergegeben werden: Das Artilleriefeuer hat zu unterbleiben!« »Das Artilleriefeuer hat zu unterbleiben«, wiederholte der Adjutant und stürzte davon. Der Kaimakam richtete seine schlaffe, aber mächtige Gestalt hoch: »Was bedeutet dieser Befehl? Ich verlange Aufklärung, Effendi!« Der General beachtete ihn gar nicht, sondern richtete seine graublauen Augen auf den Jüsbaschi: »Lassen Sie die vorgeschwärmten Kompanien zurücknehmen. Alle Truppen verlassen den Berg und ralliieren sich unten im Dörfertal. Abmarsch sofort!« »Ich verlange Aufklärung«, schrie der Kaimakam außer sich, und seine Augensäcke wurden blauschwarz: »Das ist Feigheit. Ich bin Seiner Exzellenz verantwortlich. Es liegt kein Grund vor, die Operationen abzubrechen!« Ein langer, kalter Blick des jungen Generals traf ihn: »Kein Grund? Wünschen Sie der alliierten Flotte Gelegenheit zu geben, die offene Küste zusammenzuschießen? Die weittragenden Geschütze reichen bis Antakje. Glauben Sie vielleicht, dass der Kreuzer dort allein bleiben wird, Kaimakam? Sollen die Franzosen und Engländer etwa Truppen landen und einen neuen Kriegsschauplatz mitten im unverteidigten Syrien etablieren? Was meinen Sie, Kaimakam?« Der Kaimakam aber, braungelb im Gesicht, raste mit Schaum vor dem Munde:
»Das geht mich nichts an. Ich, als Verantwortlicher, befehle Ihnen ...« Weiter kam er nicht. Der Gegenbefehl des Generals hatte natürlich auf keine Weise die türkischen Artilleriestellungen in diesen wenigen Minuten erreichen können. Die ersten Geschosse krachten in die Kerbung des Nordsattels. Sofort aber begannen sich die langen, eleganten Geschützrohre in den Panzertürmen des »Guichen« zu drehn. Es vergingen kaum drei Atemzüge, und die ersten schweren Granaten fielen mit ungeheuren Schlägen auf die Häuserkuben von Suedja, El Eskel, Jedidje. Sofort kroch an dem großen Kamin der Spiritusfabrik die amerikanische Flagge hoch. Einige türkische Holzhäuser begannen schon zu brennen. Ali Risa herrschte den Jüsbaschi an: »Telefonieren Sie, Feuer einstellen, zum Teufel! Die Saptiehs sollen die Bevölkerung evakuieren. Alles ins Dörfertal!« Der sommersprossige Müdir aus Salonik, der als Untergebener bisher geschwiegen hatte, wurde nun auch von einem Koller gepackt. Durch die hohlen Hände schrie er, als wolle er sich trotz des brüllenden Feuers dem »Guichen« verständlich machen: »Das ist ein Bruch des Völkerrechts ... Offene Küste ... Einmischung in die innere Politik ...« Generalmajor Ali Risa aber hob seinen Spazierstock von der Erde auf und wandte sich zum Gehen. Die Offiziere umscharten ihn. Er drehte sich noch einmal um: »Warum schreien Sie so, Müdir? Bedanken Sie sich bei Ittihad ...« »Mir ist übel«, stöhnte der Kaimakam, der sich für seine Gesundheitsverhältnisse heute allzusehr übernommen hatte. Sein schwerer Körper sank zu Boden. Er schien mit aller Kraft gegen eine Ohnmacht anzukämpfen. Zwischen seinen schwärzlichen Lippen röchelten immer dieselben Worte hervor: »Das ist das Ende ... Das ist das Ende ...« Der Müdir musste seinen kranken Vorgesetzten durch vier Saptiehs zu Tale tragen lassen."  [141] 

Keine zweite Seeschlacht wie die von Navarino, aber immerhin französische Feuerkraft zugunsten der Armenier: "Die erste Reaktion Bagradians war ein Befehl, den er die Verteidigungslinie durchlaufen ließ: »Keiner rührt sich fort! Jeder bleibt, wo er ist!« Dies war ein außerordentlich wichtiger Befehl. Denn erstens kannte Gabriel die Absichten der Türken nicht, dann hatte er die französische Flagge des Kriegsschiffes noch nicht mit eigenen Augen gesehn. Auch war es höchst unwahrscheinlich, dass dieses Schiff viereinhalbtausend Menschen aufnehmen konnte und wollte. – Nicht minder merkwürdig war die Wirkung des Wunders auf die Verteidiger, die nach dieser letzten endlosen Nacht der Todeserwartung wie gelähmt in den langen Schwarmlinien lagen. Ein Junge, atemlos gicksend, hatte die Meldung gebracht. Keinen Aufschrei löste sie aus, sondern vorerst eine starre Pause. Plötzlich aber zerbrach die Einteilung. Diejenigen, welche die Wundernachricht gehört hatten, drängten die Kuppe empor, zur Haubitzstellung, zum Befehlshaber. Nicht dies jedoch war merkwürdig, sondern die Verwandlung der tiefen und rauhen Männerstimmen. Die Leute fistelten auf einmal. Hohe und enge Töne stießen von allen Seiten auf Gabriel ein. Es klang fast wie eine zittrige Abart von Weibergekeif oder wie der Angstausbruch von Irren. Das Gefühl der Rettung rief, ehe es noch die Seelen in Besitz nahm, einen ansteckenden Stimmritzenkrampf hervor. Die Männer gehorchten sofort. Sie legten sich wieder in ihre Linien, das Gewehr vor sich, als sei nichts Erschütterndes geschehen. Nur Lehrer Hapeth Schatakhian forderte den Befehlshaber auf, ihn als Kommissar zum Meere hinabzusenden, da er, kraft seiner meisterhaften Beherrschung und Betonung der französischen Sprache, zweifellos der Berufene sei, die Verhandlungen zu führen. Der Lehrer strahlte übers ganze Gesicht. Gabriel Bagradian, der die Zehnerschaften durch sein eigenes Beispiel zusammenhalten wollte, bis die letzte Gefahr eines türkischen Angriffs geschwunden war, entließ Schatakhian mit folgenden Aufträgen: Es müsse unter allen Umständen eine stetige Verbindung des Lagervolkes unten am Meere mit den Verteidigern oben auf dem Berge aufrechterhalten bleiben. Ter Haigasun und Doktor Altouni möchten sich gemeinsam mit Schatakhian auf das französische Schiff begeben. Und dann: Der Kreuzerkommandant habe sogleich davon in Kenntnis gesetzt zu werden, dass sich unter dem Volke eine gebürtige Französin, und zwar in schwerkrankem Zustand, befinde. Das beginnende Artilleriefeuer gegen den Nordsattel bestätigte Bagradians Verdacht. Der Türke dachte gar nicht daran, seine sichere Beute ohne weiteres aus dem Rachen fallen zu lassen. Sofort wurde eine Ordonnanz an Tschausch Nurhan abgefertigt: »Die Nordstellung muss bis zum letzten Mann gehalten werden.« Ehe nicht der entsprechende Befehl von ihm, Bagradian, eintreffe, hätten die Zehnerschaften unter keiner Bedingung die Gräben oder die Felsbarrikaden zu verlassen, in welchen sie während des Granatfeuers Schutz suchen sollten. – Nach kurzer Zeit aber erlahmte dieses Feuer, während die riesigen Schiffsgeschütze mit taktsicheren Donnerschlägen ihre Bomben gegen die muselmanischen Ortschaften sandten. In der Orontesebene schien das Weltgericht zu toben. Als Gabriel den Beobachterplatz erstiegen hatte, standen schon Suedja, El Eskel, Jedidje und selbst das entfernte Ain Jerab in Qualm und Flammen. Auf Pferden, Eseln, Ochsenkarren und in hellen Haufen floh das Volk ins armenische Tal hinein. Nach einer Weile kehrte Bagradian wieder zu den Haubitzen zurück. Hinter dem Sporn der Geschütze standen die schon tempierten Granaten. Er hatte die Absicht gehabt, die Geschütze nach Norden zu drehn und, wenn es soweit war, den türkischen Angriff unter Feuer zu nehmen. Er gab die Absicht auf, obgleich er die Gefahr noch lange nicht für gebannt hielt. plätze gewählt hatten, wo die zurücktretenden Steilwände ein paar unebene, mit hartem Strauchwerk bewachsene Plätze freiließen.Gabriel ließ sich neben den Haubitzen nieder. [142] 
 

19. Fregattenkapitän Brisson des Panzerkreuzers »Guichen« und Konteradmiral des Flaggschiffs »Jeanne d'Arc«

Während Lehrer Oskanian die Notflagge schwenkte, schlief noch alles. "Es war nicht der Schlaf von Menschen mehr, sondern der Schlaf unbelebten Stoffes, wie ein Fels oder ein Erdhaufen schläft. Der Donnerschlag des Schiffsgeschützes zerstörte ihn. Fast viertausend Frauen, Kinder und Greise schlugen die schreckerfüllten Augen auf, um das Licht ihres vierten Hungertages zu erblicken. Die Leute unten an der Küste sahen einen unglaubwürdigen Entkräftungstraum, der regungslos auf einem festen Meere ruhte. Einige versuchten sich aufzuraffen, um dieses Traumgesicht zu verscheuchen. Andre blieben gleichgültig auf dem harten Fels liegen, der ihre dünne Haut, die ohne Fleisch die Knochen bedeckte, durchgescheuert hatte. Sie drehten sich nicht einmal auf die andre Seite. Plötzlich jedoch hob unter den Erwachsenen ein kurzarmig hüstelndes Weinen an, das sich wie das schwache Gezeter schwerkranker Kinder ringsum ausbreitete. Und nun huschten auch die trägsten Schatten auf. Die Knaben, die noch die meiste Kraft besaßen, erkletterten die Klippen. Alles drängte zum Wasser. Der große Kreuzer »Guichen« ankerte etwa eine halbe Seemeile weit vor der Küste. Den Offizieren und Matrosen bot sich ein erschütterndes Bild. Sie sahen Hunderte von nackten, skelettdürren Armen, die sich ihnen entgegenstreckten, wie um Almosen bettelnd. Die menschlichen Gestalten, die zu diesen Armen gehörten, und gar die Gesichter, verschwammen selbst in den Ferngläsern gleich Gespenstern. Dazu erklang ein spitzes Stimmendurcheinander, das an das Zirpen von Insekten erinnerte und aus einer weit größeren Ferne zu kommen schien, als es tatsächlich kam. Dabei strömten zwischen den Steilwänden immer mehr von diesen menschlichen Zikaden herab und vermehrten die bettelnden Arme. Ehe der Kommandant des »Guichen« noch einen Entschluss dieser Verfolgten wegen fassen konnte, sprangen von den Klippen zwei kleine Gestalten ins Wasser, Knaben jedenfalls, und begannen aufs Schiff hinzustreben. Sie kamen auch ungefähr bis auf hundert Meter heran, dann schienen die Kräfte sie zu verlassen. Man hatte ihnen jedoch vorsorglich ein Boot entgegengeschickt, das sie aufnahm. Ein andres Boot bewegte sich auf die Küste zu. Es sollte die Vertrauensleute dieser seltsamen »Christen in Not« an Bord bringen. Bald aber zeigte es sich, dass, wenn Gott ein Wunder schickt, die Wirklichkeit dieses Wunder noch immer mit hundert Tücken zu dämpfen weiß. Die Beschaffenheit der Steilküste war nämlich so schwierig, die Brandung so stark, dass selbst dieses gut bemannte Boot des »Guichen« kaum zu landen vermochte, was eine große Rechtfertigung der missglückten Fischerei Arams bedeutete. Es verging fast eine Stunde mit vergeblichen Landungsversuchen, ehe Ter Haigasun, Altouni und Hapeth Schatakhian aufgenommen werden konnten. Dies war die Stunde, in welcher der »Guichen«, durch das herausfordernde Artilleriefeuer auf dem Musa Dagh gereizt, hundertundzwanzig schwere Granaten in die muselmanische Ebene warf." [143] 

Der Fregattenkapitän Brisson empfing die Abordnung in der Offiziersmesse, nachdem die Schiffsartillerie das Feuer schon eingestellt hatte. "Brisson machte eine entsetzte Bewegung, als er die drei Männer sah, diese eingeschrumpften Körper in Lumpen, diese bartumwucherten Gesichter mit ihren hohen Stirnen und riesigen Augen. Ter Haigasun bot den wildesten Anblick. Sein halber Bart war weggesengt. Über die rechte Backe lief eine glühende Brandwunde. Da seine Alltagskutte in der Pfarrhütte in Flammen aufgegangen war, trug er noch immer die geliehene Decke über den Schultern. Der Fregattenkapitän reichte den Männern die Hand: »Der Priester ... der Lehrer ...?« fragte er. Schatakhian aber ließ ihm keine Zeit zu weiteren Erkundigungen, sondern riss seine ganze Kraft zusammen, verbeugte sich und begann jene Rede; die er auf dem Serpentinenweg zum Meere und später noch im Boote laut vor sich her entworfen hatte. Er leitete sie mit den unzutreffenden Worten »Mon général« ein. Vielleicht war's nur Verwirrung. Wer aber konnte schließlich von dem armenischen Volksschullehrer aus Yoghonoluk verlangen, dass er sich in der Rangordnung der französischen Marine gehörig auskenne, insbesondere da der sokratische Meister dieses Lehrers auf die Kriegswissenschaft nicht das geringste Gewicht zu legen pflegte. Nachdem Kapitän Brisson durch diese orientalisch ausschweifende Rede alles Nötige und manches Unnötige erfahren hatte, hoffte der durch sich selbst beglückte Sprecher, ein Wörtlein des Lobes werde aus solch erlauchtem Munde für seine makellose Akzentuierung fallen. Der Fregattenkapitän aber sah langsam von einem zum andern, um dann nach dem Mädchennamen Madame Bagradians zu fragen. Hapeth Schatakhian war überaus erfreut, auch hierin dienen zu dürfen und so seine Vertrautheit mit stockfranzösischen Personalien zu bekunden. Nun aber nahm Ter Haigasun das Wort. Zur Verwunderung, ja zur Betroffenheit des Lehrers sprach er ein fließendes Französisch, wovon er bisher in so vielen Schuljahren nur recht wenig hatte verlauten lassen. Er wies sofort auf den Hunger und die Entkräftung des Volkes hin und bat um unverzügliche Hilfe, weil sonst so manche Frau und so manches Kind die nächsten Stunden kaum erleben werden. Während Ter Haigasuns Worten klappte Bedros Hekim zusammen und wäre fast vom Stuhle gesunken. Brisson ließ sogleich Kognak und Kaffee bringen und den Abgesandten eine reichliche Mahlzeit servieren. Es zeigte sich aber, dass nicht nur der alte Arzt, sondern auch die zwei andern kaum etwas genießen konnten. Indessen berief der Schiffskommandant den Proviantoffizier zu sich und traf Anordnung, dass ohne Verzögerung Boote mit allen verfügbaren Nahrungsmitteln an Land zu gehen hätten. Der Arzt, das Sanitätspersonal und eine bewaffnete Abteilung Matrosen erhielten ebenfalls Befehl, zu landen." [144] 

Die "Türkenrotte" sollte zurückgedrängt, die Mittelmeerküste von Türken befreit werden, türkische Kriegsschiffe versenkt und Christen unterstützt werden: Brisson erklärte den armenischen Männern, dass sein Panzerkreuzer keine selbständige Einheit, sondern die "Vorhut eines englisch-französischen Geschwaders bilde, das die Aufgabe habe, in nordwestlicher Richtung die anatolische Küste entlang zu streifen. Der »Guichen« sei gestern abend schon, drei Stunden vor der Hauptmacht, aus der Zypernbucht von Famagusta ausgelaufen. Der Höchstkommandierende der Flottille, der Konteradmiral, befinde sich auf dem Linien- und Flaggschiff »Jeanne d'Arc«. Man habe seine Entscheidung abzuwarten. Vor einer Stunde schon sei ein Funkspruch an die »Jeanne d'Arc« gesendet worden. Die Abgesandten aber möchten sich nicht ängstigen, denn es bestehe kein Zweifel darüber, dass ein französischer Admiral einen so tapferen Stamm des misshandelten armenischen Christenvolkes nicht einfach seinem Schicksal überlassen werde. Ter Haigasun neigte seinen Kopf mit dem entstellten Bart: »Ich werde mir eine Frage gestatten, mein Herr Kapitän. Sie sind, wie Sie sagen, mit Ihrem Schiff nicht selbständig, sondern unterstehen dem Befehl eines Höheren. Wie kommt es dann, dass Sie nicht nach Nordwesten, sondern an unsre Küste hier gehalten haben ...?« »Sie entbehren gewiß schon lange Zigaretten, meine Herren, ich überlasse Ihnen diese Schachtel sehr gerne ...« Brisson überreichte dem Lehrer ein großes Zigarettenpaket und wandte dann seinen grauen Marinekopf mit nachsinnenden Augen Ter Haigasun zu: »Ihre Frage interessiert mich, mon père, denn ich habe tatsächlich gegen die Order gehandelt und bin von unserem Kurs beträchtlich abgewichen. Warum? Um zehn Uhr haben wir das Nordkap von Zypern passiert. Eine Stunde nach Mitternacht aber hat man mir ein großes Feuer an der syrischen Küste gemeldet. Es sah aus, als brenne eine mittlere Stadt. Ein großes Stück Himmel rot! Wir waren auf hoher See, mindestens dreißig Meilen vom Land. Dabei haben Sie, wie ich höre, nur einige Reisighütten angezündet. Freilich, der Nebel wirkt oft wie eine optische Vergrößerungslinse. Solche Dinge mögen schon vorkommen. Der halbe Himmel war rot, wirklich. Ich habe aus Neugier – es war wohl Neugier – den Kurs geändert ...« [145] 

Der Konteradmiral des Linien- und Flaggschiff »Jeanne d'Arc« wollte nicht nur alle Armenier aufnehmen sondern auch die Stätte besichtigen, wo Christen 40 Tage lang "für die Religion des Kreuzes" gegen die "barbarische Übermacht" der Türken gekämpft hatten. "Zwei Stunden später stieg die mächtige »Jeanne d'Arc« am Horizont auf und hinter ihr der englische und die beiden andern französischen Kreuzer. Der große Transportdampfer folgte erst gegen Mittag nach. In breiter, schön ausgerichteter Reihe näherten sich die blaugrauen, turmbewehrten Kampfwesen dem Lande, lange parallele Kielschaumlinien nachschleppend. Der Chef des Geschwaders hatte dem Fregattenkapitän Brisson zurückgefunkt, er wolle nicht nur die armenischen Flüchtlinge aufnehmen und zu diesem Zwecke die geplante Fahrt abbrechen, sondern er wünsche persönlich die Stätte des Heldenkampfes zu besichtigen, wo der Splitter einer christlichen Nation sich vierzig Tage lang gegen barbarische Übermacht behauptet hatte. Der Konteradmiral war ein strenger, ja ein berühmter Katholik, und der Kampf der Armenier für die Religion des Kreuzes bewegte ihn aufrichtig. Nachdem das Geschwader sich in vorbildlicher Symmetrie verankert hatte, begann auf dem spiegelhellen Meere ein glanzvolles Treiben. Hornsignale eiferten sich gegenseitig an. Ketten und Kräne ächzten. Langsam schwebten die großen Boote nieder. Die Matrosen des »Guichen« hatten mittlerweile zwischen den Klippen an der zugänglichsten Stelle eine Art von Landungsbrücke improvisiert, wobei Pastor Arams Fischereifloß zu unerwarteten Ehren kam. Die Geretteten lagen, saßen, hockten auf den schmalen Felsplatten und sahen mit verlorenen Blicken diesem Schauspiel zu, als gelte es nicht ihnen. Der Chefarzt des »Guichen« samt Gehilfen und Sanitätsleuten war mit den Kranken und Hungererschöpften beschäftigt. Er belobte Bedros Altouni hoch, dass er gestern noch, in der letzten Auflösung des Lebens, für die Ansteckungskranken oder -verdächtigen ein abgesondertes Lager gefunden habe. Altouni bekannte tief aufseufzend, dass oben auf dem Damlajik von diesen Ärmsten noch eine ganze Anzahl ungewartet und ungelabt dem Tode ausgesetzt sei, obgleich die meisten bei guter Pflege gerettet werden könnten. Der Chefarzt zog ein saures Gesicht. Die Aufnahme dieser Fiebernden bildete eine schwere Verantwortung. Was aber tun? Man konnte diese Christen doch nicht gut der Rache der Türken überlassen. Da der Chefarzt ein menschlicher Mann war, gab er seinem armenischen Kollegen einen Wink: »Reden Sie nicht viel über diese Sache!« Der Truppentransportdampfer war so gut wie leer und besaß große, wohleingerichtete Lazaretträume. Der Chefarzt zwinkerte dem Alten zu, er möge unbesorgt sein. Unter die Gesunden, so wie man von Gesunden sprechen kann, waren große Mengen von Brot und Konserven verteilt worden. Die Schiffsköche hatten große Kessel mit Kartoffelsuppe zubereitet und die gutmütigen französischen Matrosen liehen ihr eigenes Eßgeschirr her. Die Armenier aber nahmen alles hin, als sei es nicht ganz wirklich, sondern Traumbrot und Traumsuppe, die nicht sättigen könne. Doch als jeder seinen Anteil, nahezu ungekaut und ungeschmeckt, verschlungen hatte, ergriff ein neuer Gemütszustand die Gemeinden. Man war zwar sterbensmatt und ohne Leben mehr, und dennoch, die vierzig Tage lagen weit zurück wie eine halbvergeßne Sage. Noch wehrte sich der Körper gegen die ungewohnte Nahrung (o Brot, tausendmal ersehntes Brot), der Seele aber war alles wieder selbstverständlich, als sei es nie anders gewesen, als sei Gottes Gnade nichts als die natürliche Entwicklung der Dinge." [146] 

Grußbotschaften, die die Türken verstehen: Man beschloss während eines Ausflugs "durch ein paar Granaten auf die Küstenortschaften die Türken in ehrerbietigem Abstand zu halten." Der Konteradmiral landete, von einem großen Stab umgeben, an der schwanken Brücke. "Seiner Motorbarkasse folgte ein Schwarm scharf dahinschießender Fahrzeuge. Zum Schutze des Geschwaderkommandeurs waren von allen Schiffen Abteilungen der Marineinfanterie mit Maschinengewehren ans Land beordert worden. Die ausgebooteten Soldaten besetzten die schmalen Felsplatten, wodurch ein dichtes Gedränge entstand und der Admiral vor lauter französischen Uniformen den Gegenstand seiner Neugier kaum zu Gesicht bekam. Während er dann langsam durch die Haufen der Dorfleute schritt, verlangte er von Beginn und Hergang der Verteidigungskämpfe genau unterrichtet zu werden. Und hier widerfuhr Lehrer Schatakhian zum zweitenmal und in erhöhtem Maße noch die Auszeichnung, das Ohr eines erlauchten Franzosen durch die Fülle seines Wortschatzes in Erstaunen setzen zu dürfen. Der Konteradmiral war ein kleiner, alter Herr mit einem streng zusammengerafften Militärgesicht, knapp und zierlich zugleich. Das Gesicht hatte braunrote Seemannsfärbung. Ein schneeweißes Bürstenbärtchen schwebte über der Oberlippe. Die blauen Augen waren sehr hart, doch schien ihr Blick durch Weite gemildert. Die graziöse Gestalt des alten Herrn steckte in keiner rechten Uniform, sondern in einem bequemen weißen Leinenanzug, der nur durch den schmalen Ordensstreifen auf der Brust soldatisches Gepräge bekam. Der Admiral stellte verschiedene Fragen nach den türkischen Streitkräften, dann zeigte er mit seinem dünnen Bambusstock gegen die Felswände und tat seiner Umgebung noch einmal den Willensentschluss kund, die Hochfläche und Kampfstätte mit eigenen Augen sehen zu wollen. Einer der Herren wagte darauf hinzuweisen, dass es immerhin ein paar hundert Meter zu ersteigen gelte, was für den Chef vielleicht beschwerlich sein werde. Auch könne man wohl nicht mehr rechtzeitig zur Dejeunerzeit an Bord sein. Der Wagemutige erhielt überhaupt keine Antwort. Der Konteradmiral gab das Aufbruchzeichen. Der Adjutant musste daraufhin heimlich dafür sorgen, dass die Marineinfanterie im Eilschritt den Serpentinenweg ersteige, um noch vor dem Exzellenzherrn auf dem Damlajik Stellung zu nehmen. Dieser Ausflug im Feindesland war eine höchst gewagte Sache. Der Berg schien von türkischen Truppen und Geschützen umzingelt zu sein. Es konnte somit zu höchst unangenehmen Überraschungen kommen. Bei dem eigensinnigen Charakter des Hochmögenden aber wäre jeder Einspruch aussichtslos gewesen. Man beschloss daher, während dieses Ausflugs durch ein paar Granaten auf die Küstenortschaften die Türken in ehrerbietigem Abstand zu halten. Der Adjutant musste außerdem noch für einen Imbiss sorgen, denn die Strapaze einer solchen Bergbesteigung war für einen alten Seemann nicht unerheblich. Es war aber gerade der Ehrgeiz des Admirals, den jüngeren Herren des Gefolges die Überlegenheit seines Herzens, seiner Lunge und Glieder zu beweisen. Er federte nur so den steilen Bergpfad empor, allen andern voran... Die Herren des Stabes blieben immer wieder stehn, blickten sich um und bewunderten die Schönheit des baum- und quellenreichen Musa Dagh. Und mehr als einer kam auf dieselbe Bezeichnung, die Gonzague Maris gefunden hatte: Riviera. Viele aber gaben um seiner wilden Jungfräulichkeit willen dem Mosisberg den Vorzug. Die letzten waren zwei junge Marineoffiziere. Sie hatten bisher kaum ein Wort gesprochen und auch die Landschaft nicht gepriesen. Der eine, ein Engländer, blieb stehn, drehte sich aber nicht zum Meer um, sondern starrte geradeaus auf die Felserde: »Hören Sie, Kamerad, diese Armenier! Ich habe den Eindruck, keine Menschen gesehen zu haben, sondern nur Augen.« [147] 

Gabriel Bagradian hatte die Verteidigungslinien noch immer nicht aufgelöst. Obgleich er Meldung vom Abmarsch der türkischen Truppen im Norden und Süden bekommen hatte, schien er dem Frieden doch nicht zu trauen. Es konnte auch selbstverständliche Kriegsmoral sein, die es nicht duldete, dass die Kämpfer die Walstatt verließen, ehe das Schicksal des Volkes gänzlich geregelt war. Vielleicht aber lag der Grund für diese Strenge tiefer. Zu weit war der neue Gabriel auf dem unbekannten Wege fortgeschritten, um sich so rasch zu dem alten Gabriel zurückzufinden. In vierzig Tagen hatte sich eine Verwandlung vollzogen, die ihn jetzt an die Stelle bannte. Manchem gröberen Mann erging es ähnlich. Niemand in der Linie murrte und meuterte wider Bagradians Ausdauer, am allerwenigsten die schuldbeladenen Deserteure, die sich in kriecherischer Dienstwilligkeit überboten. Gabriel hatte zu den Zehnerschaften ein paar Worte gesprochen: Niemand könne noch von Rettung reden, ehe nicht alle Frauen und Kinder eingeschifft seien. Man habe den Franzosen durch dieses Ausharren die Würde der armenischen Nation zu beweisen. Als unbesiegte Krieger, das Gewehr in der Hand, in Zucht und Ordnung, sollten sie die alte Heimat verlassen. Auch werde er keinesfalls diese Haubitzen, die das Volk seinem Sohn verdanke, schmählich auf dem Damlajik vergessen, damit die Türken sie noch heute abend abholten. Er wünsche vielmehr, diese große und wichtige Siegesbeute den Franzosen zu übergeben. Wesentlicher noch als diese Worte war die Tatsache, dass Ter Haigasun eine hinreichende Menge von Brot, Marmelade, Wein und Konserven auf den Berg geschickt hatte und Tabak dazu. Die Männer lagen im wohligen Dämmerzustand umher und fanden diese ausdauernde Ruhe erwünschter als die kleinste Bewegung. Die Ruhe hatte ein Ende, als die Marineinfanterie auf der Bergfläche erschien und in entwickelter Linie geradewegs auf die Haubitzkuppe marschierte. Da sprangen die Zehnerschaften auf und stürzten brüllend, jubelnd den Franzosen entgegen, die in ihren blitzblanken Uniformen einen blendenden Gegensatz zu den abgekämpften und verhungerten Lumpengestalten des Musa Dagh bildeten. Jetzt wurde den Kämpfern erst der ganze ungeheure Triumph ihres Unterfangens bewusst. Als sich nun auch die stattliche Offiziersgruppe dem Orte näherte, ging Gabriel langsam auf die Herren zu. Er tat dies in sehr gelassener Art, alles Soldatische wie aus Scham vermeidend. Sein Gewehr blieb liegen. Jetzt glich er einem Jäger oder Ausgrabungs-Ingenieur. Er lüftete den verbeulten Tropenhelm und stellte sich dem Konteradmiral vor. Der alte Herr betrachtete Gabriel ein paar Sekunden lang mit durchdringenden Augen, dann reichte er ihm die Hand: »Sie waren der Kommandant?« Gabriel wies sofort auf die Haubitzen, als sei es ihm ausnehmend wichtig, den Rettern zu zeigen, dass er nicht mit leeren Händen dastehe: »Herr Admiral! Ich übergebe Ihnen und damit der französischen Nation diese beiden Geschütze, die wir den Türken abgenommen haben.« Der Konteradmiral, der viel Sinn für Feierlichkeit besaß, nahm Stellung. Die Gestalten der übrigen Offiziere strafften sich: »Ich danke Ihnen, Kommandant, im Namen der französischen Nation, die diese armenische Siegestrophäe in Verwahrung nimmt.« Er reichte Bagradian noch einmal die Hand: »Ist die Eroberung dieser Haubitzen Ihre persönliche Tat?« »Sie ist die Tat meines jungen Sohnes, der getötet wurde.« Diesem Bekenntnis folgte ein langes allgemeines Schweigen. Der Konteradmiral schnellte mit seinem Bambusstock einen Stein zur Seite. Dann wandte er sich an sein Gefolge: »Gibt es eine Möglichkeit, die Geschütze den Berg hinab und an Bord zu bringen?« Der befragte Fachmann zeigte ein bedenkliches Gesicht. Mit den notwendigen Behelfen sei dies unter größten Schwierigkeiten möglich, wenn man einen vollen Tag zur Verfügung habe. Nach einer knappen Überlegung entschied der Exzellenzherr: »Man sorge dafür, dass die Haubitzen unbrauchbar gemacht werden. Am besten sprengen, aber vorsichtig, wenn ich bitten darf!« Um so besser, dachte Gabriel, zwei Geschütze weniger auf der Welt. Und doch empfand er ein Leid dabei. Um Stephans willen. Der Admiral hielt einen Trost bereit: »Sie haben der guten Sache einen großen Dienst erwiesen, Kommandant, auch wenn diese Haubitzen vernichtet werden.« [148] 

Der Konteradmiral sprach in seiner Gründlichkeit zuletzt noch den Wunsch aus, den Hauptkriegsschauplatz des Nordsattels kennenzulernen. Mit gedämpfter Stimme hatte er seinen Herren den Auftrag gegeben, sich über all das Gehörte Aufzeichnungen zu machen. Ohne Zweifel plante er einen genauen Bericht an das Marineministerium. Die Rettung der sieben armenischen Gemeinden war schließlich nicht nur eine wichtige, sondern auch eine höchst dekorative Tatsache. Nachdem der Konteradmiral die Gräben und Felsbarrikaden kurz besichtigt hatte, hielt er es für seine Pflicht, Gabriel Bagradian und mit ihm die Kriegerschar durch eine Ansprache auszuzeichnen. Er tat dies mit gallischer Beredsamkeit, doch auch mit der herben Zurückhaltung seines Berufes und seines Glaubens: »Kommandant«, begann er, »in unseren Tagen werden Heldentaten in allen Ländern und auf allen Meeren der Welt vollbracht. Doch es sind kampfgeübte Soldaten, die einander gegenüberstehn. Hier auf dem Musa Dagh trifft das nicht zu. Sie haben keine kampfgeübten Soldaten zur Verfügung gehabt, sondern nur einfache friedliche Bauern und Handwerker. Und dennoch hat unter Ihrer Führung dieses Häuflein schlechtbewaffneter Dorfbewohner sich nicht nur gegen einen tausendfach übermächtigen Feind tapfer geschlagen, sondern im verzweifelten Kampf um das nackte Leben siegreich behauptet. Diese Tat verdient, nicht vergessen zu werden. Sie war nur durch Gottes Hilfe möglich. Gott hat Ihnen geholfen, weil Sie nicht nur für sich selbst gekämpft haben, sondern für sein heiliges Kreuz. So haben Sie den höchsten Heroismus bewiesen, den es gibt, den christlichen Heroismus, der etwas Erhabeneres verteidigt als Haus und Herd. Die französische Nation dankt Ihnen durch meinen Mund und ist stolz darauf, Ihnen helfen zu können. Ich freue mich, Sie alle bis zum letzten Mann in Sicherheit bringen zu dürfen, und teile Ihnen mit, dass mein Geschwader Sie in einen ägyptischen Hafen führen wird, nach Port Said oder Alexandria ...«  [149] 

Während Gabriel sich auf diese aufrichtig gefühlte Rede hin mit der gebotenen Dankbarkeit tief verbeugte und die kleine Hand der Exzellenz warm umfasst hielt, ging es ihm durch den Kopf: Port Said, Alexandria, ich? Was habe ich dort zu schaffen? In einem Sammellager vielleicht? Warum ich? – In die frischen und harten Augen des alten Admirals aber trat jetzt ein sympathieerfüllter, fast väterlicher Zug: »Monsieur Bagradian, ich lade Sie ein, während der Überfahrt auf der ›Jeanne d'Arc‹ mein Gast zu sein ...« Er wartete den Dank nicht ab, sondern zog aus einem Ledersäckchen eine dicke spießbürgerliche Golduhr hervor, auf deren Zifferblatt er einen beunruhigten Blick warf: »Und nun bitte ich um die Ehre, die Bekanntschaft von Madame Bagradian machen zu dürfen. Ich war seinerzeit mit ihrem Vater gut bekannt ...« Und es geschah noch im Laufe des frühen Vormittags, dass der Zeltvorhang wiederum zurückgeschlagen wurde und dass, von Mairik Antaram geführt, zwei Männer eintraten. Dies aber waren zwei junge Burschen in blauen Uniformen mit blanken Knöpfen und Rote-Kreuz-Binden um den linken Arm. Juliette, die starr auf dem Rücken lag, sah zwei milchhelle Gesichter mit frischen, lustigen Augen. Ein süßer Schreck vor dem Unsagbar-Verwandten durchfuhr sie. Der kleinere dieser jungen Männer salutierte stramm, und seine Bruderstimme ertönte in den Lauten der verlorenen Welt: »Bitte die Störung zu entschuldigen, Madame! Wir sind die Sanitätsgehilfen vom ›Guichen‹. Der Herr Chefarzt hat befohlen, auch Madame hinunterzutragen. Wir kommen später wieder. Madame wird dann die Güte haben und fertig sein.« Der Kleine straffte sich hoch und fuhr mit der Hand an die Matrosenmütze, während der andre mit schwerem, verlegnem Schritt tiefer ins Zelt trat und eine Thermosflasche, ein Gefäß mit Butter auf den Spiegeltisch stellte und dazu zwei Wecken feinen Weißbrotes legte: »Auf Befehl des Herrn Chefarztes, Tee, Brot und Butter für Madame, vorläufig ...« Er verkündete dies im Tone einer militärischen Meldung, indem er die Hacken zusammenschlug und sein stupsnäsiges Kinderprofil dem Bette zuwandte, ohne die Frau anzusehn. Eine rührende Haltung täppischer Verlegenheit. Juliette aber ließ einen wimmernden Seufzer vernehmen, worauf die beiden Sanitäter in dem Gefühl, der Kranken zur Last zu fallen, auf behutsam ungeschlachten Zehenspitzen das Zelt verließen. Sie folgten Mairik Antaram zum Lazarettschuppen, den das Feuer verschont hatte. Dort war schon das gesamte Sanitätspersonal des Panzerkreuzers versammelt, um die Verwundeten und Kranken an die Küste zu schaffen. Juliette streckte den beiden Landsleuten sehnsüchtig die Arme nach, dann aber warf sie die Decke ab und setzte sich auf den Bettrand. Die Verpuppung war endgültig durchbrochen. Mit beiden Händen das Gesicht bedeckend, fühlte sie ihr wirr zerzaustes Haar. Entsetzt flüsterte sie vor sich hin: »Franzosen, Franzosen! Wie sehe ich aus! Franzosen!« Plötzlich aber war's, als schieße in dem ausgetrockneten Körper eine Feuersäule der alten Energie auf. Sie setzte sich ans Spiegeltischchen. Ihre steifgewordenen, unsicheren Finger warfen alles durcheinander, was sich noch an Schönheitsmitteln fand. Sie kleckste Rouge auf ihre Wangen, ohne die Schminke zu verwischen, wodurch ihr Gesicht noch krankhafter und welker aussah. Dann bearbeitete sie ihren Kopf mit Kamm und Bürste, immer wieder »Wie sehe ich aus?« vor sich hin flüsternd. Ihren schwachen Kräften jedoch gelang es nicht, das widerspenstige Haar zu bändigen. Da legte sie ihren Kopf auf die Arme und begann fassungslos zu schluchzen. Wie immer tat ihr das Erbarmen mit sich selbst so streichelnd wohl, dass sie dann die Haare überhaupt vergaß und offen herabhängen ließ. Ein neuer scharfer Schreck. Franzosen, Franzosen! Was soll ich anziehn? Sie begann ihre Sachen zu suchen, den Schrankkoffer, das andre Gepäck. Nichts! Der Raum war leer. Juliette jagte gehetzt die wenigen Schritte durch das Geviert um und um. Es war wiederum jene Traumangst, barfuß und im Nachtgewand in einer glänzenden Gesellschaft erscheinen zu müssen. Nach langem vergeblichem Suchen wagte sich Juliette endlich vors Zelt. Der goldklare Septembertag warf sie beinahe zurück. Im nächsten Augenblick aber kniete sie vor dem Schrankkoffer. Wer hatte ihr diese Gemeinheit angetan? Iskuhi? Alles herausgerissen, durcheinandergeknüllt, zerfetzt. Kein einziges Kleid in Ordnung, von diesen verschollenen vorjährigen Lumpen. Sie hatte nichts, gar nichts zum Anziehn, und sie musste doch schön sein, denn die Franzosen waren da. Mairik Antaram fand Juliette auf der Erde sitzen, mitten unter den Häuflein von Hemden, Strümpfen, Kleidern und Schuhen... Gabriel war dem Konteradmiral vorausgeeilt, um seine Frau auf den Besuch vorzubereiten. Bei seinem Eintritt saß Juliette auf dem Bettrand. Mairik Antaram hielt eine Tasse in der Hand und versuchte der Widerspenstigen den Tee aufzuzwingen wie einem ungezogenen Kind: »Willst du für die Franzosen schön sein, so musst du dich stärken, sonst nützen dir all deine Kleider nichts ...« Juliette erhob sich förmlich, als sei ein Unbekannter eingetreten, dem sie folgen müsse. Mit einem Blick auf die beiden Menschen verließ Mairik Antaram das Zelt. Eines der Brote nahm sie mit, denn sie selbst war ja dem Hungertode nah. Gabriel sah mit grellem Bewusstsein sein altes Leben und die Unüberbrückbarkeit zwischen sich und ihm. Dieses alte Leben trug ein schweres Taftkleid, das bei jeder Bewegung die Vergangenheit rauschen ließ. Die Wangen aber und die Glieder des alten Lebens hatten Farbe und Fülle verloren, die Gestalt konnte kaum frei stehn und weckte Erbarmen. Gabriels Kehle verengte sich. Wie nahe noch war ihm Juliette während ihrer Krankheit gewesen. Jetzt erst, da er sie in der feierlichen Seide vor sich sah, ermaß er ganz den Abgrund der vierzig Tage. Er musste sich bei seinen Worten sehr zusammennehmen: »Jetzt bist du wieder wie früher, chérie, gottlob ...« Er fragte sie, ob sie schon Kraft genug habe, dem Konteradmiral des französischen Geschwaders ein paar Schritte entgegenzugehn. Hier in dem dunklen Krankenzelt wolle sie ihn gewiss nicht empfangen. Juliette blickte sich in dem Gehäuse um, das sie noch vor einigen Stunden zu ihrem Grabe bestimmt hatte. Dann machte sie eine leichte und doch sehnsüchtige Bewegung gegen ihr kleines Kopfkissen hin. Gabriel nahm ihren Arm: »Am Abend wirst du all deine Sachen bei dir haben, Juliette. Nichts wird vergessen werden ...« Trotz dieser Beruhigung aber drehte sich Juliette im Zelteingang noch einmal nach der Dunkelheit um, wie Eurydike nach dem Hades. Der Konteradmiral kam, nur von seinem Adjutanten und einem jungen Offizier begleitet. Man hatte ihn davor gewarnt, sich der Rekonvaleszentin allzusehr zu nähern. Die Fieberkrankheit auf dem Musa Dagh schien von höchst verdächtiger Art zu sein. Der Flottenchef aber war ein mutiger Mann, bei dem Warnungen zumeist das Gegenteil bewirkten. Er ging mit seinem straffen Schritt, der Jugendlichkeit übertrieb, auf Juliette zu und küßte ihr die Hand: »Auch Sie, Madame, haben als Französin, als Fremde, einen hohen Anteil an den Leiden und Taten auf diesem Berg. Erlauben Sie mir, dass ich Sie zu dem guten Ausgang beglückwünsche.«
Über Juliettens verfallenes Gesicht zog ein schmachtender Schatten: »Und Frankreich, mein Herr ...« »Frankreich geht durch eine fürchterliche Zeit und muss auf die göttliche Gnade hoffen ...« Juliettens Zustand schien den alten Herrn sehr zu bewegen. Er nahm ihre verschrumpfte Hand zwischen seine Hände: »Wissen Sie, mein Kind, dass ich Sie hier wahrscheinlich nicht zum erstenmal im Leben sehe ... Damals müssen Sie freilich noch ein sehr kleines Geschöpf gewesen sein, als ich einen ganzen Tag bei Ihren jungverheirateten Eltern verbrachte ... Wenn ich mit Ihrem Herrn Vater auch nicht gerade eng befreundet war, so gehörten wir in unsrer Jugend doch ungefähr demselben Kreise an ...« Juliette schluchzte kurz auf, doch es kam nicht zum Weinen, sondern nur zu einem seltsam abgerissenen Geplapper: »... Natürlich ... Das Haus wurde nach Papas Tod verkauft ... Aber Mama ... Mama wohnt jetzt ... Ach, ich habe die Straße vergessen ... Sie wissen nichts von ihr, mein Herr ... Aber meinen Schwager werden Sie wohl kennen ... Ich meine den aus dem Marineministerium ... Ein hoher Beamter ... Wie heißt er nur ... Mein Kopf ... Coulomb, selbstverständlich, Jacques Coulomb ... Sie kennen ihn ... Ich sehe meine Schwestern nur selten ... Aber wenn ich wieder in Paris bin, da werde ich alle meine Freunde und Freundinnen sehn, nicht wahr? ... Sie bringen mich doch nach Paris ...« Juliette taumelte. Der Admiral hielt sie fest. Gabriel lief ins Zelt und brachte einen Stuhl. Nun saß die Kranke. Trotz ihrer Schwäche aber ließ die Geschwätzigkeit nicht von ihr ab. Wahrscheinlich fühlte sie die Verpflichtung, Konversation zu machen. Ihr Geplapper wurde immer steifer, papageienhafter. Sie nannte immer wieder neue Namen, gemeinsame Bekannte, wie sie wähnte. Ihre Rede sprang zusammenhanglos und flüchtig von einem zum andern. Der Konteradmiral fühlte sich sichtbar unbehaglich. Endlich rief er den jungen Offizier herbei: »Sie werden für alles sorgen, mein Freund, und Madame begleiten ... Die ›Jeanne d'Arc‹ ist ein Kriegsschiff, und Bequemlichkeiten findet man auf einem Kriegsschiff nicht. Wir wollen aber alles versuchen, um Ihnen die Reise angenehm zu machen, liebes Kind ...« ... Die Einschiffung ging überaus langsam vor sich. Es gab viele Schwierigkeiten zu überwinden. Man hätte zwar die größere Hälfte der Dorfgemeinden recht gut auf dem Transportdampfer unterbringen können, dieser bequemen Lösung der Raumfrage aber widersetzten sich die Ärzte. Bei dichter Zusammenpferchung von Tausenden, in der Nähe der Kranken zumal, wäre das Schlimmste zu befürchten gewesen. Man musste im Gegenteil so verfahren, dass auf jenem Transportschiff nur die Kranken, die Erschöpften, die Verdächtigen, die Verwahrlosten beherbergt und damit von den Besatzungen und dem gesunden Volksteil geschieden wurden. Der leidige Dampfer bildete somit im Hinblick auf die Kreuzer oder gar auf die gewaltige »Jeanne d'Arc« einen Ort des Elends, des Abfalls, des Kehrichts. Eine Kommission, aus Offizieren und Ärzten zusammengesetzt, unterwarf jeden einzelnen Armenier einer Gesundheits- und Ungezieferprüfung, ehe man ihm seine Einteilung zuwies. Man ging dabei sehr streng vor. Wer nur den geringsten Zweifel erregte, wurde auf das Transportschiff verbannt. Von den Führern des Musa Dagh befand sich bei dieser Musterungskommission einzig und allein Ter Haigasun. Die Kräfte Bedros Hekims waren im Laufe der Stunden immer bedenklicher verfallen. Der Chefarzt hatte ihn schon vor längerer Zeit auf den »Guichen« bringen lassen. Auch Lehrer Hapeth Schatakhian trieb sich bereits an Bord dieses Kreuzers umher, in den ungewohnten Wonnen westlicher Zivilisation schwelgend. Die Muchtars wiederum schienen ihr Schulzenamt als beendet anzusehn und sich nur mehr als Familienväter zu fühlen, ebenso die verehelichten Dorfpriester und der Rest der Lehrer. Sie kümmerten sich jedenfalls um nichts. So oblag es Ter Haigasun allein, die Interessen des Volkes wahrzunehmen, das heißt bei den Offizieren und Ärzten dahin zu wirken, dass die Familien nicht unnötig auseinandergerissen würden und dass auch der Transportdampfer die richtigen Insassen erhielt." [150] 
 

20. "Dschihad nach innen, gegen die eigene christliche Bevölkerung"; Genozide an Christen in der Türkei verübt von Türken und Kurden; "Mit Lilili-Trillern stachelten türkische und kurdische Musliminnen 1915/16 ihre Männer zu Raub und Mord an christlichen Armeniern an, geplant von der osmanischen Regierung"; Seit 1894 hatte Sultan Abdul Hamid blutige Pogrome mit Zehntausenden Opfern inszeniert. 1909 war es in Südanatolien zu weiteren Massakern an Armeniern gekommen; dreißigjähriger muslimischer Genozid an den Christen Anatoliens, der 1894 begann und mit Tod, Vertreibung und Flucht der Opfer 1924 abgeschlossen wurde


Franz Werfel hat die Genozide an Christen literarisch verarbeitet. Nun gibt es eine neue Biographie des Völkermord-Architekten. "Mit Lilili-Trillern stachelten türkische und kurdische Musliminnen 1915/16 ihre Männer zu Raub und Mord an christlichen Armeniern an. Geplant von der osmanischen Regierung, geleitet von örtlichen Staatsvertretern, durchgeführt von Militärs und Zivilisten, stellt der Armeniergenozid den ersten großen Massenmord in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts dar. Und wie bei anderen Genoziden ging es nicht nur um Morden, sondern auch um die Bereicherung der Täter. Hans-Lukas Kiesers kluge, sprachlich feine und nachdenkliche Biographie von Talât Pascha, dem Organisator des Genozids, verleiht der Ermordung von rund eineinhalb Millionen christlicher Armenier erstmals ein Gesicht." [151] 

1908 stürzten die Jungtürken den autoritär herrschenden Sultan Abdul Hamid, der den Panislamismus als Herrschaftsideologie mobilisiert hatte, um auch nichttürkische Muslime wie Albaner, Kurden und Araber an das Reich zu binden. Die Jungtürken etablierten eine Militärdiktatur. Als diese in den Jahren 1911/12 gegen Italien und die Balkanstaaten vernichtende Niederlagen erlitt, radikalisierte sich ihre Führung. "Die Armenier lebten sowohl in den großen Städten wie Istanbul als auch im östlichen Anatolien. Seit 1894 hatte Sultan Abdul Hamid blutige Pogrome mit Zehntausenden Opfern inszeniert. 1909 war es in Südanatolien zu weiteren Massakern an Armeniern gekommen. Die israelischen Historiker Benny Morris and Dror Zeevi sprachen jüngst von einem dreißigjährigen muslimischen Genozid an den Christen Anatoliens, der 1894 begann und mit Tod, Vertreibung und Flucht der Opfer 1924 abgeschlossen wurde. Die wirtschaftlich erfolgreichen armenischen Kaufleute und Freiberufler störten die muslimischen Eliten ebenso wie die Klagen der armenischen Bauern in Ostanatolien, die von türkischen und kurdischen Grundbesitzern und Bandenführern enteignet und brutal
behandelt wurden."  [152] 

Im Ersten Weltkrieg trat das Osmanische Reich an die Seite der Mittelmächte. "Talât und seine Gesinnungsgenossen erkannten in dieser Konstellation die Möglichkeit, die Armenier ein für allemal auszurotten. Kieser spricht von einem Dschihad nach innen, gegen die eigene christliche Bevölkerung. Das Deutsche Reich wurde dabei zum Komplizen. Talât nützte die Abhängigkeit Berlins von dem Verbündeten im Osten aus. Deutsche Eliten aber haben den am 24. April 1915 einsetzenden Genozid nicht nur hingenommen, sondern in Teilen auch begrüßt und unterstützt. In der deutschen Presse wurde Talât als beeindruckender Staatsmann gefeiert. Der Panturkismus, so Kieser, war von Deutschland
großgezogen worden. Talât gelang es auch, die Duldung und mediale Unterstützung einer zweiten wichtigen Gruppe zu erlangen: der Zionisten, die zur Erreichung ihrer Ziele in Palästina auf Talâts Wohlwollen hofften. Im Gegenzug erhielten sie von dem schlauen Taktiker aber keine konkreten Zugeständnisse. Kieser stellt die These einer „Leugnung, Relativierung, Beschönigung und Vertuschung der Armeniermassaker und des Genozids, von Herzls Bemühungen um Annäherung an Abdul Hamid bis zu israelischer Interessenpolitik im 21. Jahrhundert“ auf. Israel hat bis heute den Genozid an den Armeniern nicht anerkannt. Die Regierung Netanyahu hat Aserbaidschan mit jenen Waffen ausgestattet, mit denen das Regime in Baku jüngst den Krieg um Berg-Karabach gewonnen hat."  [153] 
 

21. Die moderne Türkei ist quasi immer noch Räuberrepublik und Unrechtsstaat: "Im Gegensatz zu der Selbstdarstellung, dass mit der Gründung der türkischen Republik durch Kemal Atatürk (1923) eine Epochenzäsur stattgefunden habe, betont Kieser die Kontinuität von Abdul Hamid über Talât, Atatürk bis zu Erdogan: christenfeindlicher Islamismus, Panturkismus, Ultranationalismus und Autoritarismus ziehen sich durch diese Geschichte"; Ähnlich wie die Türkei hat auch Aserbaidschan mit dem Ölgeld nicht nur Abgeordnete gekauft, sondern in viel größerem Stile auch Waffen, die gegen Christen, insbesondere Armenier und Georgier eingesetzt werden

Die moderne Türkei ist quasi immer noch eine Räuberrepublik und ein Unrechtsstaat. "Im Gegensatz zu der Selbstdarstellung, dass mit der Gründung der türkischen Republik durch Kemal Atatürk (1923) eine Epochenzäsur stattgefunden habe, betont Kieser die Kontinuität von Abdul Hamid über Talât, Atatürk bis zu Erdogan: christenfeindlicher Islamismus, Panturkismus, Ultranationalismus und Autoritarismus ziehen sich durch diese Geschichte. Sie haben, so Kieser, „zerrissene Gesellschaften und tödlich polarisierende Politikstile“ hervorgebracht."  Als Person ist Talât nur schwer greifbar. Der Eunuch bzw. zeugungsunfähige Mann hatte seine ganze Kraft auf das konzentriert, was er als Rettung seiner Nation ansah. Bei Kriegsende floh er nach Berlin, wo er viel Unterstützung genoss. Er wurde von einem Armenier erschossen. Der Täter wurde freigesprochen. Sein Prozess erst machte die deutsche Öffentlichkeit mit Talâts Verbrechen bekannt. "Heute feiert Präsident Erdogan die Verantwortlichen für den Genozid: Er tat dies zuletzt bei der Siegesparade Aserbaidschans im Dezember 2020." Auch heute unterstützen nicht nur Abgeordnete der CDU-Fraktion die autoritären Regime in Türkei und Aserbaidschan. Nicht selten treffen sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Energiekommissare mit den Kriegspräsidenten Erdogan und Alijew um über Gaslieferungen aus Aserbaidschan nach Europa zu sprechen, statt Sanktionen zu verhängen. Zudem gibt es zahlreiche Lobby-Organisationen Aserbaidschans und der Türkei in Deutschland wie "The European Azerbaijan Society" (TEAS). [154] 

Im Sommer 2006 wurde die fast 1800 Kilometer lange Ölpipeline in Betrieb genommen, die von Baku über Tiflis in den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan führt. Für Aserbaidschan und die Türkei bedeutete das, mehr Geeld für die Kriegskasse. Damit konnte das Öl aus seinen reichen Vorkommen nach Europa gelangen. Aserbaidschans Unabhängigkeit hatte mit einer Niederlage begonnen, die in der ganzen, sonst zwischen politischen Lagern zerrissenen aserbaidschanischen Gesellschaft als schwere Demütigung empfunden wurde – dem verlorenen Krieg mit Armenien um Nagornyj Karabach. Ein Teil des Landes stand danach unter fremder Kontrolle, etwa eine halbe Million Vertriebene hausten unter elenden Bedingungen in Lagern, Bauruinen, Wohnheimen, die Wirtschaft war im freien Fall. "Das Öl brachte ab 2006 sehr viel Geld ins Land. In Baku war das schon rasch zu sehen. Und das Öl und die Aussicht auf die baldige Ausbeutung großer Gasfelder konnten noch mehr: Sie verschafften Aserbaidschan einen Platz auf der mentalen Landkarte vieler europäischer Politiker... Etwa in dieser Zeit nahm jene Geschichte ihren Anfang, wegen der heute in der CDU viele nervös werden, sobald die Rede von Aserbaidschan oder Baku ist. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew, der das Amt 2003 von seinem Vater geerbt hatte, wollte die neuen finanziellen Möglichkeiten seines Landes nutzen, um sich in Europa Ansehen, Gehör und Einfluss zu verschaffen. Ein Teil dieses Werbens geschah ganz offen. Ab 2006 entstanden in verschiedenen europäischen Ländern Organisationen, die sich als Teil der Zivilgesellschaft darstellten, mit viel Geld ausgestattet waren und auf Politiker, Journalisten und Kulturschaffende zugingen. Sie veranstalteten Konferenzen, Wirtschaftstage und Konzerte, luden zu Reisen nach Aserbaidschan ein. Es wurden Organisationen wie das Deutsch-Aserbaidschanische Forum gegründet, in dem Manager, Politiker, Wissenschaftler aus beiden Ländern zusammenkamen. Der staatliche Ölkonzern Socar bot sich allerlei kulturellen und sportlichen Initiativen als Sponsor an. zunächst ließen sich diese Bemühungen ganz gut an. In Deutschland konnte Baku zwei gut vernetzte ehemalige Politiker aus der Union für sich gewinnen: den ehemaligen Staatssekretär im Bundesinnenministerium Eduard Lintner von der CSU, der nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag 2009 eine Firma namens „Gesellschaft zur Förderung der deutsch-aserbaidschanischen Beziehungen“ gründete. Und Otto Hauser von der damals noch einflussreichen baden-württembergischen CDU, den letzten Regierungssprecher von Bundeskanzler Helmut Kohl. Er eröffnete 2010 in Stuttgart ein Honorarkonsulat Aserbaidschans. Dem Chef einer in London beheimateten Organisation namens „The European Azerbaijan Society“, kurz TEAS, mit Filialen in Berlin, Paris und Brüssel gelang es, gute Beziehungen zu Philipp Mißfelder zu knüpfen – damals Vorsitzender der Jungen Union, außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag und in den Augen vieler Beobachter und Parteifreunde einer der kommenden Stars der deutschen Politik. TEAS-Chef Tale Heydarov, der Sohn eines einflussreichen aserbaidschanischen Ministers, durfte im Oktober 2010 auf dem Deutschland-Tag der JU in Potsdam sprechen, wo er Mißfelder zur Wiederwahl gratulierte und für engere Beziehungen zwischen Deutschland und Aserbaidschan sowie zwischen der JU und seiner Organisation warb. Aber Aserbaidschan hatte ein Imageproblem – und mehr als nur das. Menschenrechtsorganisationen fanden mit Berichten über politische Gefangene, drangsalierte Oppositionsparteien, verprügelte Journalisten und gefälschte Wahlen in der Öffentlichkeit mehr Gehör als Lobbyisten, die Aserbaidschan als modernes, weltoffenes und westliches Land auf dem Weg zur Demokratie porträtieren wollten. Daher stießen die freundlichen Avancen rasch an Grenzen. Als das „Azerbaijan Student Network“ im Herbst 2012 als Sponsor den Landestag der Jungen Union in Baden-Württemberg fördern wollte, zwang die Mutterpartei den damaligen JU-Landeschef Nikolas Löbel, das Geld zurückzuzahlen. Die CDU fürchtete einen schweren Rufschaden. Und nicht nur politische Parteien wiesen aserbaidschanisches Geld zurück: Als der Bürgermeister von Oppenheim in Rheinland-Pfalz und SPD-Bundestagsabgeordnete Marcus Held 2014 dem Sportverein des kleinen Örtchens Dexheim eine Spende des Ölkonzerns Socar vermitteln wollte, lehnte die Vereinsführung ab. Lieber sammelten die Sportler weiter mühsam Kleinspenden für den neuen Rasen ihres Platzes... Schon früh versuchte die aserbaidschanische Delegation in der Parlamentarischen Versammlung, Einfluss darauf zu nehmen, welche Abgeordneten zu Berichterstattern für Aserbaidschan bestimmt wurden. Und viele Indizien sprechen dafür, dass Aserbaidschan etwa zu der Zeit, zu der dank der Pipeline Baku–Tiflis–Ceyhan Geld in das Land zu fließen begann, vom normalen Werben für Mehrheiten dazu überging, Stimmen zu kaufen. Erstmals öffentlich wurde das 2012 durch einen „Kaviar-Diplomatie“ betitelten Bericht des Thinktanks „European Stability Initiative“. Darin wurde auf der Grundlage von anonymen aserbaidschanischen Insider-Berichten und einer minutiösen Nachzeichnung von Entscheidungsprozessen in der Parlamentarischen Versammlung gezeigt, wie Aserbaidschan mit kostbaren Geschenken, Einladungen, Urlaubsreisen und anderen Vergünstigungen ein Netz von Parteigängern aus EU-Mitgliedstaaten aufgebaut hatte, die nach und nach in Straßburg in die entscheidenden Positionen rückten. Auf dem Höhepunkt des aserbaidschanischen Einflusses im Europarat stellte diese Seilschaft den Vorsitzenden der Versammlung, eine Mehrheit in ihrem Präsidium und mehrere
Fraktionsvorsitzende. Diese Internationale der Käuflichkeit beschränkte sich nicht auf ein politisches Lager. In ihr fanden spanische, italienische und deutsche Christdemokraten, belgische, französische und britische Liberale, polnische Sozialisten und viele andere zusammen. Aus Deutschland gehörte zu ihr der Karlsruher CDU-Abgeordnete Axel Fischer, gegen den die Münchner Generalstaatsanwaltschaft seit Anfang März wegen des Verdachts ermittelt, er habe gegen Geld dazu beigetragen, Entscheidungen im Sinne Aserbaidschans herbeizuführen. Fischer war zu unterschiedlichen Zeiten Leiter der deutschen Delegation, Vorsitzender der christlich-demokratischen EVP-Fraktion und stellvertretender Präsident der Versammlung. Gegen die vor einer Woche verstorbene CDU-Politikerin Karin Strenz aus Mecklenburg-Vorpommern hatte die Frankfurter Staatsanwaltschaft schon vor einem Jahr wegen ähnlicher Vorwürfe wie gegen Fischer zu ermitteln begonnen... Die aserbaidschanische Werbe-Offensive war dennoch zunichtegemacht, als die Versuche, den Europarat zu korrumpieren, ein paar Jahre später aufgedeckt wurden. Viele der Organisationen, die offen für Bakus Politik warben, schliefen ein, weil sie ihre Ziele nicht mehr erreichen konnten. Die Londoner Zentrale von „The European Azerbaijan Society“, die einst den inzwischen verstorbenen JU-Vorsitzenden Philipp Mißfelder umgarnte, wurde 2018 aufgelöst. Ihr deutscher Ableger wurde laut Firmendatenbanken voriges Jahr in Oaktree Berlin GmbH umbenannt. Auf der Website der Studentenorganisation, die vor neun Jahren einen Landestag der Jungen Union in Baden-Württemberg fördern wollte, stammen die neuesten Einträge von April 2020; darin wird Studenten der Rat gegeben, ihre Studienarbeiten von kompetenten Dienstleistern schreiben zu lassen. Was in Deutschland von der einstigen PR-Offensive Aserbaidschans geblieben ist, ist jene Gruppe von Bundestagsabgeordneten überwiegend aus den Unionsparteien, die sich in all den Jahren weiter regelmäßig gegenüber aserbaidschanischen Medien im Sinne des Regimes äußerten, Anfragen an die Bundesregierung stellten, Wirtschaftstage organisierten und hin und wieder mit unklarem politischen Ziel nach Baku gereist sind. Bis zu den Ermittlungen gegen Axel Fischer und zum Beginn der Maskenaffäre wenige Tage darauf ist das von einer breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden. Nun sind diese Abgeordneten wegen ihres Engagements für Aserbaidschan für ihre Parteien zu einem Problem geworden." Ähnlich wie die Türkei hat auch Aserbaidschan mit dem Ölgeld nicht nur Abgeordnete gekauft, sondern in viel größerem Stile auch Waffen. Mit der Begründung, die internationale Gemeinschaft habe nichts unternommen, hat Alijew im vorigen Herbst einen neuen Krieg um Karabach begonnen, aus dem sein Land mit Hilfe der Türkei als Sieger hervorging. [155] 

Nicht nur Politiker aus Deutschland und der EU fördern den Islamismus in der Türkei. Statt die Griechen zu fördern, gibt es immer noch Politiker und Tausende Firmen,  die den Islamismus und die neo-osmanischen Großmachtbestrebungen der Türken unterstützen. Ein Nebeneffekt für die Türkei ist, dass der Erlös für die in Europa verkauften türkischen Produkte wie Honig, Wabenhonig, Erdgas, Haselnüsse, Mandeln, Erdbeeren, Himbeeren, Aprikosen, Kirschen, Pflaumen usw. teilweise in der Kriegskasse des türkischen Präsidenten landet. Die türkische Lira ist auf einen neuen Tiefststand und weiter auf Sinkflug, "die Kreditwürdigkeit des Landes entspricht der von Ruanda, und jeder vierte Türke ist arbeitslos." Ein Justizsystem ist praktisch nicht vorhanden. Erdogan wünscht sich Boykottaufrufe gegen französische Produkte, in Wirklichkeit gibt es aber einen Boykott türkischer Produkte weltweit. Tausende Firmen unterstützen aber immer noch den Islamismus und die neo-osmanischen Großmachtbestrebungen der Türken, z.B. Nike, H&M, Zara, Dolce & Gabbana, DKNY, Tommy Hilfiger, Oscar de la Renta, Mango, Versace, Andreas Kronthaler, Vivienne Westwood, die auch islamische Kleidungsstücke wie Hidschabs, Abayas, Burkinis entwerfen, VW, Ford, Toyota, MAN, Daimler AG, Fiat, Renault, Robert Bosch GmbH, Sony, Hugo Boss, Maas-Naturwaren, Brax, Tommy Hilfiger, Bogner, Morgenland Apfelsüße/EgeSun, Aegean Exporters' Association (EIB), Fetullah Bingul und seine Tarim A.S., Rapunzel, Alnatura, Voelkel, Demeter, Naturland, Gepa, Migros, Delica, Varistor, Mehmet Ali Isik, Isik Tarim, Ferrero (Nutella, Duplo, Hanuta, Ferrero-Küsschen, Ferrero Rocher), Dovgan, Sönmez, Aldi, Lidl, Amazon & Co. usw.. Produkte aus der Türkei sind z.B. Erdgas, Autos, Elektrogeräte, Kleidung, Trockenfrüchte wie Rosinen, Sultaninen, Feigen, Aprikosen, Haselnüsse, Mandeln (Mandelmus von Alnatura), Pistazien, Oliven, Olivenöl, rote Linsen, und frische und tiefgefrorene Früchte wie Himbeeren, Erdbeeren, Heidelbeeren, Kirschen, Sauerkirschen, Pflaumen, Aprikosen, Äpfel. Gefrorene und eingemachte Himbeeren, Erdbeeren, Heidelbeeren in den Supermärkten stammen fast alle aus der Türkei oder aus China, was auch für die Früchte in den Marmeladen bzw. Pflaumenmus gilt. Biomarmeladen von Alnatura oder Eigenmarken der Supermärkte wie Tegut-Bio lassen z.B. bei Maintal Konfitüren GmbH produzieren, die ihre Früchte aus China oder der Türkei beziehen. Auch Halal-Produkte stammen in der Regel aus der Türkei oder anderen islamistischen Ländern wie Indonesien. Um das Herkunftsland Türkei zu verschleiern, schreiben Firmen wie Alnatura nur den Hinweis auf das Etikett: "Aus Nicht-EU-Landwirtschaft". Der Gesamtumsatz der Erdbeeexporte der Türkei liegt bei über 20 Millionen Euro; nach Hayrettin Ucac, Leiter der Aegean Exporters' Association (EIB) wurden 2017 fast 14 000 Tonnen Erdbeeren exportiert, 2018 schon über 20 000 Tonnen. Die Produzenten sind im Bezirk Sultanhisar in Aydin. Nach Fetullah Bingul, Geschäftsführer von Tarim A.S. stammen die Himbeeren aus Bursa (Türkei), Bosnien-Herzegovina und Kosovo. Auch die Plattformen Alibaba und Amazon verkaufen in Massen gefrorene türkische Himbeeren und Erdbeeren. 70 Prozent der Haselnüsse weltweit kommen aus der Türkei. Migros, Alnatura, Gepa, Rapunzel, Demeter und Naturland fördern Türkei-Projekte wie das "Happy Hazelnut Projekt" oder das "Happy Village Projekt". Was heißt das genau? Diese Firmen fördern z.B. nicht nur den Bau von architektonisch hässlichen islamischen Dörfern mit Moschee, Minarett, Muezzin und Koranschule für die Arbeiter, sondern indirekt auch den Islamismus und Terrororganisationen wie die PKK und die AKP. Beraten werden die Firmen oft von Mc Kinsey Turkey oder der Boston Consulting Group Turkey, die u.a. an Koranhochschulen wie Bilkent University, Koc University, Bogazici University oder Sabanci University tätig sind. Türkische Absolventen der BCG gehen oft in die Politik wie Danyal Bayaz, der bei den Grünen landete; sie sind bestens informiert wie man Geschäfte mit der Türkei machen kann, so dass der türkische Präsident weiter seine Hochseeflotte aufrüsten kann, um nach Zypern weitere Inseln vor der türkischen Küste zu erobern. "Für Renault z.B. ist die Türkei der achtgrößte Exportmarkt der Welt, auf dem der Autohersteller in der ersten Jahreshälfte 2020 immerhin mehr als 49000 Fahrzeuge verkaufte. Renault baut im türkischen Bursa auch Autos, und das schon seit 50 Jahren. Das Werk in der Nähe des Marmarameeres ist eine der größten Fabriken im Renault-Reich. Mit rund 6000 Mitarbeitern kann es jährlich rund 378000 Fahrzeuge und 920000 Motoren bauen. Anlässlich der Veröffentlichung seiner jüngsten Zahlen hatte Renault kürzlich noch berichtet, dass die Türkei aufgrund steigenden Absatzes ein Hoffnungsschimmer sei." VW bezieht minderwertige Autoteile aus der Türkei, weshalb VW-Motoren leichter in die Brüche gehen. VW hat zwar eine Großfabrik in Izmir abgesagt, betont aber, "dass die Türkei seit Jahrzehnten ein wichtiger Standort für das Unternehmen sei. Schon 1966 errichtete die Konzerntochtergesellschaft MAN ein Werk in Istanbul, 1985 wurde ein weiteres LKW-Werk und ein Motorenwerk errichtet. Zudem beziehe VW Teile von zahlreichen türkischen Zulieferungen." [156] 

22. In Ditib-Moscheen und auf türkischen Friedhöfen in Deutschland werden die Kriegsverbrecher Cemal Azmi und Bahattin Schakir, zwei der Hauptverantwortlichen für den Genozid an den Armeniern, als Märtyrer geehrt; Dschihad „made in Germany“

In Berlin-Neukölln, Columbiadamm steht die Ditib-Moschee „Schehitlik“. Der Name der bekanntesten Berliner Moschee, die sich hier, ganz in der Nähe des Tempelhofer Felds, befindet, leitet sich vom türkischen Wort für Märtyrer ab. "Direkt vor ihrem Eingang befindet sich ein helles marmornes Grabmal – mit islamtypisch dunkelgrünen Flächen und goldenen Lettern sticht es auf dem Friedhof deutlich hervor. Darin bestattet wurden Bahattin Schakir, ein Gründungsmitglied des seit 1908 im Osmanischen Reich regierenden jungtürkischen Komitees für Einheit und Fortschritt (KEF), und der einstige Gouverneur der osmanischen Provinz Trabzon Cemal Azmi. Beide kamen bei einem Attentat am 17. April 1922 in Berlin ums Leben – „ermordet durch armenische Terroristen“, wie die Grabinschrift auf Türkisch und Deutsch berichtet." Dabei waren die Armenier die Opfer der Türken. "Mehr als die Hälfte der 1,5 bis zwei Millionen Armenier sowie etwa 200 000 assyrische Christen waren 1915/16 im Osmanischen Reich Deportationen, Massenmord, Vergewaltigung und Versklavung zum Opfer gefallen. Diese zu rächen war das oberste Ziel eines armenischen Geheimkommandos: Die Operation „Nemesis“ war nach der griechischen Rachegöttin benannt und hatte sich gegründet, um die Hauptverantwortlichen für den Genozid zu töten." [157] 

Die für den Genozid verantwortliche jungtürkische Regierung ist an der Niederlage im Ersten Weltkrieg zugrunde gegangen. Der Offizier Mustafa Kemal, unter dessen Führung später aus der Konkursmasse des Osmanischen Reichs die türkische Republik entstehen sollte, war zwar persönlich daran nicht beteiligt – "dennoch erkannte er die Verantwortung der Türkei als Nachfolgestaat nicht an. Dass es sich um einen Völkermord handelte, ist wissenschaftlich längst erschöpfend nachgewiesen worden, dennoch wird dies von der Türkei bis heute geleugnet... Diese Haltung ist auch in der Berliner Ditib-Moschee am Columbiadamm zu spüren, deren Gelände Eigentum des türkischen Verteidigungsministeriums ist. Mit dem auffälligen Doppelgrab wurden zwei besonders brutale Verbrecher geehrt. „Du hast ohnehin nicht mehr viele Tage zu leben. Wir werden keinen einzigen Armenier am Leben lassen“, soll das Kind des einen zu einem armenischen Nachbarsjungen gesagt haben – der Schriftsteller Leon Surmelian, Sohn eines Apothekers aus Trabzon, der beide Eltern im Genozid verloren hat, musste später oft an diese Szene denken. Sein Nachbar, Gouverneur Azmi, war berüchtigt als „Henker von Trabzon“. Er soll zur sexuellen Befriedigung seines Sohnes einige der schönsten armenischen Mädchen im Alter von zehn bis 13 Jahren ausgesucht haben, bevor er die anderen im Meer ertränken ließ. 2003 wurde in der Türkei eine Grundschule nach ihm benannt. Bahattin Schakir, der andere, organisierte die Deportationen aus den Hauptsiedlungsgebieten der Armenier im Westen des Reichs und befehligte Todesschwadronen. Für ihre Taten waren Schakir und Azmi von Kriegsgerichten zum Tode verurteilt worden. Dem entgingen sie durch ihre Flucht ins Ausland, doch die „Nemesis“-Agenten folgten ihnen ins Exil. Was aber hatten die beiden – genauso wie der im Jahr zuvor getötete Talat Pascha – überhaupt in Berlin zu suchen? Die Attentate markieren nicht nur eine armenisch-türkische Tragödie, sie verraten auch viel über die ambivalente deutsch-türkische Geschichte." [158] 

Schon Kaiser Wilhelm II. und der osmanische Sultan hatten ihre Freundschaft demonstrativ zur Schau gestellt: In der spätosmanischen Zeit, die mit der Herrschaft Abdülhamids II. in der Türkei neuerdings besonders verklärt wird, waren die Beziehungen zum Deutschen Reich überaus eng. "Das revisionistische Geschichtsbild, das Recep Tayyip Erdogan in Bezug auf den Armenier-Genozid noch immer vertritt, bedeutet nicht, dass sich geschichtspolitisch in den vergangenen Jahren nicht einiges getan hätte: Mustafa Kemal Atatürk war als nationale Identifikationsfigur lange unantastbar, doch seine restriktive Religionspolitik wird heute verstärkt und zunehmend auch offen kritisiert. Die Zeit der osmani-schen Sultankalifen mit ihrer Herrschaft über ein Großreich wirkt inzwischen auf viele als die wahre romantische Verheißung der Vergangenheit für die Zukunft. Zu dieser Zeit gehörte auch eine enge deutsch-osmanische Verbindung, und sie war beiderseits gewinnbringend: Während Abdülhamid II. den britischen und französischen Einfluss in Nahost einhegen wollte und von deutschen Militärmissionen profitierte, freute man sich in Berlin, das seinen „Platz an der Sonne“ einforderte, über wirtschaftliche Mammutprojekte wie die Bagdadbahn und konnte sich zumindest einem „kulturellen Imperialismus“ hingeben... Die Massaker an der armenischen Minderheit, die unter Abdülhamid II. Mitte der 1890er Jahre verübt und vom Leiter der Deutschen Orient-Mission Johannes Lepsius dokumentiert wurden, haben Wissenschaftler bereits als „partiellen Genozid“ bezeichnet. Das verbündete Kaiserreich aber ignorierte das Leid der armenischen Christen im Nahen Osten weitgehend. Deutsche Offiziere gingen derweil in Konstantinopel ein und aus: Insbesondere an den Militärschulen war der preußische Drill eingekehrt. Ausgerechnet an diesen Orten aber gedieh, beeindruckt von technischen und ideologischen westeuropäischen Entwicklungen, die Opposition gegen den Sultan ganz besonders. Ende des 19. Jahrhunderts formierte sich die sogenannte jungtürkische Bewegung, die von einer besonders gebildeten osmanischen Elite getragen wurde und in der viele nicht nur die Frömmigkeit der einfachen Bevölkerung belächelten." [159] 

In Kairo vertraten viele Jungtürken eine sogenannte dezentralistische Position, die sich für Minderheitenrechte aussprach. "Hand in Hand mit den osmanischen Christen, so die Hoffnung, werde man der Herrschaft des Sultans ein Ende bereiten. In Konstantinopel feierten 1908 schließlich Armenier und Türken, Juden und Griechen gemeinsam die Wiedereinsetzung der osmanischen Verfassung. Die Christen hätten damals erwartet, dass nun auch die bürgerliche Gleichstellung folgen würde, schrieb der spätere „Nemesis“-Attentäter Schirakian in seinen Memoiren, aber: „Nur ein Jahr später, 1909, wurden 35 000 Armenier in Adana von einem türkischen Mob massakriert.“ Die vergleichsweise kurze Regierungszeit der Jungtürken in den zehn Jahren von 1908 bis 1918 liegt gewissermaßen als Fanal zwischen dem alten osmanischen System und der türkischen Republik; hier zeigte die Moderne ihre brutalste Seite. Im jungtürkischen Komitee für Einheit und Fortschritt (KEF), das die Regierungsgeschäfte des Osmanischen Reichs übernahm, spielte ein Mann, der als besonders kaltblütig galt, eine wichtige Rolle: Mehmed Talat, bald weltweit bekannt als Talat Pascha.Der persönlich ganz und gar ungläubige, aber die religiöse Erregbarkeit des Volkes kühl berechnende Mann gehörte jenem Zweig der Bewegung an, der von einem „reinen“ türkisch-muslimischen Staat träumte und unter dem Schlagwort Türk Yurdu („Türkische Heimat“) hart gegen nicht muslimische Minderheiten vorging. Gemeinsam mit den Paschas Enver und Cemal bildete Talat schließlich das sogenannte Triumvirat, das ab 1913 regierte und das Osmanische Reich an der Seite der Deutschen in den Weltkrieg führte. Der Sultan, inzwischen nurmehr eine Marionette der Jungtürken, beanspruchte als Kalif die geistige Oberhoheit über alle Muslime – was die deutschen Verbündeten zu einer beispiellosen Aktion inspirierte: Um die gesamte muslimische Welt gegen die feindlichen europäischen Großmächte aufzuwiegeln, ersonnen Strategen und Nahost-Kundige um Max von Oppenheim im Auswärtigen Amt in Berlin das Konzept eines Heiligen Kriegs, der unter muslimischen Kriegsgefangenen mithilfe einer Zeitschrift namens „El Dschihad“ propagiert wurde. Die Osmanen halfen bei diesem Dschihad „made in Germany“ kräftig mit – Großmufti Musa Kazim verkündete eine entsprechende Fatwa. Der Plan sollte kriegsstrategisch scheitern. Im Innern des Osmanischen Reichs aber, wo anti-armenische Reflexe lediglich reaktiviert werden mussten, wandte sich der religiös geschürte Hass umso erbitterter gegen die christliche Minderheit. Schirakian hat die Gewaltausbrüche in seinen Memoiren beschrieben: Auf der Konstantinopler Galata-Brücke geriet der damals 14 Jahre alte Junge in einen Aufmarsch kriegsbegeisterter Türken, die von einem Gottesdienst in der Neuen Moschee kamen. Die gegen das christliche Europa fluchenden Türken zerstörten Geschäfte sowie armenisch und griechisch geführte Restaurants, wobei sie penibel darauf achteten, nicht aus Versehen deutsche Einrichtungen zu treffen: „Die Rädelsführer schworen mit viel Gestik und Geschrei lautstark, einen Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen zu führen. Selbst in ihrer wild-religiösen Schwärmerei nahmen sie ihre deutschen Freunde sorgfältig aus.“  [160] 

Kristina Milz, Historikerin am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, fährt fort: "Der Genozid geschah im Auftrag des Staates: Der schriftliche Vernichtungsbefehl von Innenminister Talat Pascha, den der deutsche Botschafter Wolff-Metternich 1915 als „Seele der Armenierverfolgungen“ bezeichnete, ist öffentlich geworden. Die Regierung habe beschlossen, „alle Armenier, die in der Türkei wohnen, gänzlich auszurotten“, hieß es darin: „Ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder und Kranke, so tragisch die Mittel der Ausrottung auch sein mögen, ist, ohne auf die Gefühle des Gewissens zu hören, ihrem Dasein ein Ende zu machen.“ Der Aghet („Katastrophe“), wie Überlebende das Geschehen bezeichneten, spielte sich unter den Augen der Weltöffentlichkeit, nicht zuletzt der deutschen Bündnispartner, ab, deren Militärvertreter das Geschehen vor Ort beobachteten. „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht“, ließ Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg verlauten. Der Weltkrieg aber ging verloren, und die Flucht der in ihrer Heimat in Ungnade gefallenen jungtürkischen Verbündeten zu organisieren war die letzte deutsche Kriegshandlung in der Türkei, wie Rolf Hosfeld in seinem Buch „Operation Nemesis“ geschrieben hat: Die Flucht war lange vorbereitet worden; mit einem deutschen Torpedoboot trafen die Türken am 3. November 1918 im deutsch besetzten Krimhafen Sewastopol ein und reisten über Simferopol weiter nach Deutschland. Für das Unternehmen hatte die Seekriegsleitung absolute Geheimhaltung angeordnet. Das Kaiserreich selbst war von revolutionären Unruhen ergriffen, aber genau einen Tag nach Ausrufung der Republik, am 10. November 1918, erreichten die einstigen türkischen Führer, ausgestattet mit falschen Pässen, Berlin. Ungeachtet der neuen politischen Vorzeichen pflegte Talat Pascha fortan Kontakte in die höchsten deutschen Kreise. Seine große Wohnung in der Hardenbergstraße wurde sein Hauptquartier: Von hier aus zog er die Fäden der türkischen Nationalbewegung in Anatolien. Mustafa Kemal hielt er für eine nützliche Marionette: „Unsere Führung in Berlin steht mit den bewaffneten Kräften im Innern des Landes in enger Verbindung“, hielt Talats Gefährte Bahattin Schakir fest. Ein weiterer Treffpunkt der Gruppe war ein eleganter Tabakladen – dieser gehörte Cemal Azmi, geführt wurde er von dessen ältestem Sohn... Talat Paschas sterbliche Überreste wurden 1943 in einem Staatsakt unter militärischen Ehrenbezeugungen von den Nationalsozialisten nach Istanbul, wie Konstantinopel seit der Ära Atatürk auch offiziell genannt wird, überführt und am Denkmal für die jungtürkische Revolution beigesetzt. Den Leichnam holten sie vom Türkischen Friedhof in Berlin, wo sich auch die unscheinbaren Gräber Schakirs und Azmis befanden, in denen sie zunächst beerdigt worden waren. Erst 2011 wurden sie in dem strahlenden Weiß aufwendig erneuert, in dem wir sie heute dort finden."  In allen Ditib-Moscheen werden die Christenschlächter noch heute verehrt, "die 99 Namen Allahs" und antichtistliche Koranzitate herausposaunt:  „Wir alle sind im Islam geboren“. Das ist Erdogans Geschichtsbild, das in den Ditib-Moscheen in Deutschland verbreitet wird.  [161] 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

"Der blutige Sultan Abdul Hamid hat einen Ferman wider die Christen erlassen. Die Hunde des Propheten, Türken, Kurden, Tscherkessen, sammeln sich um die grüne Fahne, um zu sengen, zu plündern und das Armeniervolk zu massakrieren. Die Feinde aber haben nicht mit Gabriel Bagradian gerechnet. Er vereinigt die Seinen. Er führt sie ins Gebirge. Mit unbeschreiblichem Heldenmut wehrt er die Übermacht ab und schlägt sie zurück." - Franz Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh 

Vielfach konnte man nun die "Unsicherheit eines Barbaren, der einer überlegenen Kultur gegenübersteht" beobachten. Das Gesindel des Propheten hatte sich eingefunden, "die niedrigsten Parias des Propheten, volkloses halbarabisches Knechtsgesindel, das nun die seltene Möglichkeit benützte, sich anderen Menschen überlegen zu fühlen" - Franz Werfel, Ib.

Nach der Deportation der Armenier waren "die Bauern der mohammedanischen Nachbarschaft in die armenischen Obstgärten eingebrochen, um eine gute Ernte heimzuführen", man hörte ferner, "dass der mohammedanische Pöbel die Häuser schon bis auf den letzten Nagel und das letzte Fensterkreuz auszurauben begonnen habe." Zudem hatten Mohadschirfamilien, die aus Zilizien eingetroffen waren, die Erlaubnis bekommen, sich anzusiedeln. "Man erfuhr auch, dass sich in der letzten Woche einige Mollahs, islamische Kleriker, in den Dörfern gezeigt und die Kirchen besichtigt hätten, weil diese demnächst in Moscheen sollten umgewandelt werden." - Franz Werfel, Ib.

»Wie heißt Schelm oder Spitzbube auf Kurdisch?« »Schelm heißt Heilebaz, und Spitzbube Herambaz.« »So fragt diese Heile- und Herambazes, wie es ihnen gelungen ist, uns weg zu fischen!« »Hast Du gehört von Beder-Khan-Bey, von Zeinel-Bey, von Nur-Ullah-Bey und von Abd-el-Summit-Bey, den vier Mördern der Christen? Sie fielen von allen Seiten über uns her, diese kurdischen Ungeheuer. Sie zerstörten unsere Häuser, verbrannten unsere Gärten, vernichteten unsere Ernten, entweihten unsere Gotteshäuser, mordeten unsere Männer und Jünglinge, zerfleischten unsere Knaben und Mädchen und hetzten unsere Frauen und Jungfrauen, bis sie sterbend niederstürzten, noch in den letzten Athemzügen von den Ungeheuern bedroht. Die Wasser des Zab waren gefärbt von dem Blute der unschuldigen Opfer, und die Höhen und Tiefen des Landes waren erleuchtet von den Feuersbrünsten, welche unsere Dörfer und Flecken verzehrten. Ein einziger, fürchterlicher Schrei tönte durch das ganze Land. Es war der Todesschrei von vielen tausend Christen. Der Pascha von Mossul hörte diesen Schrei, aber er sandte keine Hülfe, weil er den Raub mit den Räubern theilen wollte.« »Ich weiß es; es muss grässlich gewesen sein!« »Grässlich? O, Chodih, dieses Wort sagt viel zu wenig. Ich könnte Dir Dinge erzählen, bei denen Dir das Herz brechen müsste. Siehst Du die Brücke, auf welcher Du über den Berdizabi gekommen bist? Über diese Brücke wurden unsere Jungfrauen geschleppt, um nach Tkhoma und Baz geführt zu werden; sie aber sprangen hinab in das Wasser, um lieber zu sterben. Keine Einzige blieb zurück. Siehst Du den Berg mit seiner Felsenmauer dort zur Rechten? Dort hinauf hatten sich die Leute von Lizan gerettet, weil sie sich dort sicher glaubten, denn sie konnten von unten gar nicht angegriffen werden. Aber sie hatten nur wenig Speise und Wasser bei sich. Um nicht zu verhungern, mußten sie sich Beder-Khan-Bey ergeben. Er versprach ihnen, mit seinem heiligsten Eid, die Freiheit und das Leben; nur die Waffen sollten sie abliefern. Dies geschah; er aber brach seinen Schwur und ließ sie mit Säbel und Messer ermorden. Und als den Kurden von dieser blutigen Arbeit die Arme weh thaten, da machten sie es sich leichter; sie stürzten die Christen von der neunhundert Fuß hohen Felsenwand herab: Greise, Männer, Frauen und Kinder. Von mehr als tausend Chaldani entkam nur ein Einziger, um zu erzählen, was da oben geschehen war. Soll ich Dir noch mehr erzählen, Chodih?« - K. May, durchs wilde kurdistan

»Dort gibt es,« fügte er hinzu, »sehr viele christliche Nestorah, auch Teufelsanbeter und kleine Kurdenstämme, mit denen die Berwari in Feindschaft leben. Diese Leute sind lauter Räuber und Mörder, und die Gebirge sind so wild und unzugänglich, dass Ihr nie den Zab erreichen würdet.« - Ib.

"Du musst nämlich wissen, dass es im Lande der Kurden zahlreiche Bären gibt, und« – fügte er mit einigem Stolze hinzu – »die Giaurs dieses Landes sagen, dass es zwei große Plagen für sie gebe, von denen die eine grad so schlimm sei, wie die andere, nämlich die Kurden und die Bären.« - Ib.

Wegen der "kurdischen Wegelagerer" muss man sich verkleiden: "Ihr müsst wie ein Türke oder wie ein Kurde gehen. Er sah mich mit einem unbeschreiblichen Blicke an, grad so, als ob ich ihm zugemutet hätte, sich selbst aufzuspeisen. Seine Mundstellung wäre dazu wohl nicht ungeeignet gewesen. »Wie ein Türke? Wie ein Kurde! Horribel, schauderhaft.« »Es geht nicht anders!« »Was anziehen?« »Türkische Pumphosen oder schwarzrote kurdische Beinkleider.« ... auf dem hohen, spitzigen Kopfe saß wie ein umgekehrter Kaffeesack die kurdische Mütze, von welcher lange Bänder wie die Fangarme eines Polypen herabhingen." - Ib.

"Als wir dann von ihr und ihren Leuten Abschied nahmen und ihr sagten, dass wir nicht über Kirmanschah, Kerind und Khanekin nach Bagdad zurückkehren würden, weil dies ein zu bedeutender Umweg für uns sei, riet sie uns, nach dem Tschaifu, einem Zuflusse des Djala, zu reiten, warnte uns aber von einem Zusammentreffen mit den räuberischen Hamawands und Dawuhdijehs, zwei ebenso »unternehmenden« wie »ruchlosen« Kurdenstämmen, die grad jetzt in Feindschaft miteinander lebten, weshalb die betreffende Gegend doppelt unsicher sei. Diese Warnung war gut gemeint, konnte uns aber nicht abhalten, die angegebene Richtung einzuschlagen, weil wir dies auch ohne den Rat der Umm ed Dschamahl gethan hätten, Wir hatten in Beziehung darauf, dass man die Kurden Räuber nennt, unsere eigenen, persönlichen Ansichten, welche sich aus unsern Erfahrungen und dem aus diesen entspringenden objektiven und unparteiischen Urteile ergaben." - Ders., Im Reiche des silbernen Löwen II

Aufrichtige Räuber: "Der Begriff des Wortes Raub und die Ansichten darüber sind bei diesen Leuten eben andere als bei uns. Wenn unsere darauf bezüglichen Anschauungen für den größten Teil des Orientes keine Geltung haben, dürfen wir nicht grad und speziell von den Kurden verlangen, dass sie sich ihnen zu ihrem materiellen Schaden fügen. Als ich mich einst mit einem dortigen hohen Beamten über diesen Punkt unterhielt, antwortete er mir, indem ich ein beinahe zweideutiges Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen sah: »Raub? Räuber? Allah bewahre dich vor Ungerechtigkeit! Ich kenne einen Mann, der in eurem Lande gewesen ist; außerdem hat er viel über euch gelesen und mir davon erzählt; ich weiß also, wie es steht: Bei uns giebt es den geraden, offenen, ehrlichen Raub, bei euch den höflichen, den heimlichen, den versteckten. Ihr nennt das Bankerott, Ruin, Krach, Trust, Gründung und Spekulation, womit ihr nicht etwa nur Fremde, sondern eure eigenen Stammesangehörigen schädigt. Ihr setzt den Leuten eure Messer in versteckter Weise auf die Brust; die, welche ihr hier Räuber nennt, tun das, indem sie es aufrichtig sagen, und nur gegen Fremde, gegen Feinde, niemals gegen einen, der zu ihrem Volke gehört. Welche Räuber sind da mehr zu tadeln, die unserigen oder die eurigen?« Ib.

"Allseitig wird anerkannt, dass die Türkenherrschaft ... nicht für alle Zeiten haltbar ist. Der Fremdkörper im Leibe Europas wird einmal ausgestoßen werden. Wann das geschieht, hängt von vielen Dingen ab, keineswegs bloß von Mittelmeerfragen." Ib.

"Oft, sehr oft wurde Damaskus erobert und in Trümmer gelegt, aber immer erhob es sich wieder mit neuer Lebensfähigkeit. Am meisten litt es unter Tamarlan, welcher im Jahre 1400 seine wilden Schaaren zehn Tage lang in den Straßen morden ließ; als darauf die Stille des Todes herrschte, hielt der Brand die Nachlese. Unter osmanischer Herrschaft hat die Stadt nach und nach immer mehr ihre Bedeutung verloren. Aus der ehemaligen Weltstadt wurde eine Provinzialstadt, der Sitz eines Gouverneur-Pascha, und Jedermann weiß ja, dass diese Art von Administratoren nur geeignet ist, das reichste Land der Erde arm und durch endlosen Steuerdruck den ergiebigsten Volkswohlstand bankerott zu machen." - K. May, Von Bagdad nach Stambul

"Heute spricht man von 200,000 Einwohnern, welche Damaskus besitzen soll; die Zahl 150,000 wird aber der Wahrheit näher liegen. Darunter sind etwas über 30,000 Christen und 3000 bis 5000 Juden. Kein Moslem, selbst der Mekkaner nicht, ist so fanatisch wie der Damaskese. Die Zeit ist noch nicht lange vorüber, in welcher ein Christ kein Kameel und kein Pferd besteigen durfte; er musste zu Fuß gehen, wenn er nicht auf einem Esel reiten wollte. Dieser Fanatismus, welcher so leicht zu blutigen Ausschreitungen führt, ist selbst heut noch ganz derselbe wie im Jahre 1860, in welchem Tausende von Christen niedergemetzelt wurden." Ib.

"Die fürchterlichen Vorspiele dazu begannen zu Hasbeya, am Westabhange des Hermon, zu Deïr el Kamr, südlich von Beirut, und in der Küstenstadt Saïda. In Damaskus hatte am 9. Juli des genannten Jahres der Mueddin um die Mittagsstunde eben zum Gebete gerufen, als sich der bewaffnete Pöbel, von Baschi-Bozuks angeführt, auf das Christenviertel stürzte. Jeder Mann und Knabe wurde erschlagen; mit den Frauen und Mädchen geschah teils Schlimmeres, teils wurden sie nach dem Sklavenmarkte geführt. Der Gouverneur Achmet Pascha sah ruhig zu." Ib.

»da war es das Gesicht des greulichen Kurden, rauh und stachlig, es war anzufühlen wie die Schnauze eines Schweines, das in seiner Gier ein Huhn lebendig verschluckt hat, und die Schwanzfedern stehen ihm zum Halse heraus«. Es ist frevelhaft, das einzelne so herauszureißen – aber diese Situation, diese Erwägung, dies Nachdenken der Schönen, während sie durch die Nacht hinsaust auf den Schultern des wüsten Räubers, dieser Augenblick der Entdeckung und dies unglaubliche Gleichnis, das uns mit eins in den hellen Tag, ins Gehöfte hinausweist und das man nicht vergisst – ich weiß nicht, wo Ähnliches zu finden wäre, außer dann und wann an den heitersten, naivsten, frechsten Stellen der Komödien des bezaubernden Lope de Vega." - Hugo von Hofmannsthal, Aufsätze 

„Ich habe den Koran intensiv studiert. Meine Studien überzeugten mich davon, dass es wenige Religionen in der Welt gegeben hat, die für die Menschheit so schädlich, negativ und tödlich waren wie die des Mohammed. So weit ich es beurteilen kann, ist sie die treibende Kraft hinter dem Verfall, der heute in der muslimischen Welt so deutlich wird. Obwohl der Mohammedanismus nicht ganz so absurd ist wie die Vielgötterei der alten Zeiten, sind seine sozialen und politischen Tendenzen meiner Meinung nach in höchstem Maße furchteinflößend. Daher sehe ich ihn im Vergleich zum Heidentum als Rückschritt, nicht als Fortschritt.“ - Alexis de Tocqueville, französischer Publizist, Politiker und Historiker


 

Anmerkungen

[1] Science Review Letters 2019, 18, Nr. 1067 und Kurs Nr. 619 Franz Werfel. Akademie der Kunst und Philosophie
[2] Franz Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh I, 1 
[3] Ib.; Die heutige Türkei hat sich zu ihren Greueltaten an den Christen immer noch nicht bekannt, sie hat aus der Geschichte nicht gelernt und auch der heutige Präsident nimmt nicht nur Sultan Abdul Hamid als Vorbild: "Der blutige Sultan Abdul Hamid hat einen Ferman wider die Christen erlassen. Die Hunde des Propheten, Türken, Kurden, Tscherkessen, sammeln sich um die grüne Fahne, um zu sengen, zu plündern und das Armeniervolk zu massakrieren. Die Feinde aber haben nicht mit Gabriel Bagradian gerechnet. Er vereinigt die Seinen. Er führt sie ins Gebirge. Mit unbeschreiblichem Heldenmut wehrt er die Übermacht ab und schlägt sie zurück," vgl. Kurse Nr. 619 Franz Werfel, Nr. 561 Sir Walter Scott, Nr. 557 - Ariosto, Nr. 556 - Torquato Tasso, Nr. 506 Wladimir Solowjew, Nr. 552 William Shakespeare. Ib. 
[4] Ib.
[5] I, 2; zu: Wie sahen türkische Ämter früher aus, die auch für die Christenverfolgung tätig waren? Dazu Werfel: "Ein türkisches Amtslokal, wie es Gabriel genau kannte. An der feuchten Wand, von der die Tünche bröckelte, ein unbeholfener Öldruck des Sultans und ein paar gerahmte Koransprüche. Fast alle Fensterscheiben zerbrochen und mit Spannleiste verklebt. Die schmutzstarrende Holzdiele vollgespuckt und mit Zigarettenresten übersät. An einem leeren Schreibtisch saß irgendein Unterbeamter, der schmatzend vor sich hin stierte. Eine Legion dicker Fleischfliegen gab ungehindert ein wildes und ekelhaftes Konzert. Rings um die Wände liefen niedrige Bänke. Ein paar Leute warteten. Türkische und arabische Bauern. Einer von ihnen hatte sich, ungeachtet der Widerlichkeit, auf den Fußboden gehockt, sein langes Gewand um sich verbreitend, als könne er von dem Unflat nicht genug erfassen. Ein säuerlicher Juchtengeruch von Schweiß, kaltem Tabak, Trägheit und Elend erfüllte den Raum," vgl. 3 und Kurs Nr. 350 Byzantinische Kunst und Architektur. Ib.
[6] Ib.
[7] Ib.
[8] Ib.
[9] Ib.
[10] Ib.
[11] Ib.
[12] Ib.
[13] I, 3; zu: Früher hätte man z.B. Früchte, Honig und Stoffe aus der Türkei ruhigen Gewissens kaufen können, denn die Produkte wurden von Christen erzeugt. Heute haben jedoch Mohammedaner die Aufgaben der deportierten Christen übernommen, weshalb es nicht sinnvoll ist Firmen zu unterstützen, die diese Produkte anbieten wie Brax, Boss, Maas, Rapunzel, Alnatura, Aldi, Lidl & Co. "Es war wirklich wie ein Wunder, als ob die Gottheit des Wassers, in geheimnisvoller Vorzeit durch den Wüstensohn, den Moslem, gekränkt, sich von dessen nackten, bittflehenden Höhen zurückziehe, um den christlichen Berg üppig zu begnaden. Die blumendurchwirkten Matten seiner Obsthänge, die satten Almen auf seinem faltenreichen Rücken, die schmiegsamen Wein-, Aprikosen- und Orangengärten an seinem Fuß, die Eichen und Platanen in den dunkeldurchmurmelten Schluchten, die Freudenausbrüche von Rhododendron, Myrtenblüten und Azaleen an heimlichen Stellen, die schutzengelhafte Stille, in die sich Herden und Halterbuben verdämmernd schmiegten, dies alles schien nur leicht gestreift zu sein von den Folgen des Sündenfalles, unter deren karstiger Trauer das übrige Kleinasien seufzt. ...Nur einige wenige Hütten aus ältester Zeit hatten nach orientalischer Sitte keine Fenster gegen die Straße zu", vgl. Kurse Nr. 505 Arthur Schopenhauer II, Nr. 613 St. Gregor von Nyssa, Nr. 350 Byzantinische Kunst und Architektur, Nr. 552 William Shakespeare II. Ib. 
[14] Ib.
[15] Ib.
[16] Ib.; zu: Christen hatten in der Türkei schon vor den Mohammedanern und ihren Allahpfaffen gelebt: »Wir Armenier haben einen verhängnisvollen Fehler, den Kleinmut. Er verleitet uns oft zur Selbsterniedrigung. Wir vergessen, dass wir eines der ältesten Kulturvölker der Erde sind. Madame, als die Gattin unseres Gabriel Bagradian, weiß es ja, dass wir als allererste Nation, lange vor Rom, das Christentum als Staatsreligion angenommen haben. Wir haben ein glänzendes Reich besessen, die Hauptstadt Ani mit ihren tausend Kirchen wie ein anerkanntes Weltwunder. Könige von armenischem Blute regierten Byzanz. Zu einer Zeit, da Frankreich noch in tiefer Barbarei schlief, hatten wir eine klassische Literatur. Ich selbst besitze Auszüge von markigen Autoren wie Lazar von Pharpi und Moses von Chorene. Doch auch heute müssen wir uns nicht verstecken. Selbst in diesem Nest hier, das nicht einmal eine anständige Straße besitzt, ist im Laufe der Zeit eine namhafte Bibliothek angewachsen ... Madame wird uns also gestatten, dass wir uns vor ihr nicht schämen«, vgl. Kurse Nr. 613 St. Gregor von Nyssa, Nr. 612 St. Johannes Chrysostomos, Nr. 618 St. Ephraim der Syrer, Nr. 350 Byzantinische Kunst und Architektur, Ib.
[17] I, 4
[18] Ib.
[19] Ib.
[20] Ib.
[21] Ib.
[22] Ib.; zu: Auch diese Handlungsweise entsprang deutlich dem Wesen des Türken, das aus "Dummschlauheit und ängstlichem Ruhebedürfnis" gemengt war. Er ließ zum Schutze "der mohammedanischen Bevölkerung eine »Bürgerwehr« ausrüsten, das heißt einige rasch zusammengetrommelte Hooligans bekamen ganz nach abdulhamidischem Muster je eine grüne Binde um den Arm und ein Mausergewehr in die Hand geliefert." Ein türkischer Jüs-Baschis wurde als Held gefeiert, war in Wirklichkeit jedoch "nur ein Schwachkopf", wie viele andere "Helden" aus der türkischen Armee auch; so konnten z.B. "hundert zerlumpte, höchst auffällige Gestalten spurlos durch eine Kette von mehr als viertausend geschulten Soldaten verschwinden", vgl. Anm. 5 ff und 21 ff..
[23] Ib.
[24] Ib.; zu: "Zeitun habe damit zu bestehen aufgehört, denn von nun an heiße es »Sultanijeh«, damit keine Erinnerung an einen Ort übrigbleibe... ein mohammedanischer Mollah, ein Stadtfremder übrigens, war bei ihm erschienen, die Kirchenschlüssel einzufordern. Die protestantische Kirche werde, wie er höflich mitteilte, bis zum Abendgebet in eine Moschee umgeweiht sein." Moslems bezogen, wie es auch in anderen muslimschen Ländern üblich ist, "die verlassenen Häuser oder besuchten sie zumindest. Sofort setzte ein schwunghafter Speditionsverkehr ein. Leiterwagen und Karren fuhren auf, Lastesel zotteten heran. Gemächlich wurden Teppiche, Kleider, Wäscheberge, Bettstellen, Möbel, Spiegel auf das Fuhrwerk und die Tragtiere verladen, als handle es sich um eine rechtmäßige Übersiedlung. Die Behörden wehrten diesem Treiben nicht. Sie schienen sogar dem türkischen Bodensatz – sofern nur die Verjagung der Armenier klaglos verlaufe – damit stillschweigend eine Prämie zu gewähren", vgl. Anm. 3 ff. und 22 ff. sowie Kurse Nr. 618 St. Ephraim der Syrer, Nr. 558 Calderon de la Barca, Nr. 350 Byzantinische Kunst und Architektur, Ib.
[25] I, 5
[26] Ib.
[27] Ib.; zu: Die Tatsachen können nicht mehr geleugnet werden, die Deportationen, Massenmord an Knaben und Männern, Schändung der Mädchen und Frauen durch Kurden, Banditen und das Militär selbst: »Hunderttausend Menschen sind bereits auf dem Wege der Verschickung. Die Behörden sprechen nur von Umsiedlung. Ich behaupte aber, dass dies, gelinde gesagt, ein Wortmissbrauch ist. Kann man ein Volk von Bergbauern, von Handwerkern, Städtern, Kulturmenschen mit einem Federstrich in der mesopotamischen Wüste und Steppe ansiedeln, in einer ozeanweiten Einöde, die sogar von den Beduinenstämmen geflohen wird? Und selbst dieses Ziel ist doch nur eine Finte. Denn die Ortsbehörden richten die Deportation so ein, dass die Elenden schon während der ersten acht Tagesmärsche durch Hunger, Durst, Krankheit umkommen oder wahnsinnig werden, dass man die widerstandsfähigen Knaben und Männer durch Kurden oder Banditen, wenn nicht gar durch Militär, umbringen lässt, dass die jüngeren Mädchen und Frauen der Schändung und Verschleppung geradezu aufgedrängt werden ...«, vgl. Anm. 24 ff.
[28] Ib.; zu: Dabei sind grundsätzlich immer islamische Länder verloren, wenn sie nicht von Christen geführt werden; diese Länder versinken in Chaos wie die heutige Türkei, Syrien, Libanon, Lybien usw. Sogar der General gibt zu, dass die Türken dumm wie Bohnenstroh sind. Später beweist er seine Schwachköpfigkeit, indem er die Armenier als Pestbazillus bezeichnet. "Ohne die armenische Millet sei das türkische Reich wirtschaftlich, kulturell und infolgedessen auch militärisch verloren... Damals schon hätten die zilizischen Armenier aus Europa Hunderte von Dreschmaschinen und Dampfpflügen bezogen, womit sie den Türken einen trefflichen Anlass zur Metzelei gaben, denn diese ermordeten nicht nur die zehntausend Leute von Adana, sondern schlugen auch die Dreschmaschinen und Dampfpflüge in Stücke. Hierin aber und nirgendwo anders stecke der Grund alles Übels," vgl. Anm. 16 und 29 f.
[29] Ib.
[30] Ib.
[31] Ib.; zu: Auch heute stellt sich die Frage, warum hatte man die Türkei damals nicht aufgeteilt, dann hätte es später auch nicht einen weiteren Exodus der griechischen Christen gegeben; Konstantinopel und die kleinasiatische Küste wäre griechisch geblieben und die Türken hätten sich in ein Gebiet um Ankara zurückziehen müssen. Noch heute muss sich die EU und die Nato deshalb mit der Piratenrepublik Türkei - fast ohne Christen - herumschlagen  "In welcher Verhandlungslage aber wird sich die ottomanische Friedenskommission befinden, wenn man sie mit der Frage empfangen wird: Wo ist dein Bruder Abel? Eine höchst peinliche Situation. Und die Mächte des Sieges werden, was Gott verhüten möge, im Hinblick auf die große Schuld rücksichtslos die Beute verteilen. General Enver Pascha, wie wird sich in einem solchen Fall der größte Mann seines Volkes, der alle Verantwortung übernommen hat, dessen Wille allmächtig war, wie wird er sich dann vor diesem seinem eigenen Volk verteidigen?«, vgl. Anm. 28 ff. und Kurse Nr. 554 Friedrich Hölderlin, Nr. 552 William Shakespeare II, Nr. 350 Byzantinische Kunst und Architektur I-II, Ib.
[32] Ib.; zu: Wie damals glaubt auch die heutige Türkei, die EU werde der Türkei Geld geben für ihre Angriffskriege; niemand ist dazu natürlich bereit - ausser Merkel-Deutschland mit dem augenklimpernden Aussenminister Maas und den Firmen, die ihr Geld in der Türkei in den Sand setzen wie VW, Bosch, Boss, Maas, Brax usw. Der heutige Präsident der Türkei "denkt an sein Kalifenreich" wie Enver Pascha aber er träumt nicht mehr "von neuen Erwerbungen für seinen zauberhaften Palast", sondern hat ihn schon in all seiner Hässlichkeit im Naturschutzgebiet von Ankara gebaut., vgl. Anm. 31 ff.
[33] Ib.
[34] Ib.; zu: Es müssen neue Mittel und Wege ersonnen werden, aber wie zur Zeit der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken, kann man sagen, die "päpstlichen Ermahnungen waren bisher zu lau". Die EU und Nato gab es noch nicht, allerdings ist ihre Reaktion heute auch nicht besser als die der Mächte damals, vgl. Anm. 31 ff.
[35] I, 6
[36] Ib.
[37] Ib.
[38] Ib.; zu den "Schurkereien" und "Metzeleien" der Türken bzw. Osmanen unter den Christen bekennen sich die Türken bis heute nicht: "Unter den älteren Menschen hier gebe es wohl keinen, der nicht die Metzeleien der früheren Zeit verspürt habe, wenn nicht am eigenen Leib, so doch in dem Todesleiden von Anverwandten drüben in Anatolien. Dabei habe Christus mit unverdienter Huld über dem Musa Dagh gewacht. Gesegnete Jahre lang sei Frieden in den Dörfern gewesen, während zu gleicher Zeit die Volksgenossen in Adana und anderswo zu Zehntausenden abgeschlachtet wurden. Man müsse aber genau unterscheiden zwischen Massaker und Austreibung. Ersteres daure vier, fünf, schlimmstens sieben Tage. Der Tapfere finde immer Gelegenheit, sein Leben teuer zu verkaufen. Schlupfwinkel für Frauen und Kinder seien rasch vorbereitet, der Blutdurst des rasenden Militärs verrauche bald, selbst den tierischesten Saptieh ergreife nachher Ekel. Die Regierung habe diese Metzeleien zwar immer selbst veranstaltet, sich aber nie zu ihnen bekannt. Sie entstanden aus der Unordnung und gingen in der Unordnung unter. Die Unordnung sei aber noch der beste Teil dieser Schurkereien gewesen", vgl. Anm. 24 ff. und Kurse Nr. 616 St. Gregor von Nazianz, Nr. 613 St. Gregor von Nyssa, Nr. 552 William Shakespeare II, Ib.
[39] Ib.; Die islamische Türkei war weder früher noch ist sie heute ein Staat, sondern eher eine Räuberkolonie: "Staat, das war der Saptieh, der einen ohne Grund schlagen und in Haft nehmen durfte, Staat, das war der Steuerbeamte und -pächter, der in die Häuser einbrach und raubte, was ihm geeignet schien, Staat, das war die schmutzige Kanzlei mit dem Sultanbild, den Koransprüchen und dem vollgespuckten Estrich, wo man Bedel entrichtete, Staat, das war die Kaserne mit dem öden Hof, wo man als Soldat dienen musste, wo der Tschausch oder Onbaschi Faustschläge austeilte und für den Armeniersohn eine eigene Bastonnade vorrätig war," vgl. Anm. 38 ff.
[40] Ib.
[41] I, 7; zu: Noch vor den Vertreibungen der Christen zwischen 1915 und 1917 gab es die "klassischen Metzeleien Abdul Hamids" bzw. die Untaten "Seiner Majestät des Sultans Hamidijehs", wie der Räuberhauptmann auch genannt wurde, vgl. Anm. 38 ff.
[42] Ib.
[43] Ib.; zu: Vielfach konnte man nun die "Unsicherheit eines Barbaren, der einer überlegenen Kultur gegenübersteht" beobachten. Das Gesindel des Propheten hatte sich eingefunden, "die niedrigsten Parias des Propheten, volkloses halbarabisches Knechtsgesindel, das nun die seltene Möglichkeit benützte, sich anderen Menschen überlegen zu fühlen," vgl. Anm. 38 ff. und Kurse Nr. 568 Nicolaus Cusanus I, Nr. 612 St. Johannes Chrysostomos, Nr. 611 St. Johannes Cassianus, Ib.
[44] Ib.
[45] Ib.;zu: Seitdem dieses Haus steht, seit dem Jahre 1870 also, wird heute zum erstenmal ein Einbruch verübt.« Eine Räuberkolonie wie die moslemische Türkei, gekennzeichnet durch die Halbmond-Räuberflagge, kann natürlich nicht überall gleichzeitig einbrechen, aber im Laufe der Jahrzehnte kommt zumindest jeder Christ als "Ausrottungsobjekt" einmal an die Reihe. Wie sieht der "Vandalismus" aus, wenn diese Räuber einbrechen? "Die Türken krochen in jeden Winkel, klopften die Mauern ab, warfen die Möbel um und zerbrachen alles, was zerbrechlich war... Im Keller zerschlugen sie nur im Vorübergehen und ohne rechtes Temperament mit ihren Gewehrkolben die Weinkrüge, die Ölbehälter und was an Flaschen, Töpfen, Schüsseln, Häfen zu finden war. Die wichtigsten Vorrats- und Lebensmittel waren schon an sicherer Stätte. Die enttäuschten Saptiehs hatten in diesem Palast einen reicheren Keller erwartet. Da sich nichts anderes fand, nahmen sie ein paar leere Petroleumkannen mit, denn der Orientale hegt für diese Blechgefäße eine sonderbare Vorliebe. Nachher erstürmte die Kriegsschar, die einen sauren Schweißdunst verströmte, die Treppe zum Oberstock. Hier war es vor allem Juliettens Schlaf- und Ankleidezimmer, dessen Duft die Türken schon von ferne so mächtig anzog, dass sie darüber die anderen Räume vergaßen. Der große Kleiderschrank wurde aufgerissen. Braune Schmutzfäuste rissen die Pariser Modelle vom vorigen Jahr heraus, zartsinnige Blüten von Kleidern, die nun in zerknüllten Bündeln und Schlangen auf dem Boden lagen. Ein besonders düsterer Gendarm trat auf ihnen in stierem Gleichtakt herum, als wolle er diese süßen Reptilien Europas in den Grund stampfen. Nicht anders erging es den Schlafgewändern, Batisthemden, Spitzen und Strümpfen. Beim Anblick dieser Frauenwäsche konnte sich der Polizeivogt nicht beherrschen. Er schöpfte mit beiden Händen aus dem weißen und rosenroten Gischt und wühlte sein Nussknackergesicht hinein.... Ein andrer hieb mit seinem Knüppel über den Toilettentisch. Aufschreiend sprangen die Kristallflaschen, Schalen, Büchsen und Dosen zu Boden, einen stechenden Wohlgeruch verbreitend. Der Knüppel fuhr in den Spiegel; der nach allen Seiten zerspritzte." Nach Räubersitte sollten die Taten möglichst geheim bleiben: "In den Ausführungsbestimmungen der Deportation wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass die Maßregel vor den Augen der verbündeten und neutralen Konsularvertreter aufs dichteste zu verschleiern sei.", vgl. Anm. 39 ff. 
[46] II, 1
[47] Ib.
[48] Ib.
[49] Ib.
[50] Ib.
[51] Ib.
[52] Ib.
[53] Ib.; zu: Selbst heute noch gelten die türkischen Soldaten als Memmen, die zwar Städte und christliche Kirchen bombardieren können, wenn es jedoch ernst wird, wenn Christen ihnen gegenüberstehen, was passiert dann? "Die Türken warfen die Gewehre fort, als hätten sie den Teufel erblickt." Damals ging es darum, die flüchtenden Türken zu jagen, es "diesem niedrigsten Raubzeug des Militarismus heimzuzahlen, diesen bestialischen Memmen, die gegen Großmütter tapfer waren, vor Männern aber schlotterten, ehe sie diese nicht dreimal entwaffnet hatten", vgl. Anm. 45 ff.
[54] Ib.
[55] Ib.
[56] II, 2; zu: die Ehre des Kriegshandwerks gerät bedenklich ins Wanken, wenn intelligente Christen "die gewerbsmäßigen Helden gewissermaßen im Nebenberuf" gründlich verbleuen. "Das schlechte, jedoch um so denkfaulere Gewissen der Welt, die Presse der jeweiligen Machtgruppen und das durch sie verschnittene Hirn ihrer Leser haben das Ding immer nur so gedreht und verstanden, wie sie es gerade brauchten" , so wie die heutige Reaktion der EU und Nato auf türkische Angriffskriege in Nordzypern und Syrien,  vgl. Anm. 45 ff. und Kurs Nr. 552 William Shakespeare II, Ib.
[57] Ib.
[58] Ib.; zu: Nach der Deportation der Armenier waren "die Bauern der mohammedanischen Nachbarschaft in die armenischen Obstgärten eingebrochen, um eine gute Ernte heimzuführen", man hörte ferner, "dass der mohammedanische Pöbel die Häuser schon bis auf den letzten Nagel und das letzte Fensterkreuz auszurauben begonnen habe." Zudem hatten Mohadschirfamilien, die aus Zilizien eingetroffen waren, die Erlaubnis bekommen, sich anzusiedeln. "Man erfuhr auch, dass sich in der letzten Woche einige Mollahs, islamische Kleriker, in den Dörfern gezeigt und die Kirchen besichtigt hätten, weil diese demnächst in Moscheen sollten umgewandelt werden," alles Methoden, die seit jeher von Türken angewandt wurden und noch immer aktuell sind, vgl. Kurse Nr. 562 Dante Alighieri, Nr. 557 Ludovico Ariosto, Nr. 556 Torquato Tasso, Nr. 558 Calderon de la Barca, Nr. 350 Byzantinische Kunst und Architektur.Ib. 
[59] Ib.
[60] Ib.
[61] Ib.
[62] Ib.
[63] Ib.; zu "Türkenhunden" vgl. Anm. 56 ff.
[64] Ib.
[65] Ib.; zu: "Schon bloß das Ereignis genügte, um das ganze mohammedanische Land von dem neuen Christensieg, von dem Verluste der türkischen Artillerie, von der Uneinnehmbarkeit des Damlajik und von der offenkundigen Tatsache in Kenntnis zu setzen", dass Christen letzendlich siegen werden, wie z.B. schon der Der Hl. Jakobus gezeigt hat, indem er als Ritter in der Schlacht von Clavijo 844 das christliche Heer gegen die muslimsichen Mauren zum Sieg geführt hat, vgl. Kurse Nr. 320 Romanische Kunst und Architektur , Nr. 325 Kunst und Architektur der Gothik, Nr. 326 Kunst und Architektur der Renaissance, Nr. 350 Byzantinische Kunst und Architektur. Ib.
[66] II, 3
[67] Ib.; zu: "Turbanträger erkletterten die Feuerleiter der Kirche und bewegten sich im leeren Glockenturm seitlich der großen Kuppel. Langgedehnte Töne eines ganz dünnen Stimmchens wurden hörbar, nein, ahnbar, die in die vier Weltrichtungen verhallten. Vom Hause Christi schickte der Gebetrufer des Propheten die klagende Lockmelodie aus, die jeden Moslem erzittern lässt" und die nun aus allen Flecken, Weilern, Hütten des öden Landes die Allahbesessenen in die Dörfer des Musa Dagh zu verführen schien. Das Schicksal der Kirche »Zu den wachsenden Engelmächten«, die Awetis der Alte errichtet hatte, war besiegelt. "Die Absicht dieser Neusiedlung aber verstand er noch nicht ganz. Vielleicht war es die wirkliche, vielleicht nur die demonstrative Landnahme eines christlichen Bezirkes durch den Islam," vgl. Anm. 58 ff. 
[68] Ib.
[69] Ib.
[70] Ib.
[71] Ib.
[72] Ib.; zu: "Der Kaimakam hatte nun den guten Einfall, die immer unbotmäßigere arabische Bevölkerung seines Bezirkes auf Kosten der Armenier für sich zu gewinnen. Zugleich auch hoffte er, durch Neuentflammung des islamischen Fanatismus an sein Ziel zu kommen. Das armenische Eigentum war kraft des Verschickungsgesetzes samt und sonders dem Staate verfallen; so stand es wenigstens auf dem Papier. In Wirklichkeit aber blieb es dem Ermessen der Provinzbehörden überlassen, damit zu machen, was sie wollten. Der Kaimakam von Antakje schickte schon am ersten Tage nach der Niederlage der Truppen seine Beamten in alle Kreise mit starker arabischer Bevölkerung, die nicht allzu fernab vom Musa Dagh lagen. Dort ließ er verkünden, dass der fruchtbarste Landstrich Syriens zwischen Suedja und dem Ras el Chansir mit Wein- und Fruchtgärten, mit Raupen- und Bienenzucht, mit Wasser- und Holzreichtum, mit Häusern und Höfen an alle diejenigen unentgeltlich verteilt werden solle, welche sich am übernächsten Tage rechtzeitig in dem armenischen Tale einstellen würden...Nach achtundvierzig Stunden waren die Dörfer ebenso dicht bevölkert wie früher. Reich gewordene Araber und Türken verbrüderten sich. Niemals hatten sie schönere Häuser gesehen. Es war beinahe zu schade, darin zu wohnen. Aus den Kirchen hatte man im Handumdrehen Moscheen gemacht." Schon am ersten Abend fand ein Götzendienst statt. Die Mollahs dankten Allah für den neuen herrlichen Besitz.  "Die Männer verließen mit funkelnden Augen die Moscheen. Auch sie wünschten heiß, der beraubten Vorgänger schnell ledig zu sein, damit ein leises, recht unbehagliches Mißgefühl aus ihren anständigen Bauernseelen verschwinde.", vgl. Anm. 58 ff. und 78 ff.
[73] Ib.
[74] Ib.
[75] Ib.
[76] Ib.
[77] Ib.
[78] Ib.; zu: "Doch nicht nur die Soldaten, die Saptiehs und Tschettehs, alle Moslems der ganzen Landschaft seien plötzlich mit Mausergewehren und Bajonetten bewaffnet und die Offiziere bildeten aus ihnen Abteilungen", vgl. Anm. 72 ff.
[79] Ib.; zu: "Als einzige Neuigkeit erfuhr Bagradian nur, dass vom Dach seiner Villa die Halbmondflagge wehe, dass im Hofe eine Menge Pferde zusammengekoppelt seien und Offiziere ein und aus gingen. Es war demnach klar, dass sich im Hause Bagradian das Hauptquartier der Türken befand", vgl. Anm. 45 ff. und 78 ff.
[80] Ib.
[81] Ib.
[82] Ib.; zu: "Er versammelte die Offiziere um sich und befahl ihnen, ihren Zügen zu verkünden, dass jeder Soldat, der während des nächsten Aufstiegs umkehre und zurücklaufe, unbarmherzig niedergemacht werde. Eigens zu diesem Henkersberufe legte er die Saptiehs und Tschettehs in langer Linie in die Einbuchtungen der Vorberge. Sie bekamen den scharfen Befehl, gegen die zurückflutende Infanterie sofort das Feuer zu eröffnen. Diese Aufgabe zu übernehmen, weigerten sich die Saptiehs und Freischärler nicht. Zugleich ließ der Major im Gelände der Aprikosen- und Weingärten eine dritte, sehr lange Linie aufmarschieren, die bewaffneten Dorfbewohner, zu denen sich ein Teil ihrer Frauen gesellte", vgl. Anm. 78 ff.
[83] Ib.
[84] Ib.; zu: "Auch eine recht erhebliche Anzahl von mutigen Weibern war den Moslems gefolgt. Als diese hinter den Bäumen der Eichenschlucht versteckten Frauen den Erfolg der Ihren sahen, brachen sie wie wahnsinngeschüttelte Mänaden aus dem Wald, fassten einander an den Händen, bildeten eine Kette, und aus ihren Kehlen pfiff ein langes eigenartiges Schrillen, Zilgith, der uralte Schlachtruf islamischen Weibervolks", vgl. Anm. 82 ff.
[85] Ib.
[86] Ib.
[87] Ib.
[88] Ib.
[89] Ib.; wie schon von Cervantes, Tasso, Ariosto, Gregor von Nyssa besungen, war die Natur und ihre Naturgewalten auf der Seite der Christen und kämpfte mit gegen die "Söhne des Propheten" und Götzendiener : "Viele warfen die Waffen fort, denn sie hinderten sie beim Springen und Rennen in dieser dornig-tückischen Weglosigkeit. Selbst das innere Leben des Armenierberges schien an der grausamen Vernichtung teilzunehmen. Das Dickicht wucherte gehässig hoch und höher. Die Bäume blähten sich listig auf. Peitschende Gerten und Schlingpflanzen ringelten sich um die Söhne des Propheten und brachten sie zu Fall. Wer gefallen war, blieb liegen. Der Todesgleichmut seiner Rasse überkam ihn, und er wühlte seinen Kopf in das stachlige Nest...Diese himmlische Erscheinung, dieses Zeichen und Wunder sondergleichen warf die glaubensbereiten Weiber nieder wie die Ankunft des Jüngsten Gerichts. Und als dann, ein wenig später, der Bergrand selbst zu glosen und zu lodern begann, da war's für eine natürliche Erklärung zu spät." Jesus Christus und nicht Mohammed der Prophet der Ungläubigen, "hatte die Sonne seiner Macht hinter dem Berge aufgehen lassen, und die armenischen Dschinns des Musa Dagh schützten im Bunde mit den Kirchenheiligen Petrus, Paulus, Thomas und vielen anderen ihr Volk. Die alte Theorie von den Übermächten, die den Armeniersöhnen beistanden, fand in dieser Stunde die stärkste Bestätigung. Doch nicht nur die unbelehrten Weiber waren von ihr erfüllt. Auch die Mollahs, die im Glockenturm und auf dem Rundgang der Kirchenkuppel von Yoghonoluk dieses Wunder beobachteten, verließen fluchtartig das moscheegewordene Weihtum »Zu den wachsenden Engelmächten«, vgl. Kurse Nr. 562 Dante Alighieri, Nr. 557 Ludovico Ariosto, Nr. 556 Torquato Tasso, Nr. 613 St. Gregor von Nyssa, Ib.
[90] Ib.
[91] Ib.
[92] Ib.
[93] II, 4
[94] Ib.
[95] Ib.; zu:  im Tale hatten sich "Horden muselmanischer Halbwüchsiger" gebildet, ähnlich wie die "Muslim-Horden" in Pakistan und inzwischen auch in Deutschland, zu deren Portfolio u.a. Massenvergewaltigungen gehören, vgl. Kurse Nr. 544 Staats- und Rechtslehre II, Nr. 545 Sittenlehre, Nr. 505 Arthur Schopenhauer II, Ib.
[96] Ib.
[97] Ib.; zum "Weiber-Mischmasch des Islams" und über türkische Männer und ihre Frauen im Harem schreibt Lord Byron ganz treffend folgendes: "Sie halten sie wie Hunde (im Vertraun / Gesagt) und kaufen sie, wie wir ein Pferd; / Zwar viele sind's, doch sieht man nichts davon", verschleiert werden sie, was heute sogar in Europa erlaubt ist: "Sie bleiben stets verschleiert und bewacht / Und sehen kaum die männlichen Verwandten"; auch die Einfältigkeit der Türken zeigt sich an den Frauen: "Da Türken nicht gesprächig sind, so kannten / Die Fraun von je kein anderes Vergnügen, / Als Bäder, Liebe, Putz und Kinderkriegen / Sie wissen nichts von Lesen oder Schreiben, / Von Kritisiren oder Versemachen; / Journale, Predigten, Romane bleiben / Wie Geist und Witz für sie stets fremde Sachen, – / Die Bildung würde sie zum Aufruhr treiben!". Lord Byron schlägt daher vor, da sie ausser den ein oder anderen lügenhaften Koranvers, weder Literatur noch wahre Philosophie kennen, sie zu christianisieren: "Die armen kleinen Türkenfraun genießen / Nichts von so lehrreich liebenswürd'gen Leuten; / Sie würden als ein Wunder sie begrüßen, / Als hörten Glocken in Moscheen sie läuten. / Ich glaub', es wär' der Mühe wert, wir ließen – / Der beste Plan schlägt freilich fehl zu Zeiten – / Als Missionar solch einen Herrn hinreisen, / Im Christlichsprechen sie zu unterweisen" vgl. Anm. 95 und Kurs Nr. 621 Lord Byron, Ib.
[98] III, 1
[99] Ib.
[100] Ib.
[101] Ib.; zu: "So stellt sich der Pastor die großen Kalifen vor, Bajazid, Mahmud den Zweiten, vielleicht den Propheten selbst. Ein durch Fanatismus verzehrtes Gesicht, dessen blauschwarzer Bart beinahe bis unter die Augenhöhlen vordringt. Der starre Blick, der an nichts hängenbleibt, kennt keine Gnade, weder für den Feind noch auch für den Freund. »Das ist der Türbedar von Brussa«, hört Lepsius und bekommt die Aufklärung, dass man mit diesem Titel ein sehr hohes symbolisches Amt bezeichne", nämlich den Wächter über die Grabstätten der Sultane und islamischen (Schein)-Heiligen. Der Mann sei überdies ein großer Gelehrter, vor allem in den "koranischen Wissenschaften". Von der wahren Philosophie hat er allerdings keine Ahnung, vgl. Kurse Nr. 609 St. Athanasius der Große, Nr. 612 St. Johannes Chrysostomos, Nr. 511 Johann Gottlieb Fichte, Ib.
[102] Ib.
[103] Ib.
[104] Ib.
[105] III, 2
[106] Ib.; zu: "Dankt es Christus, dem Erlöser, dass euch der Onbaschi nicht gesehen hat. Gestern haben sie dort unten an der Biegung fünf Armenier erschossen, eine Familie, die nach Alexandrette wollte." - Eine ganz gewöhnliche Begebenheit in der Türkei, vgl. Anm. 41 und Kurse Nr. 552 William Shakespeare II, Nr. 621 Lord Byron, Ib.
[107] Ib.
[108] Ib.
[109] Ib.
[110] Ib.
[111] Ib.; zu: Einige türkische Bauern halfen den Armeniern obwohl auf das Verbrechen des Mitleids mit Armeniern laut den neuen Gesetzen Bastonade, Gefängnis, und in schweren Fällen der Tod stand. "Hunderte von gutherzigen Türken rings im Land, denen das unmenschliche Elend der Deportierten das Herz zerbrochen hatte, wussten ein Lied davon zu singen." Allerdings nicht in allen Dörfern waren die Bauern so freundlich zu den Armeniern, vgl. Anm. 95 und 114
[112] Ib.
[113] Ib.
[114] Ib.; zu: Moslem-Bauern waren in der Regel weniger freundlich: »Bist du beschnitten oder unbeschnitten, Junge?« Stephan verstand nicht. Jetzt erst schmolz sein zutrauliches Lächeln zu einem angstvollen Frageblick. "Sein Schweigen erregte den Zorn der beiden Moslems. Harte eifernde Laute hagelten auf ihn nieder. Er wusste trotz ihrer Ausrufe und Gebärden immer weniger, was sie von ihm wollten. Da riss dem Schwarzbart die Geduld. Er packte den Knienden unter den Armen und zog ihn hoch. Der Graue aber entblößte ihn und untersuchte genau, was zu untersuchen war. Nun hatten sie die Bestätigung. Der verschlagene Armenierjunge, der sich stumm und taub stellte, war ein frecher Spion, den die Bergkämpfer ausgesandt hatten. Da war keine Zeit zu verlieren. Sie stießen den taumelnden Stephan vor sich her, den schmalen Talweg von Ain Jerab hinab bis zur großen Straße. Dort hielten sie ihn fest, bis der erste leere Ochsenkarren aus der Umgebung von Antakje des Weges nach Suedja kam. Der Fuhrmann musste sofort im Namen des öffentlichen Dienstes sein Ziel ändern. Die Schergen hoben ihren Gefangenen in das Gefährt... Dies alles war nicht ereignisreich, doch so ruhig schön, dass Stephan den Saptiehposten gar nicht bemerkte, der vor Wakef auftauchte. Einer der beiden Gendarmen setzte sich als Verstärkung zu dem Schwarzbart auf den Karren und hielt die Füße des Gefangenen fest. In Wakef aber schloss sich eine größere Abteilung von Saptiehs an. Je weiter man im Dörfertal vorwärtskam, um so größeres Aufsehen erregte die Eskorte. Eine beträchtliche Menge der neuen Haus- und Grundbesitzer folgte ihr, Männer, Weiber, Kinder. Lange vor Mittag noch erreichte der Zug den Kirchplatz von Yoghonoluk. Eine tausendköpfige Menschenmenge hatte sich zusammengerottet, darunter auch die vielen alten und neuen Soldaten, die jetzt in den Dörfern garnisonierten. Schnell wurde der rothaarige Müdir aus der Villa Bagradian zur Stelle geholt. Die Saptiehs stießen Stephan vom Karren. Er musste sich auf Befehl des Beamten völlig entkleiden, denn vielleicht verbarg er auf dem nackten Körper irgendeine Schrift. Der Bagradiansohn gehorchte lautlos und voll ruhiger Gelassenheit, was die Menge, als ein Zeichen tiefer Verstocktheit, heftig aufbrachte. Ehe er noch ganz nackt dastand, erhielt er von irgend jemand einen Hieb über den Hinterkopf. ...Da traf Stephan der erste Messerstich in den Rücken. ... Die erste, die den verstümmelten Leichnam nach Einbruch der Nacht entdeckte, war Nunik. Die Saptiehs hatten ihn, nackt wie er war, gleich nach der Massakrierung auf den Friedhof von Yoghonoluk geworfen. Nunik kam gerade zurecht, um ihn vor den wilden Hunden zu retten. ... Die Totenweiber gingen sofort an die Arbeit. Sie reinigten den zerfetzten Körper des schönen Knaben von Blut und Schmutz," vgl. Anm. 106 und 111 
[115] III, 3
[116] Ib.; zu: Hauptsache man führte kein Leben, "niedriger, grauenhafter als die primitivsten Moslems!", vgl. Anm. 97
[117] Ib.
[118] III, 4; zu: "Die Leute des Musa Dagh freilich konnten nicht wie die ostanatolischen Aufständischen von Wan und Bitlis mit dem Einmarsch der Russen rechnen, die den Todfeind der Armenier, General Dschewjed Pascha, vor sich hertrieben. Das unendliche Land des Islams mit Berg und Steppe umbrandete sie noch erbarmungsloser als das Meer" und warten darauf von Christen zurückerobert und rechristianisiert zu werden, vgl. Kurse Nr. 613 St. Gregor von Nyssa, Nr. 552 William Shakespeare II, Nr. 621 Lord Byron, Ib.
[119] Ib.
[120] Ib.
[121] Ib.
[122] Ib.
[123] Ib.
[124] Ib.
[125] Ib.
[126] Ib.
[127] Ib. 
[128] III, 5 
[129] Ib.
[130] Ib.; zu: "Jagt hinaus die Türkenrotte" (Victor Hugo), wie die Griechen die Türken aus ihrem Land zum Teufel gejagt hatten, so hätten es sich die Armenier auch gewünscht, doch den Armeniern kamen (noch) keine europäischen Kriegsschiffe zu Hilfe wie den Griechen (Seeschlacht bei Navarino, bei der die türkische Flotte versenkt wurde); zu sehen waren immer nur Piratenschiffe, also Schiffe mit roter Halbmondflagge, vgl. Kurs Nr. 622 Victor Hugo, Ib.
[131] Ib.
[132] Ib.; zu: ein "Menge von neugierigem Gesindel habe sich wieder aus den muselmanischen Ortschaften zusammengerottet", vgl. Anm. 95, 114, 130
[133] Ib.
[134] Ib.
[135] Ib.
[136] Ib.
[137] Ib.
[138] Ib.; zu: Die Türken und die gesamte ottomanische Armee kämpfte nicht unter dem Kreuz, sondern unter dem Zwang eines Dämon, dem islamische Götzen Allah, quasi "ein Teufel von Gott": »Was für ein Teufel von Gott müsste das sein, der seinem frommen Armeniervolk dieses Jahr zubereitet hat ...«, vgl. Anm. 38 ff.
[139] III, 6.
[140] Ib.
[141] Ib.; wenn die Europäer die türkische Flotte bei Navarino versenken oder die Türken am Musa Dagh mit französischen Kreuzern bombadieren, reden die Türken vom "Bruch des Völkerrechts", dabei wissen die Türken weder was Völkerrecht ist, noch dass sie das Völkerrecht mit dem Völkermord an den Armeniern, der Vertreibung der anderen Christen aus der Türkei, der Angriffskriege z.B. gegen Zypern, ständig brechen: "Sofort aber begannen sich die langen, eleganten Geschützrohre in den Panzertürmen des »Guichen« zu drehn. Es vergingen kaum drei Atemzüge, und die ersten schweren Granaten fielen mit ungeheuren Schlägen auf die Häuserkuben von Suedja, El Eskel, Jedidje. ...Einige türkische Holzhäuser begannen schon zu brennen. .. Der sommersprossige Müdir aus Salonik, der als Untergebener bisher geschwiegen hatte, wurde nun auch von einem Koller gepackt. Durch die hohlen Hände schrie er, als wolle er sich trotz des brüllenden Feuers dem »Guichen« verständlich machen: »Das ist ein Bruch des Völkerrechts ... Offene Küste ... Einmischung in die innere Politik ...«, vgl. Anm. 130
[142] Ib.; zu: Nach kurzer Zeit aber erlahmte das türkische Feuer, "während die riesigen Schiffsgeschütze mit taktsicheren Donnerschlägen ihre Bomben gegen die muselmanischen Ortschaften sandten. In der Orontesebene schien das Weltgericht zu toben. Als Gabriel den Beobachterplatz erstiegen hatte, standen schon Suedja, El Eskel, Jedidje und selbst das entfernte Ain Jerab in Qualm und Flammen." Auf Pferden, Eseln, Ochsenkarren und in hellen Haufen flohen die "Muslim-Horden", vgl. Anm. 141 ff. 
[143] Ib.; zu: "Der große Kreuzer »Guichen« ankerte etwa eine halbe Seemeile weit vor der Küste. Den Offizieren und Matrosen bot sich ein erschütterndes Bild. Sie sahen Hunderte von nackten, skelettdürren Armen, die sich ihnen entgegenstreckten... Dies war die Stunde, in welcher der »Guichen«, durch das herausfordernde Artilleriefeuer auf dem Musa Dagh gereizt, hundertundzwanzig schwere Granaten in die muselmanische Ebene warf," vgl. Anm. 142 ff.
[144] Ib.
[145] Ib.; die "Türkenrotte" sollte zurückgedrängt, die Mittelmeerküste von Türken befreit werden, türkische Kriegsschiffe versenkt und Christen unterstützt werden: die "Vorhut eines englisch-französischen Geschwaders" , das die Aufgabe hat, "in nordwestlicher Richtung die anatolische Küste entlang zu streifen. Der »Guichen« sei gestern abend schon, drei Stunden vor der Hauptmacht, aus der Zypernbucht von Famagusta ausgelaufen. Der Höchstkommandierende der Flottille, der Konteradmiral, befinde sich auf dem Linien- und Flaggschiff »Jeanne d'Arc«. Man habe seine Entscheidung abzuwarten. Vor einer Stunde schon sei ein Funkspruch an die »Jeanne d'Arc« gesendet worden. Die Abgesandten aber möchten sich nicht ängstigen, denn es bestehe kein Zweifel darüber, dass ein französischer Admiral einen so tapferen Stamm des misshandelten armenischen Christenvolkes nicht einfach seinem Schicksal überlassen werde.", vgl. Anm. 141 ff.
[146] Ib.; zu: Der Konteradmiral des Linien- und Flaggschiff »Jeanne d'Arc« wollte nicht nur alle Armenier aufnehmen sondern auch die Stätte besichtigen, wo Christen 40 Tage lang "für die Religion des Kreuzes" gegen die "barbarische Übermacht" der Türken gekämpft hatten, vgl. Anm. 143 ff.
[147] Ib.; zu: Grußbotschaften, die die Türken verstehen: Man beschloss während eines Ausflugs "durch ein paar Granaten auf die Küstenortschaften die Türken in ehrerbietigem Abstand zu halten," vgl. Anm. 146 ff.
[148] Ib.
[149] Ib.; zu: Die große Tat, der Kampf gegen die barbarischen Türken, könnte als Vorbild für die heutigen Europäer dienen wie man für das heilige Kreuz kämpfen kann, um z.B. Nordzypern, die Mittelmeerküste und Konstantinopel den barbarischen Türken zu entreißen, diese große Tat "verdient, nicht vergessen zu werden. Sie war nur durch Gottes Hilfe möglich. Gott hat Ihnen geholfen, weil Sie nicht nur für sich selbst gekämpft haben, sondern für sein heiliges Kreuz. So haben Sie den höchsten Heroismus bewiesen, den es gibt, den christlichen Heroismus, der etwas Erhabeneres verteidigt als Haus und Herd," vgl. Anm. 138 ff. und Kurse Nr. 552 William Shakespeare II, Nr. 622 Victor Hugo, Nr. 621 Lord Byron, Ib.
[150] Ib.
[151] Science Review Letters 2021, 20, Nr. 1209 und FAZ 2021, Nr. 72; FAS 2021, Nr. 12; Hans-Lucas Kieser 2020: "Talat Pascha". Gründer der modernen Türkei und Architekt des Völkermords an den Armeniern. Zürich und Kurse Nr. 641 Staats- und Rechtslehre III, Nr. 644 Staats- und Rechtslehre IV, Nr. 552 William Shakespeare II, Nr. 554 Friedrich Hölderlin I-II, Ib.
[152] Ib.
[153] Ib.
[154] Ib.
[155] Ib.
[156] Ib. 
[157] Science Review Letters 2022, 21, Nr. 1318 und FAZ 2022, Nr. 85; FAS 2022, Nr. 14; vgl. Kurse Nr. 619 Franz Werfel, Nr. 614 Sittenlehre III, Ib.
[158] Ib. 
[159] Ib. 
[160] Ib. 
[161] Ib. 
 
 



Albrecht Duerer, Rosenkranzfest


El Greco, El Salvador
 
 


El Greco, Anbetung des Namens Jesu, genannt Der Traum von Philipp II., um 1575–1580, Öl und Tempera auf Holz, 55,1 × 33,8 cm, London, The National Gallery
Es könnte sich um eine Darstellung der 1571 gegründeten Heiligen Liga handeln. Die Vision des IHS erstrahlt über König Philipp II. in schwarzer spanischer Hoftracht. Der Höllenschlund öffnet sich, um einen Blick auf die leidenden Verdammten frei zu geben, zu denen natürlich auch die in Lepanto besiegten Osmanen bzw. Türken gehören
 
 


El Greco, Aufnahme Mariens in den Himmel, 1577-1579, Chicago
 


GiambattistaTiepolo, Ruhe auf der Flucht nach Ägypten
 


Giambattista Tiepolo, San Giacomo maggiore sottomette un moro, 1750, Budapest
Der Hl. Jakobus soll als Ritter in der Schlacht von Clavijo 844 das christliche Heer gegen die muslimischen Mauren zum Sieg geführt haben.
 


Fahne des christlichen Orients und der Türkei (Bandera Imperio Bizantino)


Wappen Byzantion (altgriechisch, latinisiert Byzantium, modern Byzanz, türkisch Bizans) war eine um 660 v. Chr. am südwestlichen Ausgang des Bosporus gegründete Koloniestadt dorischer Griechen aus Megara, Argos und Korinth. Byzantium wurde unter römischer Herrschaft zu einer Stadt in der römischen Provinz Thracia. Aufgrund seiner günstigen Lage an der europäischen Küste des Bosporus, auf der Ostspitze einer Halbinsel zwischen Marmarameer und Goldenem Horn, wurde Byzantion von 326 bis 330 von Kaiser Konstantin I. zur neuen Hauptstadt des Römischen Reiches ausgebaut und in der Folgezeit Konstantinopel genannt. Durch einen noch heute bei Türken üblichen Angriffskrieg wurde es von Moslems (Osmanen) erobert und Bizans bzw. später Istanbul genannt. Das byzantinische Wappen wurde von den Türken durch eine Halbmond Räuber- und Piratenflagge ersetzt. 
 
 


Franz Werfel, Bildnis von Conrad Felixmueller
 
 

Franz Werfel
Akademie der Kunst und Philosophie / Academy of Arts and Philosophy
DI. M. Thiele, President and international Coordinator
M. Thiele College of Beetherapy / Academy of Arts and Philosophy / Sciences

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Zur Philosophie und Kulturgeschichte von Byzanz, des Mittelalters, der Schule von Chartres, der Renaissance, des Barock, der Aufklärung, des Idealismus, der Romantik vgl. Kurse:Nr. 551 G.W.F. Hegel I, Nr. 660 G.W.F. Hegel II, Nr. 511 Johann Gottlieb Fichte I, Nr. 658 Johann Gottlieb Fichte II, Nr. 509 F.W.J. Schelling I, Nr. 510 F.W.J. Schelling II, Nr. 513 F.W.J. Schelling III, Nr. 505 Arthur Schopenhauer I-II, Nr. 663 Arthur Schopenhauer III, Nr. 531 Platon, Nr. 533 Aristoteles, Nr. 623 Johann Ludwig Wilhelm Müller, Nr. 020 Johann Wolfgang von Goethe I-II, Nr. 673 Johann Wolfgang von Goethe III, Nr. 553 Friedrich Schiller I-II, Nr. 675 Friedrich Schiller III, Nr. 554 Friedrich Hölderlin I-II, Nr. 512 Novalis I, Nr. 671 Novalis II, Nr. 677 Jean Paul, Nr. 667 Romantische Kunst und Philosophie I, Nr. 669 Romantische Kunst und Philosophie II, Nr. 630 Johann Ludwig Tieck, Nr. 631 Adelbert von Chamisso,Nr. 567 Gottfried Wilhelm Leibniz, Nr. 665 Molière, Nr. 622 Victor Hugo I, Nr. 674 Victor Hugo II, Nr. 629 Voltaire I-II, Nr. 679 Laurence Sterne, Nr. 621 Lord Byron I, Nr. 676 Lord Byron II, Nr. 628 Percy Bysshe Shelly, Nr. 561 Sir Walter Scott, Nr. 555 Angelus Silesius, Nr. 634 Hans Sachs, Nr. 619 Franz Werfel, Nr. 680 Nikos Kazantzakis, Nr. 588 Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Nr. 550 Fjodor M. Dostojewskij I-II, Nr. 506 Wladimir Sergejewitsch Solowjow, Nr. 664 Philosophie der Kunst, Nr. 661 Philosophie der Geschichte I, Nr. 686 Philosophie der Geschichte II, Nr. 687 Philosophie der Geschichte III, Nr. 687 Philosophie der Geschichte IV, Nr. 687 Philosophie der Geschichte V, Nr. 659 Wissenschaftslehre I, Nr. 666 Wissenschaftslehre II, Nr. 681 Wissenschaftslehre III, Nr. 682 Wissenschaftslehre IV, Nr. 683 Wissenschaftslehre V, Nr. 684 Wissenschaftslehre VI, Nr. 685 Wissenschaftslehre VII, Nr. 545 Sittenlehre I-II, Nr. 614 Sittenlehre III, Nr. 544 Staats- und Rechtslehre I-II, Nr. 641 Staats- und Rechtslehre III, Nr. 644 Staats- und Rechtslehre IV, Nr. 655 Staats- und Rechtslehre V, Nr. 618 St. Ephraim der Syrer, Nr. 617 St. Cyrill von Alexandrien, Nr. 616 St. Gregor von Nazianz, Nr. 613 St. Gregor von Nyssa, Nr. 612 St. Johannes Chrysostomos, Nr. 611 St. Johannes Cassianus, Nr. 627 St. Basilius der Große, Nr. 625 Theodorus Abucara, Nr. 624 Byzantinische Wissenschaft / Philosophie, Nr. 653 St. Cyprianus, Nr. 609 St. Athanasius der Große, Nr. 605 St. Irenaeus von Lyon, Nr. 604 St. Hildegard von Bingen, Nr. 600 St. Johannes von Damaskus,Nr. 599 St. Petrus Venerabilis, Nr. 581 Bernhard von Chartres, Nr. 580 Wilhelm von Conches, Nr. 578 Pierre Abaelard, Nr. 574 Johannes von Salisbury, Nr. 577 Petrus Lombardus, Nr. 576 Gilbert de la Porrée / Gilbert von Poitiers, Nr. 565 Johannes Scotus Eriugena, Nr. 575 Thierry de Chartres, Nr. 571 Alanus ab Insulis, Nr. 572 Anselm von Canterbury, Nr. 570 St. Hilarius von Poitiers, Nr. 568 Nicolaus Cusanus I, Nr. 568 Nicolaus Cusanus II, Nr. 568 Nicolaus Cusanus III, Nr. 564 St. Ambrosius, Nr. 564 St. Augustinus I, Nr. 601 St. Augustinus II, Nr. 654 St. Augustinus III, Nr. 579 St. Albertus Magnus, Nr. 500 St. Thomas von Aquin I, ScG, Nr. 501 St.Thomas von Aquin II,  Sth I., Nr. 502 St.Thomas von Aquin III, Sth. I-II, Nr. 582 St.Thomas von Aquin IV, Sth II-II, Nr. 583 St.Thomas von Aquin V, Sth. III, Nr. 566 Meister Eckhart, Nr. 562 Dante Alighieri I-II, Nr. 672 Dante Alighieri III, Nr. 558 Calderón de la Barca, Nr. 648 Calderón de la Barca II, Nr. 650 Calderón de la Barca III, Nr. 651 Calderón de la Barca IV, Nr. 563 Miguel de Cervantes I, Nr. 645 Miguel de Cervantes II, Nr. 637 Lope de Vega I, Nr. 638 Lope de Vega II, Nr. 642 Lope de Vega III, Nr. 643 Lope de Vega IV, Nr. 652 Juan Ruiz de Alarcón, Nr. 632 Ginés Pérez de Hita, Nr. 633 Luis Vaz de Camões, Nr. 678 François Rabelais, Nr. 557 Ludovico Ariosto I-II, Nr. 668 Ludovico Ariosto III, Nr. 556 Torquato Tasso, Nr. 552 William Shakespeare I-II, Nr. 559 Wolfram von Eschenbach, Nr. 560 Walter von der Vogelweide, Nr. 662 Gottfried von Strassburg, Akademie der Kunst und Philosophie / Académie des sciences

Nr. 320 Romanische Kunst und Architektur, Nr. 350 Byzantinische Kunst und Architektur, Nr. 325 Kunst und Architektur der Gothik, Nr. 326 Kunst und Architektur der Renaissance, Nr. 586 Tizian, Nr. 591 Paolo Veronese, Nr. 597 Correggio, Nr. 670 Annibale Carracci, Nr. 520 Rembrandt, Nr. 598 El Greco, Nr. 620 Giovanni Battista Tiepolo, Nr. 590 Giovanni Bellini, Nr. 656 Andrea Solari, Nr. 657 Bernadino Luini, Nr. 587 Andrea Mantegna, Nr. 595 Jan van Eyck, Nr. 635 Rogier van der Weyden, Nr. 640 Stefan Lochner, Nr. 646 Michael Pacher, Nr. 647 Peter Paul Rubens, Nr. 649 Giotto di Bondone, Nr. 626 Luca Signorelli, Nr. 610 Piero della Francesca, Nr. 596 Perugino, Nr. 522 Raffael (Raffaello Sanzio), Nr. 523 Sandro Botticelli, Nr. 602 Benozzo Gozzoli, Nr. 606 Fra Angelico, Nr. 607 Pinturicchio, Nr. 608 Domenico Ghirlandaio, Nr. 593 Filippo Lippi, Nr. 594 Filippino Lippi, Nr. 589 Albrecht Dürer, Nr. 603 Bernard van Orley, Nr. 615 Ambrogio da Fossano detto il Bergognone, Nr. 636 Eugène Delacroix, Nr. 639 Bartolomé Esteban Murillo, Akademie der Kunst und Philosophie



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Letzte Bearbeitung:11.04.2022